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Trau, schau wem. © Pexels

Lehren aus dem Fall des «Bild»-Chefredaktors

Rainer Stadler /  Wegen einer verheimlichten Liebschaft im Betrieb musste «Bild»-Chefredaktor Julian Reichelt gehen. Es geht um mehr als diesen Fall.

Jagdrevier geschlossen: Die Entlassung des Chefredaktors der «Bild»-Zeitung macht es augenfällig – Vorgesetzte auf der Suche nach Beziehungen und Liebesabenteuer können ihre Betriebe nicht mehr als quasi natürliche Jagdreviere nutzen. Was lang gang und gäbe war, ist nun ein Tabu. Das ist auch eine Folge der Me-Too-Bewegung, die den verbreiteten Missbrauch von Macht innerhalb von Betrieben offenlegte. 

Es geht nicht nur um zwei. Die Journalistin Bettina Gaus befürchtet in einem Meinungsbeitrag für den «Spiegel» eine Amerikanisierung hiesiger Gepflogenheiten. Sie schreibt: «Wenn einvernehmliche sexuelle Beziehungen pauschal als <Machtmissbrauch> eingestuft werden, dann entmündigt das diejenigen, die in der beruflichen Rangordnung unten stehen.» Gewiss, falls eine von einem Chef hofierte Person volljährig ist, darf man ihr die Einschätzung der Risiken einer Beziehung mit einem Vorgesetzten und eine eigenständige Entscheidung zutrauen. Eine Liebesbeziehung zwischen einem Chef und einer Person in dessen Befehlsbereich betrifft allerdings nicht nur die beiden Betroffenen, sondern den ganzen Betrieb. Der oder die Geliebte erhält innerhalb der Belegschaft eine Sonderstellung, die ihr in betrieblicher Hinsicht nicht zustände. Wenn es zu personellen Konflikten kommt, in welche die vom Chef verehrte Person involviert ist, gerät der Vorgesetzte in Loyalitätskonflikte. Solche Konstellationen überfordern schnell auch die Personalabteilungen. Machtmissbrauch ist dabei im Grundsatz kein geschlechtsspezifisches Phänomen.

Die Konsequenzen nicht gezogen: Die US-Amerikaner neigen zum Puritanismus. Mit Blick auf das aktuelle Thema haben sie allerdings Recht. Es gibt nur eine Lösung: Ein betriebliches Verbot von Beziehungen zwischen Chefs und Untergebenen. Diese Lehre ist in den hiesigen Medienbetrieben jedoch noch nicht richtig angekommen. Die Kommentare zum Fall des «Bild»-Chefs beliessen es bei der Beurteilung des Einzelfalls. Wie das Beispiel zeigt, erspart sich ein Betrieb etlichen Ärger und Schaden, wenn er die eigentlich selbstverständlichen Regeln der guten Unternehmensführung durchsetzt, bevor es zu einer Skandalberichterstattung kommt.

Verschwörungsphantasien. Die Entlassung von Julian Reichelt wirft auch ein Schlaglicht auf den Zustand der heutigen Kommunikation. Die Nachricht machte die Polarisierung und Politisierung der öffentlichen Foren manifest. In den Online-Kommentaren des Publikums meldete sich gleich jene Fraktion zu Wort, die medialen Informationen aus Prinzip kein Vertrauen mehr schenkt. Von einer politischen Intrige gegen den «Bild»-Chef war die Rede, von einem Blitzgericht der Moral. Man kritisierte, dass dem Geschassten kein faires Gerichtsverfahren gewährt wurde. Ein derartiges Argumenationsschema scheint sich inzwischen unabhängig von einer jeweiligen Faktenlage zu verstetigen. Diskussionen geraten so zur Farce. Denn es ging gar nicht um einen Gesetzesverstoss, sondern um den – allerdings späten – Entscheid eines privaten Betriebs, die Regeln der guten Unternehmensführung durchzusetzen. Reichelt hatte überdies seine Vorgesetzten belogen.

Es braucht Konkurrenz. Ventiliert wurde ferner die Vermutung, die «New York Times», die mit einem Artikel ihres Medienkolumnisten Ben Smith den Axel-Springer-Konzern aufscheuchte, habe mit der Publikation einen Konkurrenten schädigen wollen – Springer operiert mit der nun vollständig übernommenen Medienplattform «Politico» ebenfalls auf dem US-Markt. Dieser Aspekt ist jedoch nebensächlich, solange die von einer Publikation vorgebrachten Punkte relevant sind. Das sind sie in diesem Fall. Zudem geniesst und nutzt Ben Smith bei der «New York Times» eine journalistische Unabhängigkeit, wie sie ihm keine einzige grössere Redaktion in der Schweiz mehr gewähren würde. Es ist höchst peinlich, dass in Deutschland der Zeitungsverleger Dirk Ippen die Recherchen seiner Angestellten zum Fall Reichelt mit einem fadenscheinigen Argument nicht publizieren wollte. Ohne kritische Konkurrenz gerät die Medienbranche zum gefährlichen Filz.

