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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Eigenverantwortung, zu Dummheit mutiert

Daniel Goldstein /  Ein Auto-Aufkleber* gegen das Covid-Gesetz bestätigt den zunächst befremdenden Befund einer Psychiaterin.

Eigenverantwortung – wer könnte denn dagegen sein? Für sein eigenes Tun und Lassen verantwortlich zu sein, ist doch eine wesentliche Grundlage jedes zivilisierten Zusammenlebens. Und eine unabdingbare Voraussetzung für ein von unten nach oben aufgebautes Staatswesen wie die Schweiz: «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.» Das Gotthelf-Wort nimmt das Subsidiaritätsprinzip vorweg, das hierzulande für die politischen Zuständigkeiten gilt: Was Einzelne besorgen können, sollen sie nicht vom Staat erwarten – und wo es diesen braucht, soll er möglichst nah am «Hause» agieren, zunächst in der Gemeinde, wenn nötig im Kanton, wenn unerlässlich im Bundesstaat oder gar international. Eigenverantwortung hochzuhalten, ist demnach für die Schweiz so selbstverständlich wie für die USA «Mutterschaft und Apfelkuchen». Die Redensart weist indes auch darauf hin, dass derlei Bekenntnisse ins Banale abgleiten können.

Buchautorin befindet: «Blödsinn»

Auszuhandeln, wo es über die Eigenverantwortung hinaus staatliche Regelungen braucht und auf welcher Stufe, ist eine Daueraufgabe der Politik. In jüngerer Zeit ist «Eigenverantwortung» auch zum billigen Schlagwort für «weniger Staat» geworden, ganz besonders beim Umgang mit der Pandemie. Absolut gesetzte Eigenverantwortung kann sogar als Synonym für Dummheit verstanden werden. So tat es die Psychiaterin Heidi Kastner, Autorin des Buchs «Dummheit», im Gespräch mit der «SonntagsZeitung» (7. 11. 2021): «Das zentrale Merkmal von dummen Leuten ist, dass sie ausschliesslich die eigene Position priorisieren und alles andere ignorieren. Das sieht man auch in dieser Corona-Pandemie, wo die Leute sagen: ‹Ich bleibe ganz bei mir.› Da ist ständig von Eigenverantwortung die Rede. (Das) heisst: Ich schaue nur für mich selbst und nicht für die anderen. Das kann nur funktionieren, wenn ich als Eremit irgendwo völlig isoliert in einer Höhle lebe. Dann (…) bin ich für mich verantwortlich und für keinen anderen. Aber sobald ich in einen grösseren sozialen Kontext eingebettet bin, ist dieses Unwort der Eigenverantwortung einfach ein völliger Blödsinn. Die Corona-Pandemie ist unglaublich ergiebig für das Thema Dummheit.»

Rücksicht verklebt

Auch wenn mir Kastners Logik einleuchtete, sträubte ich mich gegen diesen jähen Wandel von der Staatsmaxime zum «völligen Blödsinn». Ich liess mir noch einfallen, recht verstandene Eigenverantwortung werde eben nie absolut gesetzt, vielmehr wie die Freiheit dort begrenzt, wo die Freiheit bzw. Eigenverantwortung der andern beginnt. Doch dann erschlug mich der Kampfruf «Gefährliche Covid-Verschärfung NEIN» – als Aufkleber, der eine ganze Auto-Rückscheibe einnahm. Stimmen wir denn nächstens darüber ab, ob sich die Pandemie verschärfen darf? So dumm, das zu meinen, war wohl nicht einmal, wer sich die Rücksicht verklebt hatte. Aber vielleicht so durchtrieben, Leute zur Nein-Stimme zu verlocken, weil sie doch Covid eindämmen möchten. * Dass mit «Covid-Verschärfung» nicht die Seuche, sondern das Gesetz gegen diese gemeint war, stellten immerhin Inserate mit der gleichen Schlagzeile klar. Die angebliche «Verschärfung» umfasst erweiterte Finanzhilfen, mehr Tests (teils gratis) und das Zertifikat. Selbst dieses kann man auch als Erleichterung sehen – für Leute, die damit an sonst gesperrte Orte dürfen.

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* Fehlerhaftes Wort in der Einleitung sowie Schluss des Texts geändert, nach Hinweis eines Lesers (siehe vierten Kommentar und Antwort darauf).


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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14 Meinungen

  • am 20.11.2021 um 07:23 Uhr
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    Eigenverantwortung ist ein neoliberaler Kampfbegriff. Sollte ich mein Leben eigenverantwortlich gestalten müssen, hätte ich einen in Stunden, bestenfalls in Tagen messenden Horizont. Kein moderner Mensch ist in der Lage, sich mit Lebensnotwendigen, z.B. mit Strom, Lebensmittel oder Kleidung zu versorgen.
    Eigenverantwortung ist eine leere Worthülse, die eine nicht verantwortete gigantische Infrastruktur dazu denkt. Das Wort ist so schwachsinnig wie das Wort ‹Psychiaterin›. Die deutsche Sprache wird derzeit von einer Flut ausgedachter sinnentleerter Wort überschwemmt.

