Ärzte ausbilden hilft nicht gegen Ärztemangel

upg /  «Zu wenig» Ärzte gibt es bei uns nur, weil viele Ärzte zu viel behandeln. Der Staat belohnt Überbehandlungen mit höheren Einkommen.

Weil Ärzte und Gesundheitspolitiker so häufig von «Ärztemangel» reden, glauben viele, dass es in der Schweiz tatsächlich an Ärzten mangelt. Dass es einen «Ärztemangel» gibt, steht auch für die NZZ fest: Spitäler müssten Ärzte aus Deutschland rekrutieren, und Psychiater aus Griechenland seien «keine Ausnahme mehr». Dieser «Ärztemangel» sei «hausgemacht», schrieb NZZ-Redaktor Reto Scherrer. Der Grund: «Die Schweiz bildet zu wenig Ärzte aus».
Der angebliche Ärztemangel ist tatsächlich hausgemacht
In einem Punkt hat die NZZ recht: Der «Ärztemangel» ist hausgemacht. Allerdings nicht, weil wir zu wenig Ärzte ausbilden, sondern weil die Schweiz allen niedergelassenen Ärzten erlaubt, sich mit immer mehr Diagnose-Abklärungen, Untersuchungen und Behandlungen ein hohes Einkommen zu sichern.
Und die viel zu vielen Spitäler sind finanziell daran interessiert, mit unnötigen Operationen und Behandlungen ihre Betriebe und Abteilungen auszulasten, um eine Schliessung zu verhindern.

Das tönt für viele unglaubwürdig oder übertrieben. Doch folgende Fakten sind nicht zu übersehen:

Wir sind neben Deutschland praktisch das einzige Land, in dem Praxisärzte an jeder einzelnen Handlung, die sie vornehmen, Geld verdienen können. In der Schweiz können Praxisärzte, aber auch Spitalärzte mit Privat- und Halbprivatversicherten, ihre Einkommen erhöhen, indem sie mehr behandeln als nötig. Weil sie ihre Diagnosen, Untersuchungen und Behandlungen, ja sogar die Zahl vieler Operationen fast beliebig ausweiten können, wird es bei uns nie zu viele Ärzte geben, sondern stets offene Stellen für Ärzte. Jeder neue Spezialarzt kann sich genügend Arbeit beschaffen, selbst wenn er sich dort niederlässt, wo es schon zu viele Ärzte seines Fachgebiets gibt.
Die falschen finanziellen Anreize – Vergütung jeder einzelnen Leistung und Zahlungszwang der Kassen – sind längst bekannt, aber tabu. Keine Politiker, auch solche der Linken nicht, wagen dieses Thema aufzugreifen.
Diagnostiziert, behandelt und operiert wird auch innerhalb der Schweiz dort besonders häufig und nutzlos, wo es besonders viele Spezialärzte gibt.
Professor André Busato vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern spricht von «medizinisch nicht begründbaren Leistungen». Sie lassen sich innerhalb der Schweiz mit Recherchen aufgrund von Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen. Hier nur wenige Beispiele, auf die Infosperber bereits hingewiesen hat, ohne dass Ärzte oder Spitäler versucht haben, solche krassen Behandlungsunterschiede medizinisch zu erklären:

  • Die vielen Herzspezialisten im Kanton Waadt veranlassen pro Einwohner fast doppelt so viele Untersuchungen mit einem Herzkatheter wie Ärzte im Kanton St. Gallen. Ein Nutzen ist nicht belegt. Die Risiken tragen die Patientinnen und Patienten.
  • Die grosse Dichte von Hals-, Nasen- und Ohrenärzten in Basel hat zur Folge, dass fast doppelt so viele Erwachsene in Basel die Mandeln operiert haben als im Kanton Graubünden. Die Risiken tragen die Patienten.
  • Bevor im Tessin ein kardiologisches Zentrum eröffnet wurde, brauchten die Tessiner weniger Herzbehandlungen als der Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung. Heute landen herzkranke Tessiner doppelt so häufig auf dem Behandlungstisch als die Deutschschweizer. Ein Nutzen ist nicht nachgewiesen. Die Risiken tragen die Patientinnen und Patienten.

Schlechte Ärzte verdienen an einem Patienten mehr
Weil Krankenkassen gezwungen sind, jede Einzelleistung sämtlicher Ärzte, die in einer Praxis arbeiten, zu zahlen («Vertragszwang»), gibt es in der Schweiz eine rekordhohe Dichte an Ärzten, ohne dass der Gesundheitszustand der Schweizer besser wäre als derjenige der Schweden, Norweger oder Holländer.
In der Schweiz können Ärzte Patienten wiederholt falsch und unnötig behandeln und erst noch daran verdienen. Ein Arzt, der seine Patienten nicht gesund bekommt, erhöht mit den zusätzlich nötigen Behandlungen sogar sein Einkommen. Ein erfolgreicher Arzt dagegen, der nur das Sinnvolle macht und keinen unnötigen Schaden anrichtet, wird finanziell bestraft!
Diese falschen finanziellen Anreize gilt es umzukehren: In Zukunft sind Ärzte und Spitäler, wenigstens für die gängigsten Behandlungen, mit diagnoseabhängigen Pauschalen zu entschädigen (nicht zu verwechseln mit den neulich eingeführten DRG-Pauschalen in Spitälern, die erst aufgrund der Behandlungen nach den Behandlungen festgesetzt werden, und nicht aufgrund der Eingangsdiagnosen). Oder dann entschädigt man auch Praxisärzte gleich wie Spitalärzte mit fixen Löhnen, wie dies von Schweden über Holland bis Kanada üblich ist.
Der «Ärztemangel» in Zahlen

