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Wer Sozialhilfe bezieht, weist einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand auf als die restliche Bevölkerung, zeigt eine Studie. © Ante Samarzija/Unsplash

Wer Sozialhilfe bekommt, ist öfter krank

Daniela Gschweng /  Sozialhilfebeziehenden geht es gesundheitlich schlechter als der Restbevölkerung. Sie gehen öfter zum Arzt, sind aber unterversorgt

Wer Sozialhilfe bezieht, ist deutlich weniger gesund als die Allgemeinbevölkerung. Sozialhilfebeziehende haben doppelt so oft chronische Krankheiten wie Personen mit mittleren und hohen Haushaltseinkommen, vier- bis fünfmal häufiger Schlafstörungen, viermal so oft Rückenschmerzen, kämpfen fünfmal häufiger mit psychischen Krankheiten und nehmen mehr Medikamente.

Dabei geht es ihnen nicht nur schlechter als den meisten anderen, sie fühlen sich auch so. 19 Prozent sind nach eigenen Angaben bei «schlechter» bis «sehr schlechter» Gesundheit – gegenüber einem Prozent der Restbevölkerung. Das zeigt eine Studie der Berner Fachhochschule (BFH) und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), die im August veröffentlicht wurde.

So oft beim Arzt wie ein IV-Empfänger

Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wurde darin der Gesundheitszustand von Sozialhilfebeziehenden in der ganzen Schweiz untersucht. Die Studie gibt klare Hinweise darauf, dass Menschen in der Sozialhilfe gesundheitlich unterversorgt sind. Vor allem Schmerzpatienten und Menschen mit psychischen Erkrankungen sind unter den Sozialhilfebeziehenden häufiger, knapp die Hälfte leidet unter chronischen Krankheiten. Etwa ein Fünftel ist im Alltag eingeschränkt, was den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt erschwert.  

Gesundheit-Vergleichsgruppen-BAG-Studie
Sozialhilfebeziehende sind wesentlich häufiger krank als Menschen mit mittlerem und hohem Einkommen und Personen in prekären finanziellen Verhältnissen. Sie haben häufiger chronische Krankheiten und sind öfter im Alltag eingeschränkt.

Kränker sind nur noch IV-Beziehende, fanden die Forschenden, die über eine halbe Million Datenpunkte aus den Jahren 2007 bis 2018 ausgewertet haben. Für die Studie verknüpften sie Daten aus der Sozialhilfeempfänger-Statistik, AHV-Daten, Daten aus dem IV-Rentenregister und der Schweizerischen Gesundheitsbefragung.

Dabei ist es nicht so, dass Menschen in der Sozialhilfe nur selten zum Arzt gehen. Sozialhilfebeziehende besuchen doppelt so häufig Allgemeinärzte und viermal so häufig Spezialisten als die Restbevölkerung, landen doppelt so häufig im Notfall und liegen doppelt so häufig im Spital. Wer Sozialhilfe bekommt, benötigt damit ebenso viel ärztlichen Beistand wie ein IV-Patient.

Sozialhilfebeziehende leben ungesünder – am Alkohol liegt es aber nicht

Dafür «spart» der Sozialhilfebeziehende an anderer Stelle. Sozialhilfebeziehende gehen aus finanziellen Gründen weniger zum Zahnarzt und nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil. Auch andere nötige Untersuchungen lassen sie öfter ausfallen.

Die Studie fand, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen, ungesünder leben als die Vergleichsbevölkerung. Sie essen weniger Obst und Gemüse, bewegen sich weniger oder haben andere riskante Lebensgewohnheiten wie Rauchen oder Drogenkonsum, mit Ausnahme der Alleinerziehenden. Entgegen allen Klischees ist ihr Alkoholkonsum aber nicht höher als in anderen Bevölkerungsschichten. 

Macht Krankheit arm oder Armut krank?

Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, aber keine Sozialhilfe beziehen, sind mit ihrem Leben zufriedener, es geht ihnen auch gesundheitlich besser. Daraus könnte man schliessen, dass das Dasein in der Sozialhilfe die Beziehenden kränker macht. Der Gesundheitszustand von Sozialhilfebeziehenden verschlechtert sich im Schnitt jedoch schon drei Jahre, bevor sie Sozialhilfe bekommen. Woran das liegt, konnten die Forschenden nicht hinreichend klären. Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass Krankheit ihre Erwerbsfähigkeit zunehmend einschränkt. Eine anderer, dass Ereignisse, die in die Sozialhilfe führen, wie zum Beispiel Scheidungen, auch die Gesundheit beeinflussen, ein dritter, dass Einschränkungen und Stigma krank machen.

