Operation

MDR-Test: Medizinische Gründe spielen häufig nicht die Hauptrolle für eine OP-Empfehlung. © MDR

Die Chefarzt-Boni sind auf der Abschussliste

Urs P. Gasche /  Je häufiger Chirurgen, auch unnötig, operieren, desto höher fallen ihre «leistungsabhängigen Prämien» aus. Wann ist Schluss damit?

Unter den 32 Massnahmen zum Prämiensparen, die eine Expertengruppe des Bundesrates kürzlich vorschlug, findet das Abschaffen solcher unsinnigen Boni zur Erhöhung der Spitalumsätze am meisten Zustimmung. Konkret sollen die Kantone nur noch Spitäler auf ihre Spitallisten aufnehmen, wenn die dortigen Ärzte keine solchen Fehlanreize zur Mengenausweitung haben. Das ergab eine Umfrage von Infosperber unter den Leistungserbringern, den Parteien sowie bei Konsumenten- und Patientenorganisationen.

In Skandinavien längst verboten
Man muss sich fragen, warum die Kantone noch immer Spitäler in ihre Spitallisten aufnehmen, die solche Fehlanreize kennen. Kritiker vermuten, weil Kantone selber an Spitälern beteiligt und deshalb an einer guten Auslastung interessiert sind.
In Skandinavien und in Holland sind finanzielle Entschädigungen, die von der Menge der Operationen abhängen, längst verboten.
Das Problem in der Schweiz ist bekannt. Der frühere Chefarzt für Innere Medizin am Spital Affoltern ZH, Christian Hess, hatte Spitäler, die ihren Chefärzten Mindestzahlen von Operationen vorgeben, schon mehrmals kritisiert. Falls Chirurgen vorgegebene Mindestzahlen übertreffen, erhalten sie einen finanziellen Bonus. Hess zitierte eine FMH-Studie, wonach die leistungsabhängigen Prämien bei Chefärzten bereits einen Viertel ihrer Löhne ausmachen. Entsprechend gering ist der Anreiz, PatientInnen beispielsweise zu raten, mit einem Ersatzgelenk möglichst lange zuzuwarten und es vorerst beim Bekämpfen der Schmerzen zu belassen. Im Gegenteil: Das schmälert die Einkommen von Chirurg und Spital.

Beispielsweise bei den Hüft- und Knieprothesen kann man die Folgen feststellen: Prothesen werden in der Schweiz häufig zu früh eingesetzt. Diese besonders lukrativen Operationen haben seit der Boni-Politik rasant zugenommen: Im Jahr 2003 wurden in der Schweiz noch weniger als 9000 Knieprothesen eingesetzt, im Jahr 2014 über 21’000. Mit der etwas grösseren Zahl älterer Personen hat das wenig zu tun.

Keine Frage: Für viele Ältere mit anhaltenden Knie- oder Hüftschmerzen sind Ersatzgelenke ein grosser Segen. Das Problem besteht darin, dass Prothesen immer häufiger zu früh eingesetzt werden. Das ist nicht im Interesse der PatientInnen, weil die Prothesen nicht ewig halten, sondern meistens nach zehn bis fünfzehn Jahren ersetzt werden müssen. Oder es werden Prothesen noch bei sehr Betagten und Multimorbiden eingesetzt, die sich von der Operation nicht mehr erholen und keinen Nutzen mehr davon haben.
Knie- und Hüftprothesen sind nur ein Beispiel.

Der Druck auf die Kantone nimmt zu, diese mengenausweitenden Anreize zu verhindern. Diese Forderung ist eine von zwei der 32 vorgeschlagenen Massnahmen, welche alle Antwortenden der Umfrage unterstützen: Bea Heim von der SP, das SVP-Generalsekretariat, der Krankenkassenverband Santésuisse und die Konsumentenschutzorganisation SKS.

