Kommentar

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Kurt Marti

Pirmin Meier* ©

Pirmin Meier /  Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti würde am 31. Januar hundert Jahre alt. Er starb 2017 im Alter von 96 Jahren.

Red. Dieses Essay zum 100. Geburtstag von Kurt Marti schrieb Pirmin Meier. Der Autor und Publizist Meier wurde 2008 mit dem Innerschweizer Kulturpreis ausgezeichnet.

Kurt Marti, geboren am 31. Januar 1921, abgedankt 2017 im Berner Münster, war als Theologe der Erfinder der Dreieinigkeit im Sinne einer «Geselligkeit Gottes»; als Lyriker ein Wegweiser der Mundart zu neuen Pfaden («Rosa Loui»); als Erzähler ein Meister der kurzen Formen («Dorfgeschichten»). Als disziplinierter, meist präziser Schreiber nicht Vorbeter, sondern Mitbürger seiner Leserschaft. 

Selbst im journalistischen Metier wusste er Massstäbe zu setzen. Fast unbekannt ist seine diesbezügliche Leistung mit 252 (!) Kolumnen in einer selbst von kritischen Viellesern kaum konsultierten Zeitschrift. Wer ausser Pfarrherren und Pfarrfrauen las schon «Reformatio»? Eingestellt 2010. Wenn ich jedoch diesen Kurt Marti entdecke, muss ich abermals aufhorchen. 

So entnimmt man einem Beitrag über psychiatrische Abklärungen, wie brutal parteiisch zur damaligen Zeit sogenannte Gutachten ohne Direktgespräch mit dem Betroffenen abgefertigt werden konnten.  Marti analysiert aus der Hauszeitung der Strafanstalt Lenzburg (3. Dez. 1970) dicht mit Zitaten einen offen liegenden Missstand; differenziert, jenseits bloss gefühliger Solidarität mit dem Schwächeren. 

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Insofern muss der damals umstrittene Kurt Marti weniger über Teilnahme an Demonstrationen oder zum Teil alarmistische öffentliche Äusserungen über Waldsterben und Atomtod beurteilt werden. Die Qualität der Kolumnen in «Notizen und Details 1964 – 2007» spricht fast immer für sich. In Texten um Kranke und Sterbende erfahren wir etwas vom pastoralen Hintergrund von Martis poetischen «Leichenreden» (Neuausgabe 2004 mit Nachwort P. Bichsel). Die dort artikulierte Phrasenkritik hat wohl dazu beigetragen, die Formel «Es hat Gott gefallen» bei Todesanzeigen zum Verschwinden zu bringen.  

Dass «Reformatio» so lange durchhielt, war wohl ihrem über Jahrzehnte prägenden Kolumnisten zu verdanken. Im Geburtsjahr seines Sohnes Lorenz (1952) wirkte Marti in Niederlenz bei Lenzburg. Auf dem Staufberg predigte er in einer der ältesten Bergkirchen des Mittelandes, einem «Kraftort», welches Wort er aber erst in seinem «Tagebuch mit Bäumen» (1985) verwenden wird, analog zu «Weibheiligkeit»: einem bei Franz von Baader und Paracelsus vorbereiteten Terminus ökologisch orientierter Gläubigkeit. 

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Anders als sein im März 2020 unerwartet verstorbener Sohn Lorenz benützte der Vater das heutige Modewort «Spiritualität» sparsam. In der Kolumne, «Für einen aufklärenden Protestantismus» (2007), gibt er einer aus der Kirche ausgetretenen Christin die Gemeindepraxis der Schweizer Reformierten zu bedenken, die einen nüchternen, vernünftigen Glauben zulässt. 

Im Buch «O Gott!» (1986) bekennt er, auch bei freier Wahl «erneut für den christlichen Glauben evangelisch-reformierter Spielart» optieren zu wollen. Diesbezüglich widerfuhr ihm aber vom Agnostiker Robert Mächler Widerspruch. Der Briefwechsel der beiden, 2002 von Werner Morlang abermals veröffentlicht, bleibt lesenswert. Mächler musste sich in dieser Debatte den Vorwurf des Fundamentalismus gefallen lassen, weil er auch als unpolemischer Religionskritiker über das Bedingungslose und Unheimliche des von Jesus angedrohten Weltgerichts nicht hinweghören wollte.

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In Niederlenz, wo die Kinder der Familie Marti zur Welt kamen, zeigte der Poet, dass ein Heimatgedicht weder kitschig noch antimodern missraten muss: das lyrische Porträt einer Dorfhebamme. Desgleichen wird der Prosaist in «Högerland» einem Strassendorf wie Kriechenwil seine Reverenz erweisen. 

Statt für den allzu moralistischen Gotthelf schwärmte er seit der (freiwilligen) Maturareise ins nationalsozialistische Weimar lange für den elitären Stefan George. In alten Tagen leistete der Gotthelf-Muffel in Lützelflüh Abbitte. Spätestens bei der «Wassernot im Emmental» leuchtete ihm auf, welch gewaltige Öko-Visionen der Pfarrer-Vorgänger in Literatur umgesetzt hat. 

Marti wäre aber nicht Marti, hätte er nicht expliziter als Pfarrer Bitzius menschliche Umweltsünden wie Abholzen von Wäldern als moralische Ursachen der angeblichen Gottesstrafe beklagt. Das Herumwüten des Allmächtigen passte dem Karl-Barth-Schüler Marti je länger desto weniger in seine mit Vernunftgebrauch verquickte Theologie. 

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Beim jahrelangen methodischen «Durchpredigen» des gesamten Markus-Evangeliums vor Berns Nydegg-Gemeinde hatte er aber eine noch traditionellere Theologie vermittelt, was Mächler ihm vorhielt. Meine eigenen, bescheideneren Kontakte mit Marti hatten damit zu tun, dass er mich wegen meiner Rezeption des für ihn «unsäglichen» Beat Jäggi zwar einer ärgerlichen Heimatfraktion zurechnete, andererseits auf verschüttete Befunde bei der Erkundung volkskundlicher Gegebenheiten unbändig neugierig war. Mit meinem Konservatismus hatte er deswegen nicht weniger Geduld wie mit dem euphorischen, ihm keineswegs gemässen Marxismus unseres gemeinsamen Bekannten Franz Keller (1913 – 1991). Kurt Marti der Grosse, ein in Gott Neugieriger, verdient zu seinem 100. weiterhin unsere lesende Aufmerksamkeit.

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Eine Meinung zu

  • am 16.01.2021 um 18:37 Uhr
    Permalink

    Danke. Ja es gibt sie noch, die Theologen welche weiter denken als erlaubt. Theologen in welchen sich die großen Fragen des Lebens treffen, und dabei die einfachen vorverdauten Antworten scheuen. Sie leben weiter, auch wenn der Körper der Macht der Natur folgte. Umso mehr, wenn sie die Sprache gesprochen haben, welche den Geist des Lesers erhebt und über den Tellerrand schauen lässt. Da kommt mir doch Cornelius Koch in den Sinn, Buch: Ein unbequemes Leben. Auch einer der weiter gedacht hatte als andere. Auf andere Weise, an anderen Orten, aber aus demselben Holze geschnitzt.

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