Kommentar

Die alte Mär von Gleichheit bei der AHV

Linda Stibler © Claude Giger

Linda Stibler /  AHV-Renterinnen sind bis heute benachteiligt, obwohl manche behaupten, Frauen würden vom tieferen Rentenalter profitieren.

Nicht das Ende der Erwerbstätigkeit markiert den Eintritt ins Pensioniertendasein, sondern das Erreichen des AHV-Alters. Denn für die überwiegende Mehrheit ist die AHV-Rente noch immer die Voraussetzung für den Ruhestand. Sie ist in der Tat die tragende Säule der Altersvorsorge, auch wenn die Leistungen von Pensionskassen für die meisten unverzichtbar sind. Das gilt nicht zuletzt für die heute im Rentenalter stehenden Frauen. Für die allermeisten Frauen war und bleibt die AHV die wichtigste – und oftmals einzige – Rente. Umso erschreckender, dass viele keine Ahnung haben von der Geschichte und dem eigentlichen Zweck der AHV.
Die Familie als Altersversicherung
Vor der Einführung einer obligatorischen Altersversicherung gab es zwar ebenfalls drei Säulen – die private Altersvorsorge aus Ersparnissen oder eine Pensionskasse in den Betrieben. Es waren damals vor allem Staatsbetriebe und nur wenige private, die Pensionskassen besassen; die Leistungen waren meistens an die Betriebe gebunden und keineswegs freizügig. Die wichtigste Säule war jedoch die Familie. Sie hatte jene Betagten aufzufangen, die keine Ersparnisse mehr oder keine privaten Renten hatten. Das war bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein beachtlicher Teil der Schweizer Bevölkerung – allen voran alleinstehende Frauen – Unverheiratete, Witwen oder Geschiedene. Wenn sie bedürftig wurden, mussten sie durch ihre Kinder, Geschwister oder andere Verwandte versorgt werden, um sie vor der Armengenössigkeit zu bewahren, die damals eine Schande war und die Menschen in extremer Abhängigkeit hielt. Alte Menschen unternahmen dementsprechend alles, um der Armengenössigkeit zu entgehen. Sie versuchten so lange wie möglich (erwerbs)tätig zu bleiben, auch um die Unterstützungsleistungen durch ihre Familie zu vermeiden oder zu verringern. Wurden sie trotzdem hilfs- oder gar pflegebedürftig, dann mussten sie in erster Linie von ihren Angehörigen aufgefangen werden – und das waren meistens wiederum Frauen, die die Pflege leisteten. Für alle Beteiligten war das finanziell belastend und oft konfliktbeladen.
Die Gesellschaft verändert sich
Doch schon während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten sich die Strukturen in Gesellschaft und Familie. Die Kernfamilien schrumpften, die Berufstätigkeit der Frauen ausserhalb des Hauses stieg an und eine ständig wachsende Mobilität (z.B. Wohnortwechsel) schwächte die Solidarität in den Familien. Das alles verschärfte die Situation und rief nach einer politischen Lösung.
Erst jetzt erschien es möglich, dass auch die Schweiz eine allgemeine Altersversicherung einführte. Die AHV war ein erstes nationales Sozialwerk. Ihre Grundlage ist einerseits das Erwerbseinkommen aller (nicht nur von Arbeitnehmenden und Lohnempfängern, sondern auch von privaten Unternehmern und Selbständigerwerbenden). Sie sind beitragspflichtig und rentenberechtigt. Anderseits machte man auch eine Anbindung an die Kernfamlie – also Ehepaare, unmündige Kinder und allenfalls Witwen. Sie sind unter bestimmten Bedingungen ebenfalls rentenberechtigt. Da jedoch viele Ehefrauen unentgeltliche Haus- und Familienarbeit leisteten oder im Familienbetrieb unentgeltliche Arbeit leisteten, sollten sie keine eigenen Beiträge bezahlen müssen, sondern sie waren durch ihren Ehemann mitversichert. Bei der Gründung der AHV wurde dieser Kompromiss aus Referendumsüberlegungen getroffen. Diese fragwürdige Entscheidung hatte jedoch tiefgreifende Konsequenzen für die Frauen.
Der lange Weg zum Rentensplitting
Man muss sich das immer wieder in Erinnerung rufen, denn die reale Situation war damals: Der grösste Teil der Frauen war im Haushalt oder im Familienbetrieb tätig, das galt insbesondere für die Bäuerinnen. Die berufstätigen ledigen Frauen (eine kleine Minderheit) bezahlten AHV – waren also im System. Das galt zwar auch für die verheirateten Frauen, die ausser Haus erwerbstätig waren – mit einem grossen Unterschied: Ihre Einkommen wurden bei der Rentenberechnung zum Familieneinkommen geschlagen. Beim Tod des Ehemanns konnten sie von den eigenen Beiträgen profitieren, denn die Rente war etwas höher. Bei einer Scheidung jedoch verloren sie den ganzen Beitragsbetrag ihres Ehemannes, wenn nicht bei der Scheidung ein Versorgungsbeitrag abgemacht respektive gerichtlich erstritten wurde.
