Sprachlupe: «Räbeliechtli» zündet ins grammatische Dunkel
Als spürten sie die trüben Zeiten, leuchten die Räbeliechtli dieses Jahr besonders hell. Sie haben aber auch einen speziellen Grund dazu: Am 11. 11. galt dem Wort Räbeliechtli der «DWDS-Artikel des Tages». Mit dieser Rubrik macht das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache Lust zum Stöbern, wozu es vielfältige Möglichkeiten bietet. Bei Räbeliechtli wurde meine Laune ursprünglich dadurch getrübt, dass als Plural Räbeliechtli(s) stand. Neben dem auch in Mehrzahl unveränderten Wort wäre also etwa «Umzug mit den selbst geschnitzten Räbeliechtlis» gebräuchlich; das als Beleg angeführte Zitat stammt (ausgerechnet) aus dem «Boten der Urschweiz». Wenn Dialektwörter mit einem Mehrzahl-s versehen werden, ist das zwar kein Weltuntergang, aber mir löscht’s dann ab.
Bei Duden steht das Wort nur im Spezialband «Schweizerhochdeutsch». Es trägt den Vermerk «mundartnah» und kein Schluss-s im Plural. Wohl aber im Genitiv, also «des Räbeliechtlis». Das kann man damit rechtfertigen, dass es den Wesfall in der Mundart ja gar nicht gibt und man sich deshalb an die schriftsprachliche Form anlehnen kann. Aber die Mehrzahl auf -s stört wohl nicht nur mich – im Schweizerdeutschen sowieso, aber auch bei der Übernahme ins Schriftdeutsche. Vielleicht meinte beim «Boten» jemand, mit s am Schluss sehe das Wort «hochdeutscher» aus.
Götti klärt auf
Der Duden «Rechtschreibung» kennt Räbeliechtli nicht, weder mit noch ohne s im Plural. Aber es gibt als Kasten zu Götti eine allgemeine Erklärung: «Schweizer Substantive mit der Endung -(l)i haben ursprünglich nur eine einzige Form: der Götti, des Götti, mehrere Götti, mehreren Götti; des Müsli, zwei Müsli. Finden sie Eingang in den allgemeinen deutschen Wortschatz, so können sie im Genitiv und manchmal sogar im Plural die Endung s erhalten: des Götti[s], die Götti[s].» Mit Müsli ist nicht etwa eine kleine Maus gemeint, sondern das nach Norden und Osten ausgewanderte Müesli. Immerhin ist auch die «schweizerische Form» verzeichnet, mit e und stets ohne Plural-s.
Räbeliechtli dürfte trotz der Hervorhebung im DWDS nicht so bald in den «allgemeinen deutschen Wortschatz» eingehen. Deshalb habe ich die Redaktion des Wörterbuchs in Berlin darauf aufmerksam gemacht, dass das Plural-s im Widerspruch zum Duden «Schweizerhochdeutsch» steht. Schon am nächsten Tag erhielt ich einen erfreulichen Bescheid und zugleich einen Einblick in die Arbeitsweise: Man ging über die Bücher – und das sind dort Korpora, also elektronische Textsammlungen. In der rechten Spalte der Einträge findet sich das Verzeichnis der verfügbaren Korpora samt Angabe, in welchen davon wie viele Belege für das gesuchte Wort stehen – und man kann diese Zitate aufrufen.
Schwellenwert verfehlt
Bestimmte Schwellenwerte sind nötig, damit ein Wort einen Eintrag bekommt, und bei unterschiedlichen Formen geben wiederum bestimmte Teilwerte den Ausschlag. Für «die Angabe, dass beim Stichwort ‹Räbeliechtli› auch das Plural-s möglich ist», hatte das DWDS nicht nur beim zitierten «Boten der Urschweiz» Belege gefunden. Die Überprüfung ihrer Anzahl ergab nun, dass diese «knapp unter dem Schwellenwert» lag; das (eingeklammerte) Plural-s wurde daher aus dem Eintrag Räbeliechtli entfernt und das Beispielzitat mit Schluss-s als «ungewöhnl. Pl.» markiert, fett und rot.
Sucht man via rechte Spalte weitere, nicht im DWDS-Artikel zitierte Belege für Räbeliechtli mit und ohne s, so zeigt sich: Auch der «Bote der Urschweiz» bildet die Mehrzahl häufiger ohne. Umso heller leuchten jetzt die Räbeliechtli. Sie zeigen den Weg zu weiteren Schweizer Verkleinerungsformen in deutschen Wörterbüchern, auch wieder zu solchen mit Plural-s – aber darüber ein andermal. Beim DWDS lässt sich eine Liste von Wörtern auf -li generieren. Wenn Sie von dort aus etwas Fragwürdiges finden, schreiben Sie es mir bitte.
Weiterführende Informationen
- «Sprachlupe» zu Schulhof/Pausenplatz mit geografischer Suche im DWDS.
- Indexeintrag «Helvetismen/Hochdeutsch» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im heruntergeladenen PDF.
- Quelldatei für RSS-Gratisabo «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
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Herr Goldstein, wenn in meiner Umgebung jemand einen solchen «-li»-plural mit «s» bildet, habe ich nicht den Eindruck, die Sprechenden wollten besonders hochdeutsch klingen. Eher im Gegenteil: ich denke, es ist ein Anglizismus. Dabei ist den Sprechenden meist durchaus bewusst, dass das «falsch» ist, aber solche absichtliche Fehler sind ja dann ein Stil- resp. Ausdrucksmittel. Die Frage wäre dann doch interessant, wie der Duden damit umgeht. Wenn dieses Mittel häufig eingesetzt wird, könnte ja, wegen des Schwellenwerts, der Eindruck entstehen, die Form sei korrekt. Sie ist aber nur (häufig) in Gebrauch, gerade WEIL sie falsch ist.
In meiner Mundart-Umgebung kommen solche -lis zum Glück kaum vor. Sie fallen mir nur ab und zu in schriftdeutsch gemeinten Texten auf; da wäre ein Anglizismus-Verdacht schwierig zu erhärten. Der Duden verfährt ähnlich wie das im Text beleuchtete DWDS: Wenn solche Pluralformen in den beigezogenen elektronischen Textsammlungen einen bestimmten Anteil erreichen, kommen sie ins Wörterbuch. Erwägungen über richtig oder falsch werden kaum noch angestellt.
Früher bezeichnete der Duden «gewunken» ausdrücklich als falsch, heute steht für ihn diese Form «häufig auch» anstelle von «gewinkt». Als «falsch» sind nur etwa «bestmöglichst» und «grösstmöglichst» gebrandmarkt und einzelne häufige Tippfehler wie «Apartheit», wenn es nicht um etwas Apartes geht. Der Rat für deutsche Rechtschreibung, der amtsverbindliche Regeln festlegen kann, führt in seinem Wörterverzeichnis nur Grundformen auf, keine gebeugten. Eine verbindliche Pluralregel für Wörter auf «-li» ist also nirgends in Sicht.