MAHA-Bericht: US-Kinder leiden – aber Fussnoten sind wichtiger
Am 29. Mai legte der von US-Präsident Trump berufene Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. den «MAHA»-Bericht vor, der ein desaströses Bild vom Gesundheitszustand US-amerikanischer Kinder und Jugendlicher zeichnet:
«Amerikas Kinder stehen vor einer noch nie dagewesenen Gesundheitskrise. Über 40 Prozent der rund 73 Millionen Kinder (im Alter von 0 bis 17 Jahren) in den Vereinigten Staaten leiden […] an mindestens einem chronischen Gesundheitsproblem wie Asthma, Allergien, Fettleibigkeit, Autoimmunerkrankungen oder Verhaltensstörungen.«
Falsche Fussnoten
Wenige Stunden später meldeten sich die Kritiker. Sie widersprachen nicht der Zustandsbeschreibung, ja, sie erwähnten diese nicht einmal, sondern kritisierten die Quellenangaben. Das Online-Magazin «NOTUS», die «New York Times» und die «Washington Post» wiesen nach, dass etwa 18 der aufgeführten 522 Fussnoten in diesem Bericht entweder zu nicht existierenden Links oder zu Texten führten, die ein anderes Thema behandelten. In Europa wurde die Kritik übernommen, «Geo», «Die Zeit», die «Tagesschau» und andere berichteten darüber.
Das US-Gesundheitsministerium korrigierte umgehend die falschen Angaben, aber weitere wurden aufgedeckt (so von der britischen Ärztezeitung «BMJ»). Es begann eine Schlacht um etwa drei bis vier Prozent der Fussnoten, die bis jetzt andauert.
Auszüge aus dem Bericht
Quellen müssen stimmen, unbedingt. Sollten aber nicht mit derselben Energie, mit der unzureichende Fussnoten dingfest gemacht werden, auch die inhaltlichen Aussagen des Reports diskutiert werden? Deshalb im Folgenden einige Aussagen des 72-seitigen Berichts:
- Die pharmazeutische Industrie gab von 1999 bis 2018 4,7 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit auf Bundesebene aus, mehr als jede andere Branche.
- Die Hälfte der Kosten für die medizinische Weiterbildung von Ärzten stammt von der Industrie. Für jeden Dollar, den die Firmen dafür ausgeben, erhalten sie im Durchschnitt 3,65 Dollar durch vermehrte Verschreibungen ihrer Produkte zurück.
- Früheren Studien zufolge erhalten über 80 Prozent der klinischen Abteilungen und Lehrkrankenhäuser an medizinischen Fakultäten in den USA in gewissem Masse Geld von der Pharmaindustrie.
- Die Mehrheit der Experten, die in den USA medizinische Richtlinien für Ärzte erstellen, hat Geld von Pharma- oder Medizinprodukteherstellern erhalten.
- Zwischen 2010 und 2022 unterstützte die Pharmaindustrie über 20’000 Patientenorganisationen mit 6 Milliarden Dollar.
- Unter vergleichbaren Ländern erlauben einzig die USA und Neuseeland den Pharmafirmen, ihre Medikamente direkt bei den Konsumenten zu bewerben. Neuseeland reguliert dies aber stark, die USA nicht.
- Die Privatwirtschaft finanziert in den USA fünfmal so viele klinische Studien wie alle US-Bundesbehörden einschliesslich der «National Institutes of Health» (NIH) zusammen.
- Pharmaunternehmen erstellen häufig Studien und Veröffentlichungen, die ihre Produkte positiv bewerten. Es gibt Belege dafür, dass von der Industrie durchgeführte Studien viel häufiger positive Ergebnisse berichten, den Nutzen übertreiben und über die Schäden zu wenig berichten.
- 97 Prozent der seit 1997 am häufigsten zitierten Studien wurden von der Industrie gesponsert. Wie oft eine Studie zitiert wird, ist ein Mass für ihre Bedeutung. Die klinischen Studien mit dem grössten Nachhall wurden folglich fast alle von der Industrie finanziert.
- Medizinische Fachzeitschriften, in denen die Studien veröffentlicht werden, haben oft keinen Zugang zu den Patientendaten aus der pharmazeutischen Forschung. Sie können daher nicht für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der ihnen vorliegenden Daten bürgen. Die Unternehmen erlauben im Allgemeinen niemandem ausser ihren Mitarbeitern, diese einzusehen – Ärzte und Patienten müssen sich also darauf verlassen, dass die Unternehmen ein ehrliches Bild ihrer Forschung vermitteln.
