Old safety net

Die Sozialhilfe gilt als das letzte Sicherheitsnetz der Schweiz. Es ist allerdings nicht für alle Personen gleich dicht. © Depositphotos

Personen ohne Schweizer Pass sind sozial zu wenig abgesichert

Felix Wolffers /  Namhafte Experten fordern existenzsichernde Leistungen für alle und liefern Anregungen für sozialstaatliche Reformen.

Red. Felix Wolffers (geb. 1957) leitete u.a. das Sozialamt der Stadt Bern und war Co-Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS. Er arbeitet heute als Unternehmensberater mit Schwerpunkt im Sozialbereich.

In der Schweiz gibt es ein engmaschiges Netz von Sozialversicherungen, das den hier lebenden und arbeitenden Menschen und ihren Angehörigen einen weitreichenden Schutz vor sozialen Risiken bietet. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass nicht alle gleichermassen geschützt sind: Ausländerinnen und Ausländer müssen vielfach mit weniger sozialer Absicherung und tieferen Unterstützungsleistungen leben als die einheimische Bevölkerung. Und Menschen ohne Schweizer Pass müssen gar mit ausländerrechtlichen Sanktionen rechnen, wenn sie in Not geraten und staatliche Hilfe beanspruchen.

Die Verschränkung der Migrationspolitik und der Politik der sozialen Sicherheit wird in der neusten Ausgabe der von der Eidgenössischen Migrationskommission herausgegebenen Zeitschrift terra cognita von namhaften Expertinnen und Experten aus gesellschaftlicher, rechtlicher und sozialpolitischer Sicht thematisiert. Ruedi Illes weist in seinem Aufsatz «Asylsozialhilfe auf dem Prüfstein» auf die Notwendigkeit von existenzsichernden Leistungen für alle längerfristig in der Schweiz lebenden Personen hin: «Zu tiefe Unterstützungsansätze erschweren die gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb muss es im Interesse einer Gesellschaft sein, dass Menschen, die über einen längeren Zeitraum bei uns leben, eine angemessene Unterstützung durch die Sozialhilfe erhalten». Der Autor kritisiert, «dass die Berechnung der Höhe des Grundbedarfs in der Asylsozialhilfe grundsätzlich nicht auf sachlich nachvollziehbaren Kriterien beruht.»

«Das Migrationsrecht wird zu einem Leiterlispiel»

Verschiedene Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass bedürftige Personen ohne Schweizer Pass auf staatliche Leistungen verzichten und deshalb unter dem Existenzminimum leben. Marianne Hochuli zieht daraus den Schluss, dass für bedürftige Ausländerinnen und Ausländer «das Recht auf Hilfe in Notlagen nicht gewährt ist. Beziehen sie Sozialhilfe, droht ihnen der Verlust des Aufenthaltsstatus. Viele verzichten daher auf Unterstützung und leben unter der Armutsgrenze.» Für die Autorin ist deshalb «die Entkoppelung von Aufenthaltsstatus und Sozialhilfebezug» dringend nötig. Barbara von Rütte zeigt auf, dass sich seit dem Inkrafttreten des neuen Bürgerrechtsgesetzes im Januar 2018 Personen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, nicht mehr einbürgern lassen können. «Das Migrationsrecht wird immer mehr zu einem «Leiterlispiel», in welchem das Ziel der Einbürgerung für armutsbetroffene Menschen unerreichbar wird», analysiert die Autorin.  

terra cognita: Zeitschrift der Migrationskommission.

In seinem Beitrag «Armut in einem reichen Land» verweist Christoph Butterwegge darauf, dass Armut in Deutschland und in der Schweiz längst kein Randgruppenphänomen mehr ist. Seine Schlussfolgerung: «Armut dringt immer stärker zur Mitte der Gesellschaft vor.» Die aktuellen Ereignisse als Folge der Ukrainekrise und insbesondere die Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Energie könnten gar zur «sozialen Frage des Jahrzehnts» werden. Dass Armutsbekämpfung nicht nur eine Aufgabe des Bundes ist, zeigt Carlo Knöpfel auf: «In den Kantonen und Kommunen muss der Sozialstaat verteidigt werden. Der alleinige Fokus auf die Bundespolitik reicht nicht. Wer armutsbetroffenen Menschen helfen möchte, muss sich um die sozialen Bedarfsleistungen kümmern, nicht nur um die Sozialhilfe, sondern auch um die Prämienverbilligung bei den Krankenkassen.»

Die ca. 30 Beiträge in der neuesten Ausgabe von terra cognita beleuchten die sozialstaatliche und ausländerrechtliche Entwicklung der letzten Jahre aus verschiedenen Blickwinkeln, hinterfragen die aktuelle Praxis kritisch und liefern Anregungen für sozialstaatliche Reformen. Dadurch wird in einem wenig beachteten und problematischen Bereich der schweizerischen Sozialpolitik die dringend nötige Transparenz geschaffen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor hat zu der besprochenen Zeitschrift terra cognita einen Beitrag beigesteuert.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

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Eine Meinung zu

  • am 24.09.2022 um 11:31 Uhr
    Permalink

    Immerhin können anerkannte Asylanten und Staatenlose Leistungen von Schweizer Sozialversicherungen bekommen. Bedingung: Sie müssen 1!! volles Beitragsjahr eingezahlt haben.

    «Flüchtlinge und Staatenlose, die in der Schweiz wohnen, können Ansprüche im schweizerischen Sozialversicherungssystem erwerben. Bedingungen: Sie müssen in der Schweiz wohnen und während mindestens eines vollen Jahres Beiträge entrichtet haben, oder in der Schweiz während eines Jahres mit dem erwerbstätigen Ehegatten gelebt haben, der mindestens den doppelten Mindestbeitrag bezahlt hat, oder ein Jahr Erziehungs- und Betreuungsgutschriften aufweisen.»

    «Leben Betroffene in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen, haben Sie unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Ergänzungsleistungen.»

    https://www.ahv-iv.ch/p/11.01.d

    In welchem anderen Land gibt es so etwas? Es gibt auch Schweizer und Ausländer welche Jahrzehnte lang hier gearbeitet haben und es im Alter doch nur auf das Existenzminimum bringen.

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