Beschwerderecht nicht allein für die Pharmaindustrie

Die zweite Forderung, der alle Genannten zustimmen, ist überraschenderweise ein Beschwerderecht auch für Kassen und Patienten- und Konsumentenorganisationen. Heute können ausschliesslich die Pharmafirmen gegen Verfügungen des Bundesamts für Gesundheit Beschwerde erheben. Von Seiten der Kassen und Konsumenten hat das BAG nichts zu befürchten. Entsprechend pharmafreundlich fallen häufig die Verfügungen aus.

Die SVP auf Schmusekurs mit der Pharmaindustrie

Mit Ausnahme dieses Beschwerderechts lehnt das SVP-Generalsekretariat sonst auffälligerweise sämtliche Massnahmen ab, welche die Pharmakonzerne betreffen:

  1. Änderung der Medikamenten-Vertriebsmargen, so dass Apotheken und Ärzte an teuren Originalmedikamenten nicht mehr verdienen als an günstigeren Generika.
  2. Apotheken und Ärzte sollen immer Generika abgeben, ausser es gibt einen medizinischen Grund für das Original.
  3. Für Medikamente soll der jeweils günstiger Preis gelten, der sich entweder aus dem Preisvergleich mit dem Ausland oder aus dem therapeutischen Quervergleich ergibt (heute werden die beiden Vergleiche je zur Hälfte angerechnet.)
  4. Auf den mit diesen Vergleichen ermittelten Preisen soll es keinen Zuschlag mehr geben für Innovationen. Denn bei den verglichenen Preisen im Ausland ist die Innovation bereits inbegriffen.
  5. Die Preise der Medikamente sollen jährlich neu überprüft werden und nicht nur alle drei Jahre wie heute.

Alle diese von der Expertenkommission vorgeschlagenen Massnahmen lehnt die SVP ab. Vom Krankenkassenverband Santésuisse und der Stiftung für Konsumentenschutz SKS dagegen werden alle befürwortet. Auch SP-Gesundheitspolitikerin Bea Heim unterstützt fast alle dieser Vorschläge.

Spezialärzte und Kantone sollen verschont bleiben

Vergleiche mit dem Ausland zeigen, dass zwei Schweizer Eigenheiten die Kosten bei uns massiv steigern:

  1. Der direkte Zugang zu Spezialarzt-Praxen. Mit Ausnahme von Deutschland und Österreich kennt ganz Europa ein obligatorisches Hausarztmodell. Ausser in Notfällen selektioniert ein günstigerer Allgemeinarzt oder eine günstigere Allgemeinärztin, ob eine Konsultation bei einem Spezialisten nötig ist.
    Dies bringt auch den Patientinnen und Patienten Vorteile: Ärzte-Gruppenpraxen und -netzwerke steigern durch die gute Koordination die Behandlungsqualität und senken damit längerfristig nachweislich die Gesundheitskosten.
    In der Schweiz gibt es immer mehr Spezialisten und immer weniger Allgemeinpraktiker. Wo die Spezialisten-Dichte besonders gross ist, wie etwa in den Kantonen Waadt, Bern und Zürich, sind auch die Kosten und Prämien viel höher als in andern Kantonen – ohne einen auch nur im Ansatz bewiesenen gesundheitlichen Nutzen. Höhere Prämien ohne Zusatznutzen sind das Unsozialste.
  2. Die Interessenkonflikte der Kantone. Die Spitalpolitik ist seit Jahrzehnten in staatlicher Hand. Die Kantone, die selber auch Besitzer von Spitälern sind, bestimmen, welche Leistungen in welchen Spitälern die Krankenkassen zahlen müssen («Spitallisten»).
    Das Resultat ist ein Desaster. Pro Einwohner gibt es in der Schweiz fast viermal mehr Spitäler als in Holland. Wegen dieser Verzettelung führen bei uns viele Spitäler heikle Operationen nur einmal im Monat oder noch seltener durch – mit erhöhten Risiken für die PatientInnen. Es kommt zu vielen vermeidbaren Komplikationen und Todesfällen. Doch die Kantone haben es versäumt, messbare Behandlungsergebnisse vergleichbar zu erfassen und Mindeststandards vorzugeben. Das Risiko, im Spital eine Infektion zu erwischen, ist in der Schweiz höher als im Durchschnitt der EU. Doch die Kantone schreiben für Operationssäle nicht einmal eine Checkliste vor.