De facto hatte also das Familienoberhaupt das Verfügungsrecht über die ganze Rente. Ihm wurde die Rente ausbezahlt, es war den Familien überlassen, wie sie sie nutzten. Und die meisten Ehepaare regelten das einvernehmlich, was an der Rechtslage im Konfliktfall nichts änderte.
Das galt sehr lange – bis zur Einführung des neuen Eherechts 1988 und des Rentensplittings, das erst 1997 (!) eingeführt wurde. Es ist bemerkenswert, dass die rechtliche Praxis den veränderten gesellschaftlichen familiären Strukturen immer hinterher hinkte.
Wenn die AHV-Rente nicht zum Leben reicht
Trotz aller Mängel war die Einführung der AHV die wichtigste soziale Errungenschaften in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Sie wurde mit dem Versprechen eingeführt, dass die AHV das Existenzminimum jeder Person im Alter garantieren sollte – spätestens dann, wenn alle in die AHV einbezahlt hätten. Man vergisst immer wieder, dass es auch heute noch einen – wenn auch kleinen Teil der Bevölkerung – Männer wie Frauen – gibt, die noch keine vollen Rentenzahlungen leisten konnten, weil sie vor der Einführung der AHV bereits volljährig waren, also alle älter als Jahrgang 1930 respektive 1928. In der Übergangsphase gab und gibt es viele zusätzliche Massnahmen für jene, die nie oder nur teilweise AHV bezahlt haben: die ausserordentliche Rente. Es gibt immer noch eine stattliche Anzahl. Zur Abfederung wurden zudem die Ergänzungsleistungen eingeführt. Sie müssen beantragt werden.
Das Existenzminimum beträgt zur Zeit in der Schweiz im Durchschnitt 2800 Franken (Das Überlebensexistenzminimum ist tiefer, und wenn die Sozialhilfe die Miete, Krankenkasse und obligatorische Abgaben bezahlt oder diese von einer andern Einrichtung übernommen werden, beträgt es nur knappe 1000 Franken).
Weitere Korrekturen sind dringend nötig
Die Mindestrente der AHV beträgt heute für Einzelpersonen 1175 Franken im Monat, liegt also weit unter dem Existenzminimum. Dank der Ergänzungsleistungen liegen die aktuellen Renten jedoch leicht über dem Existenzminimum von 2800 Franken. Ergänzungsleistungen müssen jedoch beantragt werden. Und es gibt immer noch Rentnerinnen und Rentner, die das – aus welchen Gründen immer – nicht tun.
Aktuell sind vor allem Frauen davon betroffen, Ergänzungsleistungen beantragen zu müssen, obwohl sie werktätig waren und auch AHV bezahlt haben. Das ist der eigentliche Skandal. Mit der Einführung des Pensionskassenobligatoriums wurde behauptet, das Existenzminimum sei ohnehin von der AHV abgesichert. Da wurde (und wird) also ein sogenannter Koordinationsabzug von heute 24‘675 Franken im Jahr zum sogenannten Freibetrag erklärt. Der müsse nicht zwingend von den Pensionskassen versichert werden. Das jedoch wirkte sich für all jene – vorwiegend für Frauen, die als Zuverdienerinnen oft Hausarbeit oder familiäre Pflegeleistungen erbrachten – verheerend aus. Ihre gesamte Altersvorsorge schrumpfte empfindlich, im Falle von jenen, die älter sind als vor den Korrekturen von 1988 und 1997 sogar dramatisch.
Weitere Korrekturen sind also dringend. Die wichtigste ist, dass die AHV so gestärkt wird, dass das Existenzminimum für alle erreicht wird.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Senioren Paar.monkeybusiness.Depositphotos

Die Zukunft der AHV und IV

Die Bundesverfassung schreibt vor, dass die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf angemessen decken müssen.

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Eine Meinung zu

  • am 27.02.2017 um 18:24 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag. Auch mit diversen neueren Ideen (bGE, Microsteuer usw.) – wird unsere Gesellschaft dieser Problematik nicht gerecht. Denn die Finanzierung wird selten für alle Einkommen durchgerechnet. Ja, die AHV müsste endlich Existenzsichernd sein, das könnte leicht erreicht werden, wenn z.B. die Progression nicht abbrechen würden – und statt, dass den Reichen «ghöfelet» wird – sollten wir über eine Vermögens-Begrenzung diskutieren. Die tapferen Frauen sollten begreifen (wie auch die fleissigen Männer :-)), dass die erste oder zweite Million leichter zu erreichen sein sollte, als z.B. die Dreissigste. und das möglichst weltweit – zudem sollte in Anbetracht der Automatisierung (künstliche Intelligenz KI) das AHV-Alter gesenkt werden z.B. auf 50.

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