Kommentar

kontertext: Die Medienschaffenden und ihr Publikum

Linda Stibler © Claude Giger

Linda Stibler /  Der Medienwandel hat auch den Journalismus stark verändert. Zur demokratischen Meinungsbildung bleibt er unverzichtbar.

«Ich» zu sagen war am Anfang meiner journalistischen Laufbahn verpönt – ja beinahe verboten. Betont wurde damit der Anspruch auf eine Objektivität, die es nie gegeben hat – weder damals noch heute. Denn wer etwas mitteilen will, hat auch eine Botschaft. Und sei es bloss die, einem Publikum Neuigkeiten zu erzählen oder Informationen zu vermitteln. Und dieses Publikum muss ein Interesse daran haben und vielleicht auch das Vertrauen besitzen, dass die Fakten der Realität entsprechen und der Inhalt nach bestem Wissen und Gewissen vermittelt wird. Manchen Medienkonsumenten genügt es allerdings, dass die eigene Weltsicht bestärkt und auch die eigenen Vorurteile bedient werden.

Wo die Medien hingegen den Leser oder die Zuhörerin befähigen, sich selber ihre  Meinung bilden zu können, da redet man zu Recht von der wichtigen Aufgabe, die Medien im Dienste der Demokratie haben. Unbestechlich und objektiv sollen sie sein, auch wenn durchaus Eigeninteressen im Spiel sind – die eigene Beliebtheit beim Publikum, der wirtschaftliche Erfolg, das Interesse von Menschen aus Politik und Wirtschaft, die auf Publizität erpicht sind, und nicht zuletzt der Werbewirtschaft, die gutes Geld für Inserate oder Werbesendungen bezahlt. All das ist konfliktträchtig und tangiert oft die Objektivität. Denn gerade in jener Zeit, als die ehemaligen Parteizeitungen ihre Unabhängigkeit von den Parteien mit der wachsenden Finanzierung durch Inserate behaupteten, wuchs im Gegenzug ihre Abhängigkeit vom Werbemarkt und führte zu unschönen Druckversuchen, die die neu gewonnene «Objektivität» wieder in Frage stellten. Aber davon redet man in der Medienbranche nicht gerne. Das war schon damals so, als es noch verboten war, «ich» zu sagen.

Was gilt als unabhängig und objektiv?

So flüchtete man sich gerne in ein zweifelhaftes «Wir» und keiner wusste genau, wer damit gemeint war. Die Zeitung, die einen politischen oder weltanschaulichen Standpunkt vertritt? Oder die Medienschaffenden allgemein? Oder einfach alle, die sich angesprochen fühlen?

Der Basler Journalist Hans U. Christen (-sten) überzeichnete dieses «Wir» in grotesker Weise in seinen humorvollen Marktberichten in der damaligen National-Zeitung und gab damit zugleich ein Statement ab über den doch sehr unvollkommenen Anspruch auf Objektivität.

«Wir» kann durchaus auch eine Vereinnahmung sein – das Drängen, dass alle zum gleichen Schluss kommen sollen. «Wir» kann anderseits ein Appell zu erhöhter Aufmerksamkeit sein, dass ein bestimmtes Thema alle angehen sollte und nicht nur jene, die ein besonderes Interesse daran haben. Vielleicht war das der Impuls für den «anwaltschaftlichen Journalismus», der seit den Siebzigerjahren in Fahrt kam. Medienschaffende ergriffen Partei für Menschen oder ganze Bevölkerungsgruppen, denen Unrecht geschah. Sie wollten das Publikum aufrütteln. Sie beriefen sich auf die Medienfreiheit und nahmen sich das Wort, selbst wenn sie in Konflikt mit ihrem Arbeit- oder Auftraggeber oder mit wirtschaftlich oder politisch Mächtigen gerieten – so etwa im schweizweiten Widerstand gegen Atomkraftwerke oder – in einem ganz andern Bereich – mit der späten Parteinahme für ehemalige Verdingkinder, was dann ebenfalls zu späten Einsichten und schliesslich zu symbolischer Entschuldigung führte.

Bis zur allgemeinen Empörung

Mit ihrer Parteinahme setzen sich Medienschaffende für ein hehres Ziel ein und hoffen auf Unterstützung durch ihr Publikum. Ja, vielleicht auf dessen mitmenschliche Empörung. Diese Empörung hat allerdings zwei Seiten. Sie kann dazu führen, dass sich tatsächlich etwas zum Besseren wendet, sie kann aber anderseits lediglich der Sensationslust dienen.

Es lohnt sich daher immer zu fragen, um was es bei derartigen Berichten geht: um ein alltägliches Konfliktthema, das im normalen zwischenmenschlichen Bereich liegt, oder um tatsächliches Unrecht, um Übergriffe, Ausgrenzung und Gewalt? Und wo liegen die Grenzen zum Voyeurismus?

