BKW_Kernkraftwerk_Mühleberg

Das seit Ende 2019 stillgelegte Kernkraftwerk Mühleberg © cc-by-sa-4 Joachim Kohler, Wikimedia Commons

AKW-Unfall in der Schweiz würde vor allem Deutschand treffen

Daniela Gschweng /  Ein schwerer Reaktorunfall in Beznau oder Leibstadt hätte gravierende Folgen für Deutschland – und sogar darüber hinaus.

Ereignete sich in den Schweizer Atomkraftwerken Beznau, Gösgen oder Leibstadt ein grösserer Unfall, wäre Deutschland stark betroffen. Grosse Gebiete müssten schnell evakuiert werden, es könnte zu zehntausenden Todesfällen kommen. Teile von Deutschland würden möglicherweise unbewohnbar.

Das legt eine Studie des Trinationalen Atomschutzverbands (Tras) detailliert dar. Am 26. Juni wurde sie im Landtag Stuttgart vorgestellt. Die Organisation von Atomkraftgegnern aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz vergleicht darin Szenarien der Schweizer Nuklearsicherheitsbehörde Ensi mit fünf weiteren Studien.

Ensi schätzt Folgen am geringsten ein

Bei einem schweren Reaktorunfall gelangen radioaktive Stoffe in die Luft und oft auch ins Wasser. Die radioaktiven Teilchen verbreiten sich mit dem Wind und lagern sich je nach Wetter schneller oder langsamer ab. Sie belasten so Böden, Oberflächen, Nahrungsmittel oder auch Trinkwasserquellen. Besonders gefährdet sind dabei Kinder, etwa durch radioaktives Jod.

Der Tras-Vergleich berücksichtigt bei seinem Vergleich die Verteilung der Leitnuklide Jod-131 und Cäsium-137. Zwei der einbezogenen Studien entstanden dabei im Auftrag der Tras, eine im Auftrag der Organisation Sortir du Nucléaire Suisse Romande, eine im Auftrag des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz. Die fünfte stammt von der Universität für Bodenkultur Wien.

Die Ensi-Szenarien basieren auf einem Modellreaktor, der in etwa dem Atomkraftwerk Gösgen entspricht. Bei einem angenommenen Unfall wird nach einem Bruch der Hauptkühlleitung bis zu 48 Stunden lang radioaktives Material freigesetzt, beginnend mehrere Stunden nach dem Ereignis. Die anderen fünf Studien berücksichtigen unterschiedliche Kernkraftwerke in der Schweiz und verschiedene Wetterlagen. Die vom Ensi angefertigten Szenarien schätzen die Auswirkungen eines schweren radioaktiven Unfalls dabei am geringsten sein.

Woher der Wind weht, entscheidet vieles

Im Ernstfall zählt vor allem, woher der Wind weht und wo es regnet. Wer die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verfolgt hat, weiss, welche Rolle das Wetter spielt. Der radioaktive Fallout aus Tschernobyl belastet noch heute Wildtiere in Bayern, im Wallis und im Tessin. Besonders dort, wo Gewitter niedergingen (Infosperber berichtete).

Abhängig von der Wetterlange sind viele Szenarien denkbar. Einige Szenarien für mehrere europäische Atomkraftwerke, kann man mit dem Tool flexRISK selbst nachvollziehen. Beispielsweise für das inzwischen stillgelegte KKW Mühleberg. Die Berechnung basiert auf 88 Wetterlagen aus dem Jahr 1995.

Deutschland trüge bei einem Unfall die Hauptlast

Wegen der Lage der Schweizer Atomkraftwerke nahe der Grenze und der vorherrschenden Westwinde wäre bei einem Unfall meist Deutschland am stärksten betroffen – insbesondere Baden-Württemberg und Süddeutschland.

Beim Kernkraftwerk Leibstadt, das direkt am Rhein an der deutschen Grenze liegt, ist das besonders nachvollziehbar. Doch auch die Kraftwerke Beznau und Gösgen würden im Katastrophenfall eine radioaktive Wolke erzeugen, die sich hauptsächlich über Deutschland verteilen würde. Grosse Teile Süddeutschlands müssten evakuiert werden, zehn- bis hunderttausende Personen einschliesslich der Spitäler, Gefängnisse, Behörden. 

Betroffen wäre unter Umständen nicht nur das badische Freiburg, sondern auch Städte wie Karlsruhe, Stuttgart, Heidelberg, Ulm, Nürnberg oder München. Die radioaktive Belastung könnte sogar Dänemark, Tschechien oder Österreich erreichen. Auch eine gleichzeitige Evakuierung mehrerer Grossstädte oder des gesamten Oberrheingrabens wäre in einigen Szenarien nötig. Darüber, ob eine solche Evakuierung auch durchführbar wäre, gibt die Studie keine Einschätzung ab.