- Pharmaunternehmen üben somit unternehmerische Kontrolle über die Forschungsagenda und die von Patienten und Ärzten einsehbaren Forschungsergebnisse aus.
- Einige Chefredaktoren und -redaktorinnen der weltweit bekanntesten medizinischen Fachzeitschriften haben öffentlich ihre Abscheu bekundet:
Richard Horton, Herausgeber von «The Lancet»: «Zeitschriften haben sich zu Informationswäschereien für die Pharmaindustrie entwickelt.»
Marcia Angell, ehemalige Herausgeberin des «New England Journal of Medicine» kritisierte, dass die Industrie «in erster Linie zu einer Marketingmaschine» geworden sei und «jede Institution vereinnahmt, die ihr im Weg steht».
Richard Smith, ehemaliger Herausgeber des «British Medical Journal» (BMJ): «Medizinische Fachzeitschriften sind der verlängerte Arm des Marketings der Pharmaunternehmen.»
Arnold Relman, ehemaliger Herausgeber des «New England Journal of Medicine»: «Die Ärzteschaft wird von der Pharmaindustrie gekauft, nicht nur in Bezug darauf, wie die Medizin ausgeübt wird, sondern auch in Bezug auf Lehre und Forschung. Die akademischen Institutionen dieses Landes lassen sich zu bezahlten Agenten der Pharmaindustrie machen. Ich finde das schändlich.»
Drei Viertel der jungen Amerikaner zu dick oder zu krank für Militärdienst
Der «MAHA»-Bericht hat vier grosse Abschnitte. Darin geht es unter anderem um Schäden durch hochverarbeitete Lebensmittel, durch Umweltchemikalien und die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Verhalten von Kindern. Amerikanische Kinder hätten ein noch nie da gewesenes Ausmass an Bewegungsmangel, Bildschirmkonsum, Schlafmangel und chronischem Stress, kritisiert der Bericht.
«Diese Faktoren tragen wesentlich zum Anstieg chronischer Krankheiten und psychischer Probleme bei. […] Über 75 Prozent der amerikanischen Jugendlichen (im Alter von 17 bis 24 Jahren) sind für den Militärdienst nicht geeignet – hauptsächlich aufgrund von Fettleibigkeit, schlechter körperlicher Fitness und/oder psychischen Gesundheitsproblemen.» Weniger als 13 Prozent der US-Schulkinder würden heutzutage beispielsweise den Weg zur Schule mit dem Velo oder zu Fuss zurücklegen.
«Übermedikalisierung» der Kinder
Im vierten Abschnitt des Berichts geht es um die «Übermedikalisierung unserer Kids». Hier einige Punkte daraus:
- Schätzungen zufolge hat eines von fünf US-Kindern in den letzten 30 Tagen mindestens ein verschreibungspflichtiges Medikament eingenommen. Der Dauerkonsum ist bei Jugendlichen am stärksten ausgeprägt: 27 Prozent nehmen täglich ein oder mehrere verschreibungspflichtige Medikamente ein.
- Die Verschreibungen von Stimulanzien zur Behandlung von ADHS verdoppelte sich in den USA von 2006 bis 2016. Bis 2022 hatten 11 Prozent der Kinder eine ADHS-Diagnose, bei Knaben lag die Rate im Alter von 17 Jahren bei fast 1 von 4.
- In den USA erhalten Kinder 2,5-mal öfter Medikamente gegen ADHS als in Grossbritannien.
- Antidepressiva wurden im Jahr 2022 über 2 Millionen Jugendlichen in den USA verordnet.
- Der Einsatz von Antipsychotika bei US-Kindern stieg von 1995 bis 2009 um 800 Prozent. 66 Prozent dieser Arzneimittel wurden für Probleme wie ADHS oder «Aggression» verschrieben, für die sie nicht zugelassen sind. Solche Medikamente können ernsthafte Nebenwirkungen verursachen.
- Die Zahl der Antibiotika-Verschreibungen für ambulant behandelte US-Kinder stieg bis 2022 auf 49 Millionen. Schätzungen zufolge seien etwa 35 Prozent der Antibiotika unnötig, was bedeuten würde, dass jedes Jahr etwa 15 Millionen Kindern unnötige Antibiotika verschrieben werden – die in diesen Fällen nur Risiken bergen, aber keinen Nutzen bieten.
