Kommentar

Moderner Kolonialismus: Pflegekräfte aus der halben Welt

Bernd Hontschik © ute schendel

Bernd Hontschik /  Die WHO schlägt längst Alarm. Wegen des Abwerbens fehlt es in Dutzenden Ländern an Gesundheits- und Pflegepersonal.

Juli 2019:
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hofft bei seiner Reise in den Kosovo auf bis zu 1000 Pflegekräfte pro Jahr für Deutschland. 

August 2019:
Die parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, Sabine Weiss, prüft auf den Philippinen, wie Pflegekräfte mit Sprachkursen und erleichterten Anerkennungen ihrer Testate auf die Pflegetätigkeit in Deutschland vorbereitet werden können. 

September 2019:
In Mexiko lädt Minister Spahn 15 Pflegeausbilder zu einer Seminarreise nach Deutschland ein. Sie sollen nach ihrer Rückkehr in Mexico für die Arbeit in Deutschland werben.

Juli 2020: Eine Zeitung berichtet: «Erste Pflegefachkräfte aus Namibia in Deutschland gelandet.»

September 2021:
Anders Consulting teilt mit: «Im Rahmen unserer Dienstleistungen im Bereich Pflegekräfte vermitteln wir jetzt auch Fachkräfte aus Kenia.»

Mai 2022:
Pflegekräfte in Jordanien hoffen auf einen Job in Bremerhaven.

Februar 2023:
Entwicklungsministerin Svenja Schulze und Arbeitsminister Hubertus Heil wollen Pflegekräfte in Ghana anwerben: «Wir müssen alle Register im In- und Ausland ziehen, um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen.»

Juni 2023:
Deutsche Charmeoffensive für Pflegekräfte. Arbeitsminister Heil und Aussenministerin Baerbock sind für eine Werbetour nach Brasilien geflogen. Sie besuchen Pflege-Studenten einer katholischen Universität in Brasilien.

Dezember 2023:
Die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit arbeitet mit Ländern in Asien zusammen, derzeit mit den Philippinen, Indonesien, Indien und Vietnam.

Januar 2024:
Sachsens Sozialministerin Köpping wirbt in Brasilien für die Arbeit als Pflegekraft in Sachsen. 

Februar 2024:
Entwicklungsministerin Schulze ist in Nigeria, um die Fachkräfteeinwanderung aus dem Land zu fördern. 

April 2024:
Die Ärztezeitung titelt: «Ruanda und Rheinland-Pfalz kooperieren bei Pflege.» Ministerpräsidentin Malu Dreyer reist durch das Land, Ziel ist die «Fachkräftegewinnung». 

April 2024:
In Albanien lernen junge Menschen Krankenpflege auf Deutsch. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen sie ihre Heimat. 


Den Exodus deutscher Pflegekräfte stoppen

Der langen Liste hinzugefügt werden könnten noch Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Tunesien. Alle diese Länder verlieren ihre jungen Leute, die teilweise schon fertig ausgebildet, aber oft arbeitslos sind (was hier oft als Rechtfertigung dient) und jedenfalls in Deutschland viel mehr verdienen. Hierzulande werden so die Beschäftigungslöcher gestopft. 

Die WHO schlägt längst Alarm und listet inzwischen schon 57 Länder auf, in denen ein grosser Mangel an Gesundheits- und Pflegepersonal besteht. Es verbiete sich, dort auf Werbetour zu gehen. 

Es ist nicht nur ein imperialistisches Gehabe, sondern geradezu absurd, einerseits dem hiesigen und anhaltenden zehntausendfachen Exodus der Pflegekräfte zuzuschauen und andererseits gleichzeitig neue Kräfte aus immer weiter entfernten Ländern hierher zu locken. 

Man müsste stattdessen alles tun, um die ausreichend vorhandenen, aber aus dem Beruf geflüchteten Fachkräfte zurückzuholen, mit ordentlicher Bezahlung, verträglicher Work-Life-Balance, mit Karrierechancen und angemessener ehrlicher Wertschätzung. 


Von Deutschland ab in die Schweiz

upg. Für den Mangel an ÄrztInnen und Pflegepersonal in Deutschland ist auch die Schweiz verantwortlich.

Fast 10’000 deutsche Pflegekräfte in Schweizer Spitälern

Unter den 72’000 Pflegekräften in Schweizer Spitälern (Vollzeitäquivalente) hat über ein Drittel eine ausländische Nationalität. Fast 10’000 haben die deutsche Nationalität.

In Alters- und Pflegeheimen sind rund 100’000 Pflegende beschäftigt (Vollzeitäquivalente) und bei Spitex-Diensten rund 28’000 Pflegende (Vollzeitäquivalente). Über ein Drittel hat eine ausländische Nationalität.

Etwa 8000 deutsche Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz

Fast 20 Prozent aller ÄrztInnen in der Schweiz stammen aus Deutschland. Der gesamte Anteil ausländischer ÄrztInnen in der Schweiz beträgt rund 40 Prozent. In absoluten Zahlen waren es im Jahr 2023 laut Ärztestatistik der FMH 15’590 ÄrztInnen, die aus dem Ausland stammten, etwa 8000 davon aus Deutschland.


Dies ist eine gekürzte Fassung der Kolumne von Bernd Hontschik, die am 12. Mai in der «Frankfurter Rundschau» erschien.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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2 Meinungen

  • am 24.05.2024 um 13:21 Uhr
    Permalink

    «Man müsste stattdessen alles tun ….. «, schreibt der Autor und er hat Recht. Realität ist jedoch, dass es nicht getan wird. Die deutsche Regierung investiert lieber in Aufrüstung und Kriegstreiberei denn in Gesundheitswesen, Bildung und Altenwesen.
    Seit jeher gehen Menschen dorthin, wo sie mehr verdienen, wenn sie es können. Für eine philippinische dipl. Krankenpflegerin beispielsweise, die für die 4 Jahre Studium bereits grosse Geldbeträge zahlen musste (hohe Studiengebühren, Nebenkosten) zahlt sich nur eine Berufstätigkeit im Ausland aus. Die meisten gehen in die USA, seit langem. Diejenigen die bleiben, arbeiten oft 60 Stunden und mehr pro Woche bei einem Lohn von 400 bis 500 Franken, das reicht nicht dort.

  • am 24.05.2024 um 19:14 Uhr
    Permalink

    Und paradoxerweise fühlen sich jene Kreise, welche dieses Abwerben von Fachkräften aus Entwicklungsländern befürworten, noch besonders weltoffen, ausländerfreundlich und allgemein moralisch überlegen.

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