Ältere Sozialhilfebezüger sind im Schnitt kränker

Insgesamt am gesündesten sind jüngere Menschen im Sozialhilfebezug (16-25 Jahre), mit zunehmendem Alter nehmen die gesundheitlichen Einschränkungen zu. Nicht-Schweizer und Eltern in der Sozialhilfe sind gesünder – was nach den Autoren vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass ersteres den Zugang zum Arbeitsmarkt einschränkt und Kinder bekanntlich eines der wichtigsten Armutsrisiken sind, gesundheitliche Einschränkungen also weniger eine Rolle spielen.

Bezügern in ländlichen Gebieten geht es nur wenig schlechter als denen in Städten, auch regional gibt es wenig Unterschiede. Nicht ausgewertet haben BFH und ZHAW den Einfluss der letzten IV-Revisionen, der nach Angabe des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) allein 2017 zur Folge hatte, dass mindestens 5400 Personen, die die IV-Bedingungen nicht mehr erfüllten, in die Sozialhilfe eintraten.

Fazit: Auf diejenigen achten, die noch keine Sozialhilfe beziehen

Verbessern liesse sich die Lage durch frühzeitiges Eingreifen, regen die Autoren an. Vor allem gelte es, psychische Krankheiten zu bekämpfen, bevor diese zu Erwerbs- und Mittellosigkeit führen. Besonders davon profitieren würden Armutsbetroffene, die noch nicht beim Sozialamt vorstellig wurden. Behandlung verbessert die Chancen auf eine Wiederintegration in den Arbeitsmarkt, zeigt die Auswertung. Verhaltensprävention in den Bereichen Ernährung und Bewegung könnte die gesundheitliche Situation Armutsbetroffener ebenfalls positiv verändern.

…und wie?

Wie solche Massnahmen aussehen könnten, ist nicht Gegenstand der Studie. Auffallen könnten existenzbedrohende Gesundheitsprobleme am ehesten den Arbeitgebern oder Arbeitsämtern, die für medizinische Fragen jedoch nicht zuständig sind. Behandelnde Ärzte wiederrum können an der finanziellen Situation ihrer Patienten nichts ändern. Die Sozialämter sehen ihre Klientel normalerweise erst, wenn schon eine Notlage besteht.

Ganz einfach ist es auch dann nicht. Das Personal in den Sozialämtern sei in Gesundheitsfragen bisher nur wenig geschult, fanden die Autoren der Studie. Antragstellende nach ihrer Gesundheit zu fragen, könne auch rechtlich heikel sein, berichtet eine Fachperson, die von der Autorin dieses Artikels befragt wurde. Wie auf den Ämtern mit Gesundheitsproblemen umgegangen werde, sei höchst unterschiedlich, sagt diese. Wissensstand und Vorgehen, wenn Krankheit nicht direkt zu einem Mehrbedarf führe, wichen voneinander ab. In grösseren städtischen Sozialämtern werde eher ein Augenmerk auf Gesundheit gelegt, generalisieren lasse sich das aber nicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

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Menschenrechte

Genügend zu essen. Gut schlafen. Gesundheit. Grundschule. Keine Diskriminierung. Bewegungsfreiheit. Bürgerrechte

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Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

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7 Meinungen

  • am 22.09.2021 um 11:47 Uhr
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    Der Volksmund hat ja den – theoretisch – richtigen Spruch: «Lieber arm und gesund als reich und krank» der erlebten Wirklichkeit angepasst: «Lieber reich und gesund als arm und krank!»

  • am 22.09.2021 um 13:30 Uhr
    Permalink

    Eine alte Weisheit sagt: wenn jede/jeder zu einer/einem schauen würde, wäre für alle gesorgt!! Meine Frau hat sich jahrzehntelang freiwillig und ohne Entgelt für sozial Schwächere eingesetzt. Es war in jedem Fall so, dass wir plötzlich gefragt haben; wann die Betreuten das letzte Mal beim Arzt waren. Plötzlich brauchen sie weniger medizinische Betreuung. Bei staatlichen Sozialhelfern ist es häufig eine Frage der Verantwortlichkeit. Niemand will Verantwortung übernehmen für ein physisches oder psychisches Problem der Betreuten. Also schickt man sie zum Arzt oder Psychiater. Solche Zusammenhänge sollten eigentlich zu einer Gesinnungsänderung in unserer Gesellschaft führen, nämlich dass nicht jedes soziale Problem an den Staat delegiert werden sollte. Wann fangen die interessierten Leser mit der Betreuung einer bekannten Person an? Es ist zwar nicht immer einfach, erfordert Engagement, aber ist unglaublich befriedigend und dankbar.

    • am 22.09.2021 um 16:14 Uhr
      Permalink

      Lieber Herr Kammermann, die alte Weisheit gilt leider im Zeitalter des Neoliberalismus nicht mehr. Heute gilt die Dummheit: «Wenn jeder für sich selber sorgt, dann ist für alle gesorgt.» (Soll doch der Säugling, der Querschnittsgelähmte, der Demente, der Kranke, der Alte u. Gebrechliche usw. für sich selber sorgen – bin ich denn der Hüter meines Bruders?)

