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Kretschmann: Einsatz nicht nur für grüne Energie, sondern auch für eine energische Konservative. © Bündnis 90/Die Grünen

Winfried Kretschmann ist Fan von Jeanne Hersch

Jürg Lehmann /  Der Grünen-Politiker und baden-württembergische Ministerpräsident hält in Zürich einen Vortrag über die Genfer Philosophin.

WInfried Kretschmann spricht am 6. September in der Aula der Zürcher Universität über «Jeanne Hersch und die Politik heute». Er tut dies im Rahmen eines «Staatsbesuchs» im Kanton Zürich. Dass er öffentlich über die streitbare Philosophin spricht, zeugt von seinem hohen Respekt gegenüber der im Juni 2000 knapp neunzigjährig verstorbenen Genferin. Kretschmann selber war einst Protagonist des ökolibertären Flügels der Grünen und gilt als liberal-konservativer Vordenker der Partei. Der Regierungschef ist, das ist wenig bekannt, Mitglied der Jeanne Hersch-Gesellschaft mit Sitz in Zürich.

Die Gesellschaft wurde 2009 im Hinblick auf den 100. Geburtstag der Philosophin am 13. Juli 2010 und den entsprechenden Aktivitäten gegründet. Initiantin war die ehemalige Zürcher Stadt- und Ständerätin Monika Weber. Sie hatte in den frühen siebziger Jahren bei Hersch in Genf studiert und war beeindruckt von ihrer Haltung zum Menschsein und der Verantwortung, die die Tochter polnisch-jüdischer Immigranten daraus ableitete. Weber sichtete in der Zürcher Zentralbibliothek auch den Nachlass von Jeanne Hersch, der aus 28 Laufmeter Kartonschachteln besteht. Sie wählte 20 Vorträge für einen Sammelband aus, den sie und die Basler Philosophin Annemarie Pieper herausgaben.

Erste Philosophieprofessorin der Schweiz

Jeanne Hersch wurde 1956 in Genf die erste Philosophieprofessorin der Schweiz. Manfred Papst schrieb am 11. Juli 2010 in der NZZ am Sonntag: «Als solche wirkte sie vor allem vermittelnd. Sie entwickelte kein eigenes Denksystem, sondern vertrat die Existenzphilosophie ihres bewunderten Lehrers Karl Jaspers.» Berühmt wurde sie in der Schweiz mit ihren Aufsätzen, Vorträgen und Radiosendungen. Der Genfer Kollege und Ex-Nationalrat Jean Ziegler sagte über Hersch: «Sie war eine der grössten Philosophen, die die Schweiz je hatte, auch wenn ich keine einzige Meinung mit ihr teilte.» Beide waren in der SP, beide waren wie Feuer und Wassser: Hier der linke, revolutionäre Soziologe Ziegler, dort die wert-und rechtskonservative Philosophin Hersch.

Feindbild der Jugendbewegungen

Hersch setzte sich für die friedliche Nutzung der Atomenergie und für eine ausreichend bewaffnete Armee ein. Im Zweiten Weltkrieg hatte sie sich zum Frauenhilfsdienst (FHD) gemeldet; später kam aus, dass sie Mitglied der geheimen Widerstandsorganisation P-26 war. Den anti-autoritären Jugendunruhen von 1968 und 1980 konnte sie gar nichts abgewinnen (»Die Lehrer sind keine Copains! Die Eltern sind keine Copains!»). Sie wurde zum Feindbild, ihre Vorträge und Auftritte wurden gestört oder sogar verhindert.

»Für die SP war Jeanne Hersch ein Stress», sagt Monika Weber. Zum Bruch mit der Partei kam es 1992 im Zusammenhang mit der liberalen Drogenpolitik der SP. Ziegler dagegen ist nach wie vor dabei. Wie intensiv sich Hersch mit Ziegler beschäftigt haben muss, zeigt allein schon die Tatsache, dass vier Schachteln des Nachlasses mit Material über Ziegler auf Veranlassung von Hersch gesperrt sind, wie Monika Weber erklärt.

Kretschmann überreichte Gauck Hersche-Werke

Was wird der grüne Regierungschef Kretschmann auf diesem Hintergrund über «Jeanne Hersch und die Politik» an der Uni Zürich sagen? Man wird sehen. Jedenfalls: Als der neue Bundespräsident Jochaim Gauck Baden-Württemberg besuchte, überreichte ihm Kretschmann ein Paket mit zehn Büchern von Jeanne Hersch.

Ihn und Gauck verbinde eine gemeinsame Vorliebe für Philosophie, sagte Kretschmann in seinem Amtssitz. Das hätten sie kurz vor der Bundespräsidentenwahl im Gespräch entdeckt. Später zitierte der Grünen-Politiker einen seiner Lieblingssätze von Hersch: «Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung.» Es sind Aphorismen wie dieser, die Hersch bekannt gemacht haben. Es gibt eine ganze Reihe solcher einprägsamer Sätze:

• Es gibt keine Treue ohne Veränderung. Es gibt keine Veränderung ohne Treue.