- Die Verschreibungen von Asthma-Medikamenten nahmen von 1999 bis 2008 um 30 Prozent zu.
- Die Anzahl der Impfungen, die US-Kinder erhalten, ist fast doppelt so hoch wie in Dänemark, ohne, dass die Kinder in den USA deshalb erkennbar besser dran wären.
Der MAHA-Bericht schliesst mit einer Aufforderung, die aufgeführten gesundheitlichen Probleme von Kindern und Jugendlichen tiefgehender zu erforschen. Unter anderem soll eine «Post-Marketing-Überwachung» installiert werden, um die «Sicherheit von Kinderarzneimitteln unter realen Bedingungen» zu erfassen. Ergebnisse von Industrie-finanzierten Studien sollen unabhängig überprüft werden.
Weitere Aussagen im MAHA-Bericht zu Ernährung und Umweltchemikalien
Ernährung: Die amerikanische Ernährung hat sich dramatisch in Richtung hoch verarbeiteter Lebensmittel (UPF) verschoben. Dies führt zu einer Verarmung an Nährstoffen, einer erhöhten Kalorienzufuhr und der Belastung durch schädliche Zusatzstoffe. Nahezu 70 Prozent der Kalorien, die Kinder zu sich nehmen, stammen heute aus UPF und tragen zu Fettleibigkeit, Diabetes und anderen chronischen Krankheiten bei. Die Lebensmittelindustrie finanziert den Grossteil der Forschung auf diesem Gebiet. Eine «BMJ»-Analyse ergab, dass die Industrie über 60 Milliarden Dollar für die Forschung in die Ernährungswissenschaft steckt – im Vergleich dazu gibt die Regierung schätzungsweise 1,5 Milliarden Dollar dafür aus. Besorgniserregend ist, dass von der Industrie finanzierte Ernährungsforschung die Schlussfolgerungen zugunsten der Produkte der Sponsoren verfälschen kann.
Umweltchemikalien: Kinder sind einer zunehmenden Anzahl synthetischer Chemikalien ausgesetzt, von denen einige mit Entwicklungsproblemen und chronischen Krankheiten in Verbindung gebracht werden. Der derzeitige Rechtsrahmen sollte ständig überprüft werden, um sicherzustellen, dass Chemikalien und andere Belastungen nicht zusammenwirken, um die Gesundheit unserer Kinder zu gefährden. Mehr als 40’000 Chemikalien sind in den USA registriert. Pestizide, Mikroplastik und Dioxine werden häufig im Blut und Urin von amerikanischen Kindern und schwangeren Frauen gefunden – teilweise in alarmierenden Mengen. Kinder sind in kritischen Entwicklungsstadien besonders anfällig für Chemikalien – im Uterus, im Säuglingsalter, in der frühen Kindheit und in der Pubertät. Laut einer kürzlich durchgeführten Überprüfung durch die «National Academies of Sciences, Engineering and Medicine» wurde eine hohe Exposition gegenüber bestimmten Arten von PFAS mit diversen gesundheitlichen Auswirkungen in Verbindung gebracht, darunter Immunsuppression und Veränderungen des Cholesterinspiegels bei Kindern.
Eine Studie an einem einzigen Standort im Jahr 2025 hat gezeigt, dass die Konzentration von Mikroplastik im Gehirngewebe von Amerikanern zwischen 2016 und 2024 um 50 Prozent gestiegen ist. Einige Studien haben ausserdem ergeben, dass Mikroplastik häufig endokrin wirksame Chemikalien enthält, welche die hormonelle Entwicklung beeinträchtigen und möglicherweise eine frühe Pubertät auslösen – insbesondere bei Mädchen – und das Risiko von Fettleibigkeit, Unfruchtbarkeit und hormonbedingten Krebserkrankungen erhöhen.
Die chemische Industrie gab 2024 rund 77 Millionen Dollar für Lobbying auf Bundesebene aus. 60 Prozent ihrer Lobbyisten arbeiteten zuvor für US-Behörden. Mehr als zehntausend Chemikalien, die im Verzeichnis der US-Umweltbehörde EPA aufgeführt sind, werden als vertraulich eingestuft.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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