Kommentar

Migration: Wir können uns einmauern oder den Reichtum teilen

Heribert Prantl © Sven Simon

Heribert Prantl /  Die EU hat sich endgültig für das Einmauern entschieden. Der Asyl-Kompromiss lässt ein Asylrecht nur noch dem Namen nach bestehen.

«Zu den Grundirrtümern der letzten Jahrzehnte gehört der Glaube, dass man Flüchtlinge wirklich gerecht sortieren könne: In ‹gute› Flüchtlinge, die aus politischen Gründen, und in ‹böse› Flüchtlinge, die aus wirtschaftlichen Gründen fliehen. Alle Anstrengungen wurden darauf gerichtet, alle sind sie gescheitert. Stets hat man die Probleme am Schwanz statt am Kopf gepackt. Mit Paragrafen hat man versucht, Schicksale zu verwalten. Wann wurde je mit gleicher Kraft versucht den Menschen dort zu helfen, wo sie das Schicksal trifft? Fluchtsituationen entstehen doch nicht deshalb, weil es die Bundesrepublik mit dem Grundrecht auf Asyl gibt.»

So steht es in meinem ersten Leitartikel zum Thema Asyl, der 1990 in der Süddeutschen Zeitung erschien – drei Jahre bevor dann das Asylgrundrecht nach einer langen, wilden Debatte massiv eingeschränkt wurde. Es war dies damals mein erster grosser Text über Migration, und er endete so: 

«Die Überlegungen zur Bekämpfung von Fluchtursachen stehen erst am Anfang. Man wird eine völlig neue Form von Entwicklungshilfe in einer völlig neuen Dimension erfinden, man wird gewaltige Hilfsprojekte in Angriff nehmen müssen. Es gibt nur eine Alternative: Wir können uns einmauern oder unseren Reichtum teilen.» 

Die europäische Politik hat sich nun endgültig für das Einmauern entschieden. Der Asyl-Kompromiss, der vom Europäischen Rat beschlossen wurde, lässt ein Asylrecht und den Flüchtlingsschutz nur noch dem Namen nach bestehen.

Vor dreissig Jahren war für den damaligen Kanzler Kohl die Änderung des Asylgrundrechts ein Akt der Staatsnotwehr gegen die Flüchtlinge. Angreifer waren jedoch nicht die Flüchtlinge, sondern die Neonazis und Ausländerfeinde. Ich war damals gegen den deutschen Asylkompromiss und ich bin heute gegen den europäischen Asylkompromiss. Ich war und bin dagegen, dass Asylpolitik gemacht wird nach dem Motto «Wo gehobelt wird, da fallen Späne». Menschen, Flüchtlinge, Flüchtlingsfamilien sind keine Späne. Ich war und bin dagegen, dass über Menschen mit juristischen Fiktionen entschieden wird. Zu den juristischen Fiktionen gehört das Modell der angeblich sicheren Herkunfts- und Drittstaaten, das vom EU-Asylkompromiss jetzt exzessiv ausgebaut wird. Ich war und bin dagegen, Flüchtlinge absichtlich schlecht zu behandeln, um auf diese Weise vermeintliche Anreize zu begrenzen. Ich war und bin gegen Haftlager, in die sogar Familien gesperrt werden. Ich war und bin dagegen, Flüchtlinge, wenn sie nicht aus der Ukraine kommen, als Menschen dritter Klasse zu behandeln. Solche politische Rohheit ist ansteckend. Ich bin für eine Flüchtlingspolitik, die von der Devise ausgeht: Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären.

Und was hat es genutzt?


Seit über drei Jahrzehnten kommentiere ich jetzt zum Thema Migration. «Und was hat es genutzt?», fragen mich meine Journalistenschülerinnen und Journalistenschüler, bei denen ich Kommentar-Unterricht halte. Ja, was hat es genutzt? Das habe ich mich bei den aktuellen Nachrichten über den europäischen Asylkompromiss auch gefragt. Aber: Wenn man gegen den Strom schwimmt, kann man nicht erwarten, dass der Strom deswegen seine Richtung ändert. Soll, muss ein Kommentator so vehement Partei ergreifen? Ja! Aber nicht für eine politische Partei, sondern für eine Sache, manchmal auch für eine Person; für die Grundrechte vor allem und im Zweifel: für die Schwachen. 

Es geht es um mein Selbstverständnis als politischer Journalist. Darüber habe ich in meinem neuen Buch nachgedacht, das in zwei Wochen erscheint. Es heisst «Mensch Prantl. Ein autobiographisches Kalendarium». Es ist ein Bekenntnis zu einem Satz, der in der Präambel der Schweizerischen Verfassung steht und der mir seit jeher gut gefällt: «Die Stärke eines Volks misst sich am Wohl der Schwachen.» Das gilt auch für und in Europa.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien am 11. Juni 2023 als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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8 Meinungen

  • am 12.06.2023 um 12:51 Uhr
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    Ich würde gerne wissen was sich ändert mit dem EU Asylgesetz?
    Sobald diese die EU Grenze überschreiten sind sie in der EU.
    Und nun!
    Wo ist der Unterschied?