  • Laut Statistik der OECD gibt es in der Schweiz 24 Prozent mehr berufstätige Ärzte pro Einwohner als im Durchschnitt der Industrieländer. Es gibt bei uns – immer laut OECD – 7 Prozent mehr Ärzte pro Einwohner als in Schweden, 10 Prozent mehr als in Deutschland, 20 Prozent mehr als in Dänemark oder sogar 60 Prozent mehr als in den USA.
  • Noch im Jahr 1980 versorgte in der Schweiz ein Arzt 406 Einwohner. 1990 versorgte ein Arzt noch 337 Einwohner und 2011 nur noch 258 Einwohner.
  • In fast keinem andern Land gibt es, im Verhältnis zur Bevölkerung, so viele Akutbetten in Spitälern wie in der Schweiz.
  • In Kantonen und Gegenden, welche pro Einwohner am wenigsten Ärzte haben, sind die Schweizer nicht etwa kränker und sie sterben auch nicht früher. Eher das Gegenteil ist der Fall. Das zeigen Auswertungen von FMH- und BfS-Statistiken.

Das Überangebot hat Folgen: Schweizerinnen und Schweizer müssen viel häufiger ins Spital, werden häufiger operiert, verbringen mehr Tage in Akutbetten und schlucken mehr Medikamente als Menschen in Ländern mit vergleichbarem Wohlstand wie Holland, Schweden oder Norwegen. Doch Schweizer aus vergleichbaren sozialen Schichten sind weder gesünder, noch fühlen sie sich gesünder, noch leben sie länger als Holländer, Schweden oder Norweger. Der «Ärztemangel» in der Schweiz hat für Patientinnen und Patienten offensichtlich keine ernst zu nehmende Nachteile.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Unnütze Abklärungen und Operationen

Behandeln ohne Nutzen ist verbreitet. Manchen Patienten bleiben Nebenwirkungen oder bleibende Schäden.

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2 Meinungen

  • Portrait_Jrg_Schiffer
    am 8.08.2013 um 12:09 Uhr
    Permalink

    Franchise als falscher Anreiz im «Gesundheitskonsum"

    Bei unserem Franchisesystem, wenn nach Aufbrauchen der Franchise die medizinischen Dienstleistungen à 10% der effektiven Kosten zu Ausverkaufsschleuderpreisen erhältlich sind, wollen viele von diesem Schnäppchenangebot profitieren. Der Arzt wird bei diesem System zum Billigen Jakob, ganz zu seinem Vorteil. Am tabuisierten Franchisesystem zu rütteln, ist praktisch unmöglich – es bleibt einzig die Alternative der Faust im Sack sowie der jährlich garantierte Frust über steigende Gesundheitskosten.
    Warum führen wir dieses Franchise-Patentsystem nicht beim öffentlichen Verkehr ein? Alle von jung bis alt bezahlen monatlich ihren öffentlichen Verkehrsbeitrag. Die ersten Billette bis zur Franchise werden zum vollen Betrag gekauft, der Rest zu 10% des Tarifs? Der öffentliche Verkehr würde rasant zunehmen?
    Oder sollten wir besser im Gesundheitswesen bis zu einem bestimmten Betrag ein Halbtaxabo einführen, damit Patienten zu einem selbstverantwortlicheren und kostenbewussteren Konsum von medizinischen Leistungen angehalten werden?
    Dieser Vorschlag ist nicht neu und wurde schon vor Jahren Gesundheitsinstitutionen vorgelegt – eine Reaktion blieb aus.

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 8.08.2013 um 12:29 Uhr
    Permalink

    @Jürg Schiffer
    Praktisch alle Ökonomen sind sich einig, dass im Gesundheitswesen im Wesentlichen das Angebot die Nachfrage bestimmt. Kein Patient lässt sich ohne Empfehlung eines Arztes mit eine Katheter untersuchen oder am Herzen operieren. Das Beispiel Tessin zeigt überdeutlich, dass dort das neue Herzzentrum zu einem gewaltigen Anstieg der Herzeingriffe geführt hat – und nicht Patienten, welche Chirurgen auf den Knien darum baten.
    Es mag sein, dass Patienten, welche die Franchise verbraucht haben, den Arzt um relativ unbedeutende Kleinigkeiten bitten. Falls diese medizinisch nicht nötig sind, wird der Arzt vor allem dann nachgeben, wenn er selber noch etwas daran verdienen kann.
    Mit Ihrer Attacke gegen das Franchise-System setzen Sie als Gesundheitssoziologe schon deshalb einen falschen Fokus, weil Patientinnen und Patienten für medizinische Leistungen in keinem Land so viel aus der eigenen Tasche zahlen wie in der Schweiz. In vielen Ländern gibt es also ungleich mehr «Schnäppchen» und doch «konsumieren» die Leute dort weniger Behandlungen, Operationen und Medikamente. Der Hauptgrund liegt, wie im Artikel oben beschrieben, bei den falschen Anreizen für Ärzte, Apotheker und Spitäler in der Schweiz.

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