Sensationslust war schon immer ein Bedürfnis des Publikums, längst bevor es die Boulevardmedien gab, die nach dem zweiten Weltkrieg ihren Siegeszug antraten. Sie verkürzen die aktuellen Nachrichten oft in fragwürdiger Weise und spitzen sie mit deftigen Schlagzeilen zu. «Sex and Crime»  gehören zu ihren bevorzugten Inhalten. Und natürlich besitzen diese Medien auch Unterhaltungswert; sie gehören zum Alltag und haben ihre besondere Funktion. Dort wo ihre Neuigkeiten aber zur gezielten Kampagne werden, ist höchste Vorsicht am Platz.

Erhöhter Zeitdruck durch neue Arbeitsbedingungen

Wie in andern Bereichen hat sich das journalistische Selbstverständnis im Verlaufe der Jahrzehnte gewaltig verändert. Einschneidend war vor allem der Wechsel zum Fotosatz und zur Computertechnik, der nicht nur  hochqualifizierte Arbeitsplätze und ganze Berufszweige im Druckereibereich verschwinden liess, sondern damit auch die journalistische Arbeit veränderte und unter anderem eine vermehrte Übernahme von technisch-gestalterischer Arbeit erzwang – nicht nur in den Printmedien, sondern etwas später auch im Radio und im Fernsehen. Damit verbunden ist ein erhöhter Zeitruck, der gleichzeitig ein reflektiertes Arbeiten erschwert und nicht selten die Qualität vermindert.

Die folgenschwerste Veränderung brachten jedoch die «sozialen Medien» im Internet und deren massenhafte Beliebtheit. Mit ihnen konnten plötzlich alle öffentlich das Wort ergreifen, wenn sie das wollten. Und zum ersten Mal erhielten die traditionellen Medien Konkurrenz. Denn Medienschaffende verfügten bis zu diesem Zeitpunkt über das beinahe umfassende Monopol, das öffentliche Wort zu erteilen – oder auch zu verweigern. Ihnen war überlassen, die Relevanz von Themen und Aussagen einzuschätzen, sie zu gewichten oder auch einfach zu ignorieren. Medienschaffende verfügten über Macht und in einem demokratischen Staat das unbestrittene Recht auf Kritik – auch gegenüber Staat und Politik. Deshalb wurden Medienschaffende auch immer wieder angefeindet oder hofiert von jenen, die sich Publizität erhofften.

Mit den Möglichkeiten der elektronischen Medien, Nachrichten und Meinungen massenhaft und quasi öffentlich zu verbreiten, änderte sich die Ausgangslage radikal: Praktisch jedermann (und jedefrau) können sich jetzt unter Nutzung der sozialen Medien an ein beliebig breites Publikum wenden – falls die nötige Zeit oder das nötige Geld zur Verfügung steht (die für die Erheischung der Aufmerksamkeit notwendig sind). Und natürlich braucht es zu deren Vervielfältigung die genaue Bewirtschaftung der Publikumszahlen – Klicks, die zur Währung für Werbung und Reklame wurden. Wer bereits – in welchem Zusammenhang immer – einen bekannten Namen hat, ist im Vorteil. Ungeahnt grösser wurden diese Möglichkeiten jedoch für politisch Mächtige, falls sie dieses Spiel beherrschten, wie etwa Ex-Präsident Donald Trump und seine Publicity-Berater. Dabei verstärkten viele Medien – oft ungewollt – dieses schamlose Spiel, weil sie selbst der Faszination von sozialen Medien erlagen.

Emanzipation ist das Ziel

Was aber ist die zentrale Aufgabe der Medienschaffenden, wenn sie ihrer Rolle als «vierter Gewalt» in einer Demokratie gerecht werden sollen? Es geht in erster Linie um Wahrhaftigkeit. Dabei gilt es, sich nach allen Seiten hin kundig zu machen, die Ereignisse einzuordnen, den Beteiligten zuzuhören, sie zu Wort kommen zu lassen. Es geht weder um das «ich» noch um das «wir» und nicht primär um die eigene Meinung, sondern um die lebendige Vermittlung von Wissen und Standpunkten anderer, die erst ein vielfältiges Bild vermitteln, um den Zuhörerinnen oder Zuschauern und den Lesern eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen. Doch die Medienkonsumenten müssen selber denken und urteilen, davon können sie die Medienschaffenden nicht dispensieren.

