Sperberauge

Drei Wochen nach Infosperber warnen auch Tamedia-Zeitungen

Sperber © Bénédicte Sambo

Red. /  «Billigmedikament birgt Gefahren für gebärende Frauen», titelte der Tages-Anzeiger. «Als zerrisse es mir den Unterleib», der Bund.

upg. Über «lebenslange Gehirnschäden wegen Wehenmittel» informierte Infosperber am 18. Juni. Das Medikament Cytotec sei in der Geburtshilfe nicht zugelassen, werde aber trotzdem eingesetzt. Eine Vereinigung von über hundert Frauen mit dem Namen Cytotec Stories will herausfinden, ob das Medikament Cytotec Komplikationen bei der Geburt und teilweise massive, im schlimmsten Fall sogar letale Schädigungen bei Neugeborenen verursacht hat. Und ob ihre erlittenen Schäden juristisch einklagbar sind.

Cytotec Infosperber
Infosperber informierte am 18.6.2021

Frauen, die das Medikament verabreicht bekamen, berichten von verheerenden, traumatisierenden Folgen: von Kindern, die einen Sauerstoffmangel erlitten und mit irreparablen Hirnschädigungen zur Welt kamen – so geschehen bei der Initiantin der Vereinigung Cytotec Stories; ihr Sohn, inzwischen neunjährig, ist geistig beeinträchtigt, wohl lebenslang auf Hilfe angewiesen.
Und es scheint kein Einzelfall zu sein, wie die Aktenlage beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn (BfArM) zeigt. 

Deutlich formulierte Risikowarnungen

In einem sogenannten Rote-Hand-Brief warnt das BfArM seit März 2020 vor der Gabe des Medikaments mit dem Wirkstoff Misoprostol in der Geburtshilfe und erklärt: «Für die Anwendung von Cytotec bei der Geburtseinleitung liegen keine ausreichenden Daten zur Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vor.» Infosperber wies am 18. Juni darauf hin, dass grosse Schweizer Medien über entsprechende Recherchen des «Report München» vom 18. Mai bisher nicht informiert hatten.

210709 Bund Titelseite
Titel-Schlagzeile im Berner «Der Bund»

Gestern Freitag nun, am 9. Juli, informierten auch die Tamedia-Zeitungen «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» darüber, und zwar auf der Frontseite. «Es gibt keinen zwingenden Grund, dieses Medikament zu gebrauchen», erklärt Professor Daniel Surbek, Chefarzt für Geburtshilfe am Berner Inselspitel, gegenüber dem «Bund». Es gebe andere Medikamente, die jedoch deutlich teurer seien.

Nur eine Frage der Dosierung?

Der Wiener Arzt Christian Fiala, der seit dreissig Jahren Cytotec mit dem Wirkstoff Misoprostol für Geburtseinleitungen verwendet und zu diesem Arzneimittel sogar eine Doktorarbeit geschrieben hatte, wirft Ärzten vor allem vor, Cytotec falsch dosiert anzuwenden:

Die Aussage «Cytotec ist in der Geburtshilfe nicht zugelassen, wird aber eingesetzt» ist richtig. Die Erklärung ist aber einfach: Misoprostol ist das ideale Prostaglandin für die Geburtshilfe. Es ist allerdings so billig und hat keinen Patentschutz mehr, dass keine Firma eine Zulassung beantragen wird. Das wäre einfach zu teuer. In der Geburtshilfe (und der Kinderheilkunde) gibt es viele Medikamente ohne Zulassung, weil es fast unmöglich ist, die für eine Zulassung notwendigen Studien durchzuführen. Zu diesem Aspekt habe ich mit einem Kollegen eine Publikation veröffentlicht.
Cytotec ist zu billig. Deshalb wird es vom Markt genommen und durch teurere Medikamente ersetzt, die den gleichen Wirkstoff enthalten. So gibt es z.B. Topogyne oder MisoOne, welches 20-mal teurer ist. Und für die Geburtseinleitung das Misoprostol Präparat Angusta.

Misoprostol hat zahlreiche wichtige Indikationen in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Deshalb wurde es von der WHO auch in die Liste der wichtigsten Medikamente für verschiedene Situationen aufgenommen. Konsequenterweise habe ich dieses wichtige Präparat in den letzten 30 Jahren auch nicht nur zur Geburtseinleitung eingesetzt, sondern in verschiedenen Situationen. Und ja, es kann damit auch Probleme geben, aber nur wenn man es zu hoch dosiert. Das ist aber kein Argument für eine Gefährlichkeit des Medikamentes, sondern zeigt lediglich, wie wichtig eine korrekte Anwendung ist.

Unabhängige «Cochrane Deutschland» hält niedrigdosiertes Misoprostol (Cytotec) für zweckmässig

Cochrane Deutschland hält es für möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Überdosierungen zu den oben beschriebenen schweren gesundheitlichen Schäden führten. Nach Prüfung der wissenschaftlichen Literatur kommt Cochrane zu fogendem Schluss:

«Eine Tablette Cytotec enthält 200 Mikrogramm Misoprostol, also das achtfache der von den Review-Autoren empfohlenen Einzeldosis [in der Geburtshilfe]. Das erschwert die korrekte Dosierung und hat möglicherweise zu Fällen von Überdosierungen und gefährlichen Überstimulierungen geführt. Anfang des Jahres 2020 lösten Medienberichte über solche Vorfälle in Deutschland eine umfangreiche Debatte über die Sicherheit von Cytotec bzw. des darin nethaltenen Wirkstoffs Misoprostol aus. Der aktuelle Review legt nahe, dass die in den Berichten vermutete Häufung von Überstimulationen eher mit Anwendungsfehlern (d.h. Überdosierungen) zu tun hat, als mit dem Risikoprofil von niedrig dosiertem Misoprostol per se.»

Ein neuer Cochrane Review vergleicht die orale Einnahme des Wirkstoffes Misoprostol (Cytotec) mit den gängigsten Alternativen. Er kommt zu dem Schluss, dass niedrig dosiertes Misoprostol vermutlich das günstigste Verhältnis von Wirksamkeit und Risiken hat


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Eine Meinung zu

  • am 10.07.2021 um 11:50 Uhr
    Permalink

    Und ja, es kann damit auch Probleme geben, aber nur wenn man es zu hoch dosiert.

    Frei nach einem Zitat von Paracelsus: «Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.»

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