Diese beiden grundsätzlichen Schwachstellen der sozialen Grundversorgung in der Schweiz bleiben weitgehend tabu. Eine Trennung der kantonalen Spitalregulierung von Besitz und Kontrolle schlägt die Expertenkommission nicht einmal vor, geschweige denn eine Vertragsfreiheit der Kassen wie in den Niederlanden.
Auch konkrete Massnahmen des Bundes, der seit 1996 die Qualität von Spitalbehandlungen sicherstellen sollte, verlangen die Experten erstaunlicherweise nicht. Einzig die «Schaffung einer unabhängigen Tarifgenehmigungs- und Festsetzungsinstanz» soll den «Governance-Konflikt der Kantone» reduzieren. Diesen Mini-Ansatz unterstützt in der Infosperber-Umfrage einzig die Santésuisse.
«Qualität stärken» figuriert zwar unter den Vorschlägen der Experten. Doch diese «Massnahme» bleibt wohlfeil, weil sie nicht konkret formuliert wird. Entsprechend stimmen die Umfrage-Teilnehmenden alle zu – mit Ausnahme der SVP.

Dagegen schlägt die Expertenkommission ein verpflichtendes Hausarzt- oder HMO-System vor: «Mit dem Gatekeeping sollen die Versicherten eine erste Anlaufstelle haben … Die damit verbundene Koordination der Behandlungen soll … unnötige oder mehrfache Untersuchungen vermeiden.»
Niemand der Umfrage-Teilnehmenden unterstützt diesen Vorschlag.
Viele unverbindliche oder keine Antworten
Mit Recht stellte der grüne GLP-Nationalrat Thomas Weibel fest, dass die Expertengruppe des Bundesrats «kaum neue Ideen zusammengetragen hat». In der Tat werden fast alle Massnahmen schon lange diskutiert, viele waren bereits auf der Traktandenliste des Parlaments. Vor acht Jahren wollte FDP-Nationalrat Otto Ineichen mit einem konkreten, überparteilichen Programm 1,5 Milliarden Kosten sparen. Dazu kommen die HMO- und viele andere Vorlagen. Die Gesundheitskommissionen des National- und Ständerats haben sich im Laufe der Zeit mit bereits fast allen der 32 Vorschläge der Expertenkommission befasst. Trotzdem beantworteten viele Gesundheitspolitiker, Parteien und Verbände die Frage von Infosperber nicht, welche der 32 Vorschläge sie grundsätzlich unterstützen.
Die GLP meinte, ihre «Fachpersonen und die Fraktion wollen sich zuerst eingehend und seriös damit befassen».
Die Grüne Partei teilte mit, eine Arbeitsgruppe sei am Prüfen.
Die SP Schweiz will ihre Position nach einer «breiten internen Vernehmlassung … in den nächsten Wochen erarbeiten». Einzig Bea Heim, SP-Vertreterin in der nationalrätlichen Gesundheitskommission, nahm detailliert Stellung.
Die FDP teilte mit, die Vorschläge seien «in der zuständigen Kommission noch nicht vertieft besprochen» worden.
CVP und BDP blieben stumm.
Der Spitalverband H+ erachtet «eine generelle Bewertung» der 32 Massnahmen «im Hinblick auf konstruktive Diskussionen nicht als zielführend».
Der Dachverband der Patientenstelle teilte mit, «grundsätzlich alle Vorschläge» zu unterstützen, ohne allerdings die befürworteten Massnahmen anzukreuzen.
Der Krankenkassenverband Curafutura meldete sich nicht.
Dagegen nahm Santésuisse zu allen Vorschlägen Stellung, wobei – wie der Verband zu Recht festhält – es sich bei etlichen Massnahmen nur um eine «grundsätzliche Zustimmung» handeln kann, weil die Expertengruppe viele «Massnahmen» zu vage formuliert hat.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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