Viele jüngere «Krebsopfer» sind wohl eher Diagnose-Opfer
Es gehört schon fast zum Allgemeinwissen: «Krebs unter Jüngeren nimmt zu.» Die «NZZ», der «Blick», «Focus», «Medinside» und der «Tages-Anzeiger» berichteten bereits davon. «Schuld ist der westliche Lebensstil», stand im «Blick». «Vor allem die 40- bis 49-Jährigen sind von der Zunahme der Krebserkrankungen betroffen», schrieb die «NZZ» und forderte: Daher muss früher als bisher mit den Vorsorgeuntersuchungen begonnen werden.»
Doch nun kommt von profilierter Seite Widerspruch. Der US-Arzt und Wissenschaftler Gilbert Welch hat sich die Zahlen nämlich genauer angesehen. Mehr Vorsorgeuntersuchungen wären demnach in den vielen Fällen grundfalsch. Sie würden nur noch mehr Menschen unnötig ins Elend stürzen, ist Welch überzeugt.
Diagnose-Epidemie
Dass da eine Krebs-Epidemie bei jüngeren Menschen anrolle, sei wohl eher eine Erzählung, schreiben er und seine Kollegen in «Jama Internal Medicine». Eine Erzählung, von der auch diejenigen profitieren, die Forschungsgelder bekommen, um nach den biologischen Ursachen dieses eher vermeintlichen Anstiegs bei den Krebserkrankungen zu suchen. Allein in Grossbritannien seien umgerechnet 25 Millionen Dollar für solche Forschung zur Verfügung gestellt worden.
Viel eher handle es sich aber um eine Diagnose-Epidemie – sogenannte «Überdiagnosen» von Tumoren, die bei den Betroffenen weder zu nennenswerten Beschwerden noch zum Tod geführt hätten – nur zu unnötigen Ängsten und Behandlungen. «Das sollte jeden beunruhigen», finden Welch und seine Kollegen.
Solche unnötigen Krebsdiagnosen würden Menschen, die sich «perfekt gesund» fühlen, für den Rest ihres Lebens in Patienten verwandeln – ein tiefgreifender Einschnitt, der auch mit Kosten verbunden ist. Hinzu kommt: «Die körperlichen Belastungen einer Krebstherapie sind bei jungen Erwachsenen besonders hoch und können zu Unfruchtbarkeit, langfristigen Organschäden und sekundären Krebserkrankungen führen.»
Acht Krebserkrankungen untersucht
Welch und seine Kollegen griffen jene acht Krebserkrankungen heraus, die bei den unter-50-Jährigen in den USA in den letzten 30 Jahren am stärksten zunahmen. Beim Krebs an der Schilddrüse, an den Nieren, am Darm, an der Bauchspeicheldrüse, an der Gebärmutter, am After und im Knochenmark (sogenannte Myelome) gab es jährlich im Durchschnitt über ein Prozent mehr Neuerkrankungen in dieser Altersgruppe.
Entsprechend stieg die Zahl der neu als krebskrank Diagnostizierten seit den 1990er Jahren steil an und verdoppelte sich etwa. Doch es sterben heute kaum mehr an diesen Tumoren als damals. Die Erklärung für dieses enorme Auseinanderklaffen seien Überdiagnosen. Es würden mehr Tumore erkannt – sehr häufig solche, die klinisch nicht bedeutsam seien. Die Betroffenen hätten nie etwas davon gemerkt.

In der Tat führen immer mehr Ultraschall-, MRI- und andere bildgebende Untersuchungen dazu, dass dabei zufällig auch «etwas Auffälliges» entdeckt wird. Darin sehen Welch und seine Kollegen den Hauptgrund für die Krebs-Überdiagnosen. Bereits 2011 machte Welch in einem Buch auf das grosse Problem der Überdiagnosen in der Medizin aufmerksam.
Er prüfte auch andere denkbare Erklärungen für den Anstieg der Krebserkrankungen bei Menschen unter 50 Jahren:
- Bessere Behandlung: Sie könnte bewirken, dass weniger Personen an den Tumoren starben, obwohl mehr daran erkrankten.