• Es gibt keine Wahrheit, ausser ich engagiere mich dafür.

• Es ist nicht gut, wenn in einer Demokratie nur einer spricht.

• Wir sollten der EU (Red. damals EG) dankbar sein, dass sie existiert.

• Erziehung aufgeben würde bedeuten, dass man es aufgibt, Mensch zu sein.

• Macht als Mittel zum Zweck der Gerechtigkeit ist erlaubt. Hingegen ist die Macht als Ziel und Zweck gefährlich.

Gerade in solchen schnörkellosen Gedanken zu Freiheit, Demokratie und Frieden, die sie unbeirrt vom herrschenden Zeitgeist äusserte, zeigt sich Herschs Werteverständnis. Das nötigt auch dem politischen Zürcher Philosophen Georg Kohler Bewunderung ab. Im Umfeld der Jubiläumsfeierlichkeiten schrieb er den Satz: «Man muss sie als Mutter Courage der Philosophie wahrnehmen und respektieren.»

Roman über die «Erste Liebe»

Unter den Büchern, die Jochaim Gauck von Winfried Kretschmann erhielt, war auch der einzige Roman, den Jeanne Hersch schrieb: »Erste Liebe.» Er wurde 1942 unter dem Titel «Temps alterné» erstmals auf Französisch veröffentlicht, 1975 in einer gekürzten Ausgabe auf Deutsch publiziert und im Jubiläumsjahr von Charles Linsmayer neu und vollständig übersetzt herausgegeben. Linsmayer hat dem Roman ein fast hundertseitiges biographisches Nachwort über Jeanne Hersch angehängt.

Der Roman handelt von der ersten Liebe einer jungen Frau zu einem wesentlich älteren Mann und von der Leidenschaft, die die Frau auch nach der Trennung umtreibt. Kaum vorstellbar, dass Jeanne Hersch – diese unerbittliche Erscheinung mit ihrer streng hinter dem Kopf verknoteten Frisur – in jungen Jahren einen derartigen Sehnsuchtsroman geschrieben haben soll. Doch der Roman trägt autobiographisch Züge. Jeanne Hersch war von 1932 an mit dem fast 30 Jahre älteren, verheirateten Genfer Literaturprofessor und späteren SP-Staatsrat André Oltramare bis zu dessen Tod 1947 liiert.

Pläne für Natioanales Forschungsprogramm

Jetzt soll das philosophische Frühwerk der Genferin seine wissenschaftliche Würdigung erfahren. Zumindest strebt das die inzwischen 200 Mitglieder starke Jeanne Hersch-Gesellschaft an. Monika Weber und Annemarie Pieper wollen zusammen mit dem Basler Schwabe-Verlag ein Gesuch für ein Nationales Forschungsprogramm (NFP) auf die Beine bringen. Zuerst wolle man dafür einen Programmleiter gewinnen, sagt Weber. Winfried Kretschmann könnte das wohl übernehmen. Aber er ist zur Zeit nicht verfügbar…

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2 Meinungen

  • am 4.09.2012 um 12:28 Uhr
    Permalink

    Streitbar
    Jeanne Hersch war eine streitbare Dame und vertrat innerhalb der SP den morschen rechten Flügel, den wir heutigen Mitglieder dieser Partei lieber amputieren oder zumindest überwinden würden. Schön, dass der Verfasser dieses Beitrages auch auf den Konflikt mit Jean Ziegler hingewiesen hat. Fehlt nur noch die saftige Information, dass sich Professorin Hersch seinerzeit aktiv gegen die Professur von Jean Ziegler an der soziologischen Fakultät der Uni Genf gewehrt hatte. Diese streitbare Dame hatte es nicht nur verpasst, ein eigenes Denksystem zu entwickeln, sondern ihre philosophischen Aktivitäten bestanden nebst einiger interessant klingenden Aphorismen vorwiegend in der geistigen Konservierung und nach 1968 in der Restauration alter Denk- und Machtstrukturen. Was nun der Baden-Württembergische Ministerpräsident bezweckt, diese alte Dame aus dem Vergessensein – wo sie hin gehört – zu erwecken, ist nicht nur schleierhaft, sondern in Anbetracht aktuellerer Philosophen aus dem eigenen Lande höchst verdächtig. Ob da die Grüne Partei keinen Handlungsbedarf zu erkennen vermag?

  • am 10.09.2012 um 13:44 Uhr
    Permalink

    Ja, Herr Roggwiler ich stimme absolut zu. Man muss sich natürlich nicht wundern, denn die Taliban-Ideen kommen ja ursprünglich von Calvin aus Genf. Die Calvin AktivistIn Maurer hatten wir noch nicht solange im Zürcher Stadtrat. Die Grünen sind zu grün um festzustellen, von welchen Extremisten sie unterwandert sind oder werden…

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