Mit diesem persönlichen Beitrag verabschiedet sich Linda Stibler von kontertext.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder. Die Redaktion betreuen wechselnd Mitglieder der Gruppe.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

5 Meinungen

  • am 10.12.2021 um 12:06 Uhr
    Permalink

    Liebe Linda. Erlaube mir bitte das ebenso unprofessionelle wie persönliche Du und den kurzen Dank zum Abschied. Du hast zu jenen gehört, die mir vor über vier Jahrzehnten beigebracht haben, was Journalismus sein kann. Du, Toya und ein paar andere. Ihr, die Baslerinnen, wir die Solothurner. An beiden Orten wurde engagierter Journalismus unter immer schwierigen Bedingungen geleistet. Bis es – Du hast es bei diesem letzten Auftritt auf der Infosperber-Bühne eindrücklich beschrieben – nicht mehr gegangen ist. Tempi passati. Aber ich möchte keine Recherche du Temps perdu machen, wenn ich an die kurze gemeinsame Zeit journalistischer Kollegialität erinnere. Was ich hingegen bedaure, ist der Verlust eines Journalismus – verbunden mit dem Ausscheiden der ihn praktizierenden Journalistinnen und Journalisten – der von Haltung geprägt war. Nicht von Ideologie, aber von Standfestigkeit in wichtigen Dingen, die man heutzutage nur noch mit einem radikalen Humanismus verbinden kann. Du hast dies in deiner Analyse über die radikalen Veränderungen im Journalismus der letzten 40Jahre nicht erwähnt; ich vermute, es sei so gewollt. Denn die Frauen und Männer, die das Banner einer kritischen Hoffnung auf bessere Umstände beschrieben haben, gibt es nicht mehr. Sie haben sich – gegangen oder gestossen – in die Pension geflüchtet. Oder sie haben sich in eine Art Schutzgebiet wie dem Infosperber zurückgezogen, um trotz allem weiter zu machen. Dafür: Danke Linda. http://www.freystefan.ch

  • am 10.12.2021 um 13:14 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrte Frau Stibler

    Danke Ihnen sehr herzlich für diese Zusammenfassung der notwendigen Grundwerte eines jeden Journalisten! Da ich selber «nahe den (Print-)Medien wohne», konnte ich Ihren Ausführungen sehr gut folgen. Umso mehr, als mein Sohn zurzeit ein Volontariat bei der Presse macht. Ich werde ihm Ihre Gedanken mailen. Schade, dass Ihre pointierte, überlegte Stimme offenbar nicht mehr zu lesen sein wird!

    Auf Ihr Wohl, gute Gesundheit in der Weihnachtszeit
    D Rapold

  • am 10.12.2021 um 18:44 Uhr
    Permalink

    Wenn ich so die meistgelesene Zeitung der Schweiz, 20-Minuten anschaue, dann stellt sich mir schon die Frage, was das was da geschrieben steht noch mit so etwas wie einer „vierten Gewalt“ zu tun haben soll. Was uns in dieser Postille an Panikmache und Hüst-Hot-Verwirrung zu Covid präsentiert worden ist, hat mit verantwortungsvoller Information sicher nichts zu tun, sondern war allenfalls Futter für Stammtischgeschwätz. Auch das seitenfüllende Blabla über Stars und Sternchen und ihren Marotten scheint mir kaum ein Beitrag zur emanzipativen Aufklärung der Bevölkerung zu sein.

  • am 11.12.2021 um 00:24 Uhr
    Permalink

    Besten Dank für diesen Beitrag, Frau Stibler. Teile Ihre Meinung und hoffe auch darauf, dass insbesondere die regionalen Medien ihren Auftrag als «vierte Gewalt» wieder besser wahrnehmen.
    Aber es sind auch interessante Zeiten, in denen es mittlerweile so viele PublizistInnen gibt wie Internetanschlüsse…Die durch den technologischen Wandel ermöglichte Demokratisierung der Medien ist grundsätzlich erfreulich, hat jedoch zu einem qualitativen Zerfall der traditionellen Medien geführt. Und das ist schlecht, es führt zu einer Orientierungslosigkeit. Eine Vielfalt qualitativer Medien wäre mir lieber, als das aktuelle clickbasierte «Jekami». Schade, hat man das Gebührenmodell der «Billag» nicht auf die Printmedien ausgeweitet.

  • am 11.12.2021 um 00:29 Uhr
    Permalink

    Auch als «fern dem Journalismus» kann ich feststellen, dass gerade hier eine «grand old lady» noch mal -zum Abschied- winkte. So textend dass wohl jeder Mensch mit Verstand ihre Integrität und Brillanz spürt. Wir alle haben solch honorigen Menschen sehr viel zu verdanken! – Und es ist zutiefst bedauerlich, dass zu viele solch starke Menschen zwar den Zeigfinger in denMedien heben können und dürfen — aber nicht mit zur Crew im cockpit der Regierungs-Machinen zählen !

    Nun zum «gelobten infosperber», dessen Vorschriften uns, den kommentieren Lesern gegenüber «obig» fordert: Meinungen müssen sich auf den Inhalt des Artikels beziehen und dürfen niemanden beleidigen oder herabsetzen.

    Was mich – als fehlend – stört, ist dass keinerlei Wahrheitspflich gefordert wird.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...