  • am 12.06.2023 um 19:22 Uhr
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    Sie sprechen mir aus tiefster Seele und tiefstem Geist! Danke von Herzen.
    Es hilft aus der Verzweiflung zu kommen. Wir sind vielleicht nicht die politische Mehrheit, aber sind nicht alleine.

  • am 12.06.2023 um 22:21 Uhr
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    Reichtum teilen oder einmauern: Sind das wirklich Alternativen?
    Ich unterstütze vollkommen die Haltung, dass die reichen Länder Ihren Reichtum deutlich mehr teilen sollten. Allerdings zeigt es sich immer wieder, dass es nicht so einfach ist, Elend in fremden Ländern zu bekämpfen. Geld alleine gerät sehr leicht in falsche Hände. Geld spenden, und dann auch gleich selbst dafür sogren, dass es «richtig», also nach unseren Vorstellungen, eingesetzt wird, kommt gefährlich nahe an eine Neuauflage des Kolonialismus.
    Ausserdem wäre es schon sehr optimistisch, zu glauben, dass eine Wirtschaftshilfe so rasch wirken könnte, dass innert einiger Jahre der Anreiz zur Ausreise in den armen Ländern deutlich gesenkt werden könnte.
    Für mich stellt sich auch die Frage: Hilft die wirtschaftlich motivierte Migration dem Herkunftsland der Migranten? Die Geldüberweisungen mögen willkommen sein. Dafür erleidet das Herkunftsland einen Verlust an leistungswilligen Menschen, meist im besten Erwerbsalter.

    • Favorit Daumen X
      am 13.06.2023 um 07:33 Uhr
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      Es geht wohl nicht in erster Linie um Hilfe, sondern um weniger Ausbeutung. Lesen Sie meine Schandpauke aus dem Jahr 2015.

      • am 13.06.2023 um 10:33 Uhr
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        Ja, natürlich, das wäre wichtig. Aber auch bei den ausbeuterischen Geschäften internationaler Firmen macht fast immer die örtliche Elite mit.
        Und selbst wenn es gelingen sollte, solche Machenschaften einzudämmen, würde sich die Situation nur langsam so weit verbessern, dass bleiben gleich attraktiv wäre wie auswandern.

  • am 12.06.2023 um 22:26 Uhr
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    Passt ins Zeitbild einer Gesellschaft, die sich immer stärker vom Rest der Welt isoliert, von Werten schwäzt und die anderen belehrt, wie sie zu leben haben. Die Antwort auf die Frage der Studenten, findet sich in der Zahl von Pros und Contras, die sich die Waage halten

  • am 13.06.2023 um 07:07 Uhr
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    Die wirklich Reichen werden keinen Reichtum teilen, das haben sie nie getan. Die meisten Menschen in Europa sind nicht reich; es gibt hier nichts zu verteilen. Sie gehen arbeiten, zahlen überhöhte Mieten und zu hohe Abgaben auf Lohnarbeit und versuchen, Altersarmut zu vermeiden. Viele meiner Generation haben weder Grund noch Eigentumswohnung, werden sich das bei den extrem hohen Preisen auch nie leisten können und leben in einer Vorstufe zum Prekariat: seit Jahren gibt es messbar sinkende Realeinkommen. Gleichzeitig betreiben die EU-Staaten eine unfassbare Verschwendung von Steuergeldern, Corona und Ukraine-Krieg sind hier exemplarisch. Herr Prantl darf gerne seinen Reichtum teilen, so viel er will, aber bitte keine Verallgemeinerungen aus seiner Moral ableiten, die nichts mit der Realität zu tun haben.

  • am 13.06.2023 um 07:35 Uhr
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    ‹Unseren Reichtum› – ich gehe davon aus, dass bei vielen nach dem Bezahlen der Rechnung nicht mehr viel ‹Reichtum› da ist, den sie teilen könnten. Dass es Migration braucht und die auch positiv ist, bestreiten nur wenige. Aber die Massenmigration aus Asien und Afrika kann auf Dauer auch keine Lösung sein, allerdings ist ‹abschotten› auch keine praktikable Lösung.
    Wenn unser Staat findet, er müsse ’seinen Reichtum› unbedingt teilen, dann wäre wohl die finanzielle direkte Hilfe vor Ort die Lösung. Anstatt dass die Leute hierherkommen und dann in der Sozialhilfe landen, zahlt man (dem Land entsprechende) Sozialhilfe direkt vor Ort aus. Das verhindert nicht nur gefährliche Migration sondern kurbelt auch noch die Wirtschaft in dem Land an.
    So wäre allen gedient.

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