Grenzregion schützt auch günstiger Wind nicht


Selbst wenn der Wind aus nordöstlicher Richtung weht – also in Richtung Schweiz oder Frankreich – könnte die Strahlendosis in der Grenzregion so hoch sein, dass Orte wie Waldshut-Tiengen, Freiburg oder Basel evakuiert werden müssten. In grossen Teilen Deutschlands müssten viele Menschen tagelang in den Häusern bleiben.

Die gesundheitlichen Folgen wären gravierend: zahlreiche Erkrankungen, Krebsfälle und bleibende Strahlenschäden. Laut der Studie wären bei durchschnittlichen Wetterbedingungen allein in Deutschland zehntausende Todesopfer und viele schwere Erkrankungen möglich.

Radioaktive Verschmutzung bis Dänemark möglich

Ein Unfall in Beznau könnte gemäss Modellrechnungen zu einer Cäsium-137-Belastung bis nach Dänemark führen – mit hohen Strahlenwerten entlang des Rheins oder in Richtung München und Österreich. Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren.

Bodenkonta Cs verschiedene Wetterlagen
FlexRISK-Simulationen der Bodenkontamination mit radioaktivem Cäsium-137 nach einem Unfall in Beznau 1 in Abhängigkeit von der Wetterlage drei Wochen nach Freisetzungsbeginn.

Auch wie viel Land unbewohnbar würde, haben die Studien abgeschätzt. Das Ensi rechnet beim AKW Leibstadt mit Umsiedlungen im Umkreis von 2 Kilometern. Das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz hält dagegen eine Umsiedlung im Umkreis bis zu 50 Kilometern für möglich – bei neueren japanischen Grenzwerten sogar noch weiter. Städte wie Stuttgart, München oder sogar Hamburg und Berlin könnten betroffen sein.

Nach Berechnungen des Westschweizer Instituts Biosphère würden bei einem schweren Unfall in einem Schweizer Kernkraftwerk über 7000 Quadratkilometer Fläche in Europa langfristig unbewohnbar – mehr als doppelt so viel wie nach Tschernobyl. Im Durchschnitt müssten 250’000 Menschen (Beznau), 430’000 (Gösgen) oder mehr als 500’000 (Leibstadt) umgesiedelt werden. Wie viele davon aus Deutschland stammen würden, wurde in der Studie von 2019 nicht separat berechnet.

Abhängig von der Wetterlage könne es bei einem grösseren Unfall in der Schweiz zwischen gar keinen und einer Viertelmillion Todesfällen und bis zu einer halben Million Krankheitsfällen in Deutschland kommen. Grob geschätzt entfielen im Mittel 17 Prozent (Unfall im KKW Gösgen) bis 45 Prozent (Leibstadt) der europaweiten Strahlendosis auf Deutschland.

Simulierte Belastung mit radioaktivem Jod während 7 Tagen nach einem Unfall im KKW Leibstadt, abhängig von der Wetterlage. Kinder in den pinken und roten Gebieten müssten Jodtabletten einnehmen, um sich vor Schäden zu schützen.

Die ältesten Reaktoren der Welt

«Das von den Schweizer Atomkraftwerken für Deutschland ausgehende Risiko wird systematisch und dramatisch unterschätzt», sagt Tras-Vizepräsident Stefan Auchter. Deutschland sei auf einen solchen Ernstfall nicht vorbereitet. Wie in wenigen Stunden hunderttausende Menschen evakuiert und mit Jodtabletten versorgt werden sollten, sei völlig unklar. Auch neuere Gefahren wie Drohnenangriffe seien in den gängigen Katastrophenszenarien bisher nicht berücksichtigt, resümiert die Studie.

Die Schweizer Kernkraftwerke sind die ältesten der Welt und entsprechend risikobehaftet. Der Tras spricht von «Uralt-AKW». Was nicht ganz falsch ist: Der älteste Schweizer Reaktor Beznau 1 ist schon seit 56 Jahren in Betrieb. Der jüngste, Leibstadt, läuft seit 1984 und hat ebenfalls mehr als seine ursprünglich festgelegte Betriebsdauer von 40 Jahren auf dem Buckel.

Atomausstieg dürfe nicht zu Leichtsinn führen

Der Tras fordert, dass deutsche Behörden auf Bundesebene und in Baden-Württemberg mehr Druck auf die Schweiz ausüben. Der Atomausstieg in der Schweiz sei zwar beschlossen, doch bedeute das bislang nur, dass keine neuen AKW gebaut würden. Die alten Reaktoren laufen weiter – teils mit Plänen für eine Laufzeitverlängerung. Dazu gebe es Bestrebungen, den Ausstieg rückgängig zu machen.

Deutschland müsse sich ausserdem deutlich besser vorbereiten – etwa bei der Verteilung von Jodtabletten und durch detaillierte Evakuierungs- und Notfallpläne. Der deutsche Atomausstieg dürfe nicht dazu führen, die Gefahr durch ausländische AKW zu unterschätzen.

Weiterführende Informationen


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