  • am 22.09.2021 um 15:57 Uhr
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    Die Gängelei auf den Ämtern hängt mir zum Halse raus.
    Die trifft man nicht nur auf dem Sozialamt, die findet sich mittlerweile überall. Probier mal ein Haus zu bauen, da kannst was erleben. Oder gründe mal eine Firma, und schon werfen sie mit nicht geschuldeten Gebühren um sich. Von der AHV, über Lebensmittelinspektor, über Kosten für Zollabfertigung bis zum Betreibungsamt (das für einen Zahlungsbefehl der 60.- kosten soll stolze 150.- an Kostenvorschuss verlangt). Das geht bei uns ständig so. Die Perfektionisten überall in den Ämter, jeweils mit absoluter Macht ausgestattet (SchKG 80/81), machen in Wahrheit nur die Hohle Hand auf; immer nur ein klein wenig jenseits vom Gesetz.
    Da erscheint es dem kleinen Mann zweckmässiger das bisschen mehr (auf dem Sozialamt: etwas weniger) zu schlucken und sich zu fügen, denn wer sich wehrt kann ewig prozessieren (und kommt so nicht mehr vom Fleck). Die Streitereien notabene, die werden von Richter verhandelt die in Parteikassen einzahlen. Wen werden die wohl schützen? Die kleine Frau vielleicht?
    Die Moral von der Geschichte: Es ist alles korrupt bei uns. Mit Korruption ist nicht die klassische Beschleunigungs-Gebühr gemeint, sondern die dysfunktionale Verwaltung. All den Beamten die so gerne der kleinen Frau und dem kleinen Mann auf den Keks gehen, denen sei folgendes empfohlen:
    Kratzt euer Geld mal auf dem Trottoir zusammen. Und die Andern hören gefälligst mit ihren Saumoden auf.

    Ob es vielleicht deshalb so vielen Leuten schlecht geht?

  • am 22.09.2021 um 16:38 Uhr
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    ‹Wer Sozialhilfe bekommt, ist öfter krank›
    Umgekehrt, wer häufig krank ist und/ oder gesundheitliche Probleme hat, landet eher in der Sozialhilfe. Ganz prominent die zu Unrecht abgewiesenen IV- Anträge von Patienten, die dennoch lang- oder lebenszeitlich arbeitsunfähig bleiben.

  • am 22.09.2021 um 17:30 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen Bericht, Frau Gschweng. Wer einmal Sozialhilfe bezogen hat weiss, warum man häufiger krank wird: Es ist eine Frage der Resilienz, denn der Zustand verursacht einen enormen finanziellen und sozialen Stress, der das Immunsystem schwächt. Der erstere führt dazu, dass man billig einkauft, vor allem Brot und Teigwaren, die das Gewicht erhöhen, was weiteren Stress erzeugt. Der soziale Stress („ich bin nicht gut genug, ich bin wertlos“) wird durch den Mangel an Ressourcen vergrössert, da man sich nicht mehr traut, sich in die Gesellschaft anderer bei einem Kaffee zu treffen. Die darauffolgende Depression greift das Immunsystem noch stärker an.

    Die Grundeinkommen-Initiative von 2016 hätte die Lösung dieses Problems gebracht. Das haben die Initianten leider nicht deutlich genug hervorgehoben, und viele WählerInnen waren zu egoistisch, um den Sinn zu erfassen („Warum sollen wir Schmarotzer unterstützen?“) Die Initiative wird in diesen Tagen erneut gestartet; vielleicht wird die Erfahrung aus der Covid-Krise der Mehrheit diesmal zeigen, dass Arbeitslosigkeit jeden treffen kann und wir füreinander Sorge tragen müssen, wenn wir eine stabile Gesellschaft erhalten wollen.

  • am 22.09.2021 um 17:57 Uhr
    Permalink

    Willkommen im neoliberalen Paradies CH!
    In diesem unserem Land können alle Millionäre werden und sich jede erdenkliche Pflege und Versorgung leisten. Blöderweise wird aber nicht jeder Millionär, selbst wenn er ein Leben lang sich buchstäblich frühzeitig ins Grab schuftet oder Lotto spielt. Für diese Loser gibt es die Sozialhilfe. Und wer sich je einmal näher mit den Bedingungen der Sozialhilfe näher auseinandergesetzt hat oder sogar persönlich davon betroffen war, weiss eines: nirgends ist der Mensch in einem Land der totalen Illusion des Reichtums für alle so allein, so ausgestossen, so abgeschrieben wie in der neoliberalen Schweiz. Und die Zahl der Armen nimmt in einem reziproken Verhältnis zur Zahl der reichen, vorwiegend Erben, zu. Mehr dazu auf freystefan.ch oder im Roman Jackpot.

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