Perfide Indiskretion. Der Schriftsteller Benjamin Stuckrad-Barre machte eine private Unterhaltung mit dem Chef des Axel-Springer-Verlags, Mathias Döpfner, publik. Dieser schrieb demnach, dass die meisten Journalisten Propaganda-Assistenten eines neuen DDR-Obrigkeitsstaats seien und dass Julian Reichelt der letzte und einzige Journalist sei, der dagegen aufbegehre. Die Verletzung der Vertraulichkeit eines Gesprächs ist höchst perfide. Stuckrad-Barre darf man nicht über den Weg trauen.

Ein Waterloo für den Springer-Chef. Mathias Döpfner erklärte, das Zitat sei aus dem Zusammenhang gerissen worden. Das mag sein. Aber die Worte sind nun einmal an die Öffentlichkeit gelangt und brachten den Springer-Chef in die Bredouille. Forderungen, er solle als Chef des Zeitungsverlegerverbands BDZV zurücktreten, wurden laut. Wen wundert’s. Döpfner entschuldigte sich. Der Schaden ist allerdings angerichtet. Das Zitat ist ein gefundenes Fressen für all die Fundamentalkritiker, welche der Presse und den herkömmlichen Medien jede Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit absprechen. Der Cheflobbyist der deutschen Zeitungsbranche hat ihnen faktisch Recht gegeben. Ein Waterloo für Döpfner. Und die Branche. Es braucht zweifellos private Sphären, wo man auch ungezwungener als im öffentlichen Raum reden kann. Aber man sollte wissen, wem man die Respektierung des Privaten zutrauen kann. Der Springer-Chef verhielt sich erstaunlich naiv.

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11 Meinungen

  • am 28.10.2021 um 11:00 Uhr
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    Hmmm …. interessante Feststellungen. Nur, was da bei der Hexenjagd auf Julian Reichelt allerdings auffällt ist, da kein Vergewaltigungs Vorwurf vorhanden, dass zum Sex immer (mindestens) zwei gehören.

    Während man den Mann hängt und hinrichtet, ist die unerwähnte Realität offenbar, dass sich erhebliche und wohl sogar große Teile der weiblichen Journaille schlicht und einfach die Karriereleiter raufsexen

    Also wenn so einer ohne zu vergewaltigen die halbe weibliche Führungsebene über die Couch ziehen kann, dann heißt das schlicht und einfach, dass die ihn mit Sex bestochen haben. Offenbar wird Sex des öfteren benutzt, um da mal schnell in den Betrieben hoch zu kommen.

    Und es heißt vor allem: Wir haben einen männlichen Sextäter, aber viele weibliche. Warum wird eigentlich nur er bestraft?

  • am 28.10.2021 um 11:04 Uhr
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    ‹Lehren aus dem Fall des «Bild»-Chefredaktors›
    Es gibt eine viel allgemeinere Lehre, welche alle Boulevardblätter einschliesst. Nicht deren Redaktoren, nicht deren Inhalte, deren blosse Existenz ist der kulturelle Offenbarungseid für das Milieu, welche so etwas Abscheuliches zulässt.
    Jeder Staat trägt Verantwortung für die mentale Reife seiner Bürger und muss deshalb Angriffe auf diese, wie es den Boulevard- einschliesslich der sozialen Medien zu eigen ist, im Keim verhindern. BILD, BLICK oder Facebook hätte es nie geben dürfen.

  • am 28.10.2021 um 11:54 Uhr
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    Ich glaube, dass die Glaubwürdigkeit der Presse schon versagt im fall auch bei nur nur wenigen machtbetroffenen Artikeln. Die Verwendung des Wortes „jede“ im obigen Artikel («gefundenes Fressen für all die Fundamentalkritiker, welche der Presse und den herkömmlichen Medien jede Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit absprechen») rückt kritische Denker meiner Meinung nach in ein falsches Licht. Für jeden veröffentlichten Artikel müssen wir prüfen, welche möglichen Interessen bei der Darstellung von Fakten und den damit verbundenen Ansichten eine Rolle spielen können. Infosperber geht in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voran, indem er mögliche Interessen von jedem Autor offenlegt.
    Es muss eine Ehre für die Medien sein, Machtstrukturen zu verstehen, was eine der wichtigsten Daseinsberechtigungen einer unabhängigen Presse ist.

  • am 28.10.2021 um 12:25 Uhr
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    Es geht doch gar nicht um diese Liebschafdt, sondern nur darum, ihn abzuschießen.
    Die Signale, die Frauen aussenden, gehören mit in die Debatte. Eine freundlich, kühle Person wird nicht angegangen.