Doch diese Erklärung sei unplausibel, schreiben die Wissenschaftler. Denn wenn dies so wäre, hätten die Fortschritte bei den Therapien exakt Schritt halten müssen mit der Zunahme der Neuerkrankungen und diese «aufwiegen». - Frühere Erkennung von Tumoren, die sonst erst in höherem Lebensalter entdeckt worden wären und dank der Frühbehandlung erfolgreich geheilt werden können.
Wenn dies der Hauptgrund für die Zunahme bei Jüngeren wäre, müssten die Neuerkrankungen bei den älteren Menschen aber entsprechend abnehmen. Ein solcher kompensatorischer Abfall bei den Älteren sei jedoch nicht erkennbar, legt Welchs Team dar.
Bei manchen Krebsarten ist der Anstieg real
Manche Tumorzellen bleiben normalerweise unentdeckt, weil sie weder Symptome verursachen noch wachsen oder metastasieren – ausser sie werden beim Screening gefunden, erläutern zwei Ärzte in einem Editorial zu Welchs Studie. Ziel des Krebs-Screenings sollte aber nicht sein, Krebszellen zu entdecken, sondern das Leiden und die Sterblichkeit an Krebs zu reduzieren. Je nach Krebsart sei die Anzahl der Überdiagnosen unterschiedlich.
Zu diesem Schluss kommen auch Welch und seine Kollegen. Sie besahen sich jede der acht Tumorlokalisationen im Einzelnen. Vier Beispiele:
- Darmkrebs: Die Neuerkrankungen nahmen seit 2004 jährlich um etwa 2 Prozent zu, die Sterblichkeit stieg pro Jahr um rund 0,5 Prozent. Beides deutet darauf hin, dass es tatsächlich einen Anstieg von Tumoren gab, die «klinisch bedeutsam» waren, dass aber auch solche entdeckt wurden, die keine Probleme bereitet hätten.
- Gebärmutterkrebs: Es stiegen sowohl die Neuerkrankungen als auch die Sterblichkeit jedes Jahr um circa 2 Prozent. Hier handle es sich um eine echte Zunahme von Krebserkrankungen bei unter 50-jährigen Frauen. Diese sei wahrscheinlich mit der Zunahme des Risikofaktors Übergewicht erklärbar, vermutet Welch.
- Schilddrüsenkrebs: Die Zahl der Neuerkrankungen schoss in die Höhe. Über 200’000 Menschen unter 50 Jahren erhielten seit 1992 in den USA diese Diagnose. Die Sterblichkeit an diesem Krebs veränderte sich dagegen nicht – ein typisches Muster bei Überdiagnosen, so Welch und seine Kollegen.
- Nierenkrebs: Auch bei diesem Krebs nahm die Zahl der Diagnosen bei den unter 50-Jährigen rasch zu. Doch die Sterblichkeit sank sogar. Das widerspiegle einerseits Fortschritte bei der Behandlung, insbesondere bei Tumoren, die bereits metastasiert hätten. Andererseits seien vor allem Tumore im frühen Stadium neu diagnostiziert worden, was für viele Überdiagnosen spreche, so Welch.
«Die Herausforderung: Nur die wirklich bedeutsamen Tumore erkennen und behandeln»
«Politiker, Forscher und Medien müssen aufpassen, dass sie die Zunahme der Neuerkrankungen nicht überinterpretieren», warnt Welch. «Ärzte erkennen möglicherweise einfach mehr Fälle, die schon immer vorhanden waren.» Die vermeintlichen Erfolgsmeldungen «fördern die Überzeugung, dass junge, gesunde Menschen von wenig sinnvollen Vorsorgeuntersuchungen wie Ganzkörper-Bildgebung und Tests zur Früherkennung mehrerer Krebsarten profitieren könnten». Konzerne drängen mit solchen Untersuchungen mehr und mehr auf den Markt. In den USA dürfen sie dieses Geschäftsmodell aktiv bewerben.
Welch fasst zusammen: «Die Herausforderung besteht darin, die Diagnose so zu verfeinern, dass nur die wirklich bedeutsamen Tumore erkannt und behandelt werden. Der Anstieg der Fälle von früh auftretendem Krebs ist zwar teilweise real, aber klein und er beschränkt sich auf wenige Krebsarten. Die Erzählung von einer Epidemie übertreibt das Problem nicht nur, sondern sie kann es auch verschlimmern. Mehr Tests werden oft als Lösung für eine Epidemie angesehen, aber sie können genauso gut deren Ursache sein.»

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