  • am 28.10.2021 um 13:34 Uhr
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    Es erinnert mich an meinen ersten Ausbildungsplatz, wo ich ein 2 jähriges Praktikum als EDV-Operator absolvierte. Familiäre Verbindungen innerhalb der Abteilung sorgten für Macht am falschen Ort zur falschen Zeit und dessen Missbrauch. Mobbing war eines der Resultate, bis hin zur beruflichen Aufstiegsprostitution. Das war damals eine andere Zeit, ich dachte das gäbe es heute nicht mehr.

  • am 28.10.2021 um 16:09 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Stadler
    Ihr Einsatz für den ‹Missbrauch› von Frauen ist vorbildlich, dagegen ist nichts auszusetzen.
    Was hingegen interessant wäre, sind die Grundlagen Ihrer ‹Recherche›. Was wissen Sie denn über die Verfehlungen von Herrn Reichelt? Haben Sie Klagen von betroffenen Frauen erhalten, gelesen?
    Wissen Sie was in dieser Beziehung vorgefallen ist, oder schreiben Sie vom Hörensagen?
    Nicht weil mich Schmuddel- oder Bettgeschichten interessieren würden, aber – bitte liebe Frauen, nicht gleich kreischen – woher wissen Sie, dass es nicht attraktive, junge Volontärinnen waren, die ihrerseits Herrn Reichelt etwas offensiv beworben haben, um einen guten Job & vielleicht Karriere zu ergattern?
    Das wäre in heutigen Zeiten eine heisse Debatte, Thema für sich.
    Was mich stört, ist Ihre tendenziöse Art, jedwelche andere Interpretationen nach ebenfalls bekanntem Muster zu ‹framen›.
    Assange wurde aus dem Spiel genommen, mit Anschuldigungen, er hätte Frau oder Frauen vergewaltigt…..
    Inzwischen widerlegt, meines Wissens nach munkelt man von der CIA die da mitgewerkelt hat.
    Assange wird weiter zu Tode geschmort

    • PortraitRainerStadler
      am 28.10.2021 um 19:50 Uhr
      Permalink

      Ich beziehe mich auf die Aussagen des Arbeitgebers von Reichelt, Axel Springer. Im Übrigen haben andere Medien (etwa New York Times, Spiegel) ausführlich über die problematischen Vorfälle berichtet. Ich selber gehe auf keine Details ein, es geht mir – wie im Text zu lesen – um die grundsätzlichen Fragen.

  • am 29.10.2021 um 12:51 Uhr
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    Es kann Zufall sein oder auch nicht:
    Julian Reichelt hatte in letzter Zeit sehr gute, offene und wahrheitssuchende Interviews geführt betreffend der ganzen Corona-Sache. Jenseits vom Mainstream-Tenor.
    Ich beschuldige niemanden, aber Zufall? oder nicht?

    • am 2.11.2021 um 10:45 Uhr
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      Auch ich war erstaunt, dass die «Bild» plötzlich etwas Corona skeptisch schrieb und dachte, dass da ein Journalist plötzlich mal weg vom Fenster ist.
      Wie man seit dem Buch «Gekaufte Jornalisten» weiss, schreiben Journalisten oft nur das was ihnen gesagt wird.
      https://www.youtube.com/watch?v=LXuLlkZYe-4

      Viele Massenmedien erhalten bekanntlich Informationen von Nachrichten Agenturen.
      Brisant, dass JAMES C. SMITH «Chairman of the Thomson Reuters Foundation, a London-based charity supported by the global news and information provider» für den Pharmakonzern Pfizer arbeitet. Und wohl dafür sorgt, dass die Massenmedien nur positives über Pfizer und die Impfungen bringen und viel «Fear mongering» betreiben:

      https://www.pfizer.com/people/leadership/board-of-directors/james_smith

      Zudem ist Smith Mitglied beim WEF:
      «Smith ist Mitglied des International Business Council des World Economic Forum und der internationalen Beratungsgremien des British American Business Council und des Atlantic Council.] Er ist seit dem 26. Juni 2014 Direktor von Pfizer, Inc.und sitzt außerdem im Vorstand der Partnering Against Corruption Initiative des Weltwirtschaftsforums und der Brasilien-USA. Unternehmensrat.»

      • PortraitRainerStadler
        am 2.11.2021 um 11:03 Uhr
        Permalink

        Die Thomson Reuters Foundation ist eine unabhängige Organisation, welche nicht den Nachrichten-Output von Reuters kontrolliert. Ihre Behauptung einer Fernsteuerung der Corona-Berichterstattung ist nicht belegt und eine blosse Mutmassung. Dasselbe gilt für Ihre Behauptung zur Entlassung von Julian Reichelt bei «Bild».

  • am 29.10.2021 um 16:22 Uhr
    Permalink

    Alte Chefregel (vor der Me-Too-Debatte): Tritt niemals die Hühner im eigenen Stall!

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