    • am 21.11.2021 um 23:44 Uhr
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      Vieles ist Eigenverantwortung und vieles nicht. Wir haben vieles in der eigenen Hand und vieles auch nicht. Wir können uns Erfolge anrechnen, und müssen uns Versagen eingestehen, auch wenn es schmerzt, und wir müssen glückliche und weniger glückliche Schicksale akzeptieren. Es braucht den eigenen Verstand, um das eine vom andern zu unterscheiden. Das ist keine Worthülse. Wir müssten so ehrlich sein, zu entscheiden, was wir tun und lassen können, und was schlicht unsere Grenzen übersteigt. Wie hätten wir vor zweihundert Jahren beispielsweise eine Lungenentzündung überstehen können, und wie könnten wir sie heute überstehen? Der Beispiele gäbe es unzählige. Wieso habe ich da in meinem Leben keine oder eine falsche oder richtige Entscheidung getroffen?

  • am 20.11.2021 um 09:48 Uhr
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    Meiner Ansicht nach kann Eigenverantwortung niemals ein Unwort sein. Was Frau Kastner sagt, ist in einer Ellenbogen-Gesellschaft wie der unseren ohnehin utopisch. Und ich für meinen Teil habe bereits als kleines Mädchen gelernt, dass ich für mich selbst schauen muss. Sowie für meine kleine Schwester. Mir muss niemand mehr mit Solidarität kommen. Ich wurde als Kind/Jugendliche mehr als ein Jahrzehnt lang geschlagen, vernachlässigt, gedemütigt sowie vergewaltigt. Innerhalb meiner «Familie» und deren Umfeld. Meiner Schwester und mir hat niemand geholfen. Auch jetzt widerfährt uns keine Gerechtigkeit. Ganz ehrlich, ich fühle mich gegenüber unserer Gesellschaft, in der jedes Jahr zigtausende Kinder vergewaltigt werden, zu überhaupt nichts mehr verpflichtet. So eine Gesellschaft kann meinetwegen, inklusive mir, untergehen.

  • am 20.11.2021 um 12:11 Uhr
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    «Es stellte zwar klar, dass es um eine «Verschärfung» der Massnahmen gehe – aber mit der falschen Behauptung, das Covid-Gesetz, das es schon gebe, sei von der Abstimmung nicht betroffen. Dabei geht es durchaus ums Ganze, diesmal mit den Änderungen, die noch nicht dabei waren, als die Gegner ihr erstes, erfolgloses Referendum lancierten.»
    Irgendwie passt dieser Text nicht zu dem auf:
    https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/dokumentation/abstimmungen/covid-19-gesetz.html
    » Stimmen wir über dasselbe ab, wie am 13. Juni?
    Nein. Wir stimmen nicht nochmals über das Covid-19-Gesetz als Ganzes ab, sondern nur über die Änderungen vom 19. März 2021.»
    Aber wen kümmert’s, seit dem Lesen des Textes bin ich eh dumm.

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 20.11.2021 um 13:54 Uhr
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      Vielen Dank, Herr Baier, Sie haben recht. Da ist mir eine Dummheit passiert; ich habe nun die Einleitung und den Schluss meines Texts angepasst und bitte alle, die ihn vorher gelesen hatten, um Entschuldigung.

  • am 20.11.2021 um 12:34 Uhr
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    Das Problem ist, dass die überwältigende Mehrheit die Massnahmen zur Eindämmung von Covid viel stärker wahrnehmen und spüren als die unmittelbaren Auswirkungen des Virus. So kommt es zu diesen sprachlichen Verwirrungen. Viele Leute überstehen eine Infektion mit leichten Symptomen – oder sie nehmen sie gar nicht wahr (auch die Tatsache, dass sie ansteckend sind für andere, wird deshalb oft ignoriert). Das ist das Perfide an dieser Pandemie: Der Mensch ist nicht nur Opfer, sondern auch Zwischenwirt.

  • am 20.11.2021 um 12:57 Uhr
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    Seit Jahren argumentiert mitte – rechts bei Abstimmungen, die sie als gewerbefeindlich ansehen, mit dem Schlagwort Eigenverantwortung um ihre Basis zu mobilisieren. Also nichts aus neuster Zeit.

  • am 20.11.2021 um 15:13 Uhr
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    Fragt man nach den Gründen, weswegen sich Leute impfen lassen, sind wir wohl bei 90% «damit ich wieder ins Kino/Restaurant/… gehen kann.» Die Leute lassen sich nicht aus sozialen Gründen impfen, sondern aus egoistischen. Das scheint Heidi Kastner da aber irgendwie auszublenden.

    • am 21.11.2021 um 06:59 Uhr
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      ‹Die Leute lassen sich nicht aus sozialen Gründen impfen, sondern aus egoistischen›
      Damit charakterisieren Sie Ihr Milieu, aber nicht das Gros der Bevölkerungen. Der Entscheid zum Impfen ist allerdings auch kein sozialer, sondern ein politischer oder ethischer. Ich liess mich impfen, um meinen Teil der Abmachung mit dem Staat, der mich schützt zu leisten. Ich hätte mich auch impfen lassen, wenn der Impfstoff sehr viel riskanter oder die Vorteile wesentlich geringer wären.
      Es ist ein politischer, kein gesundheitlicher, kein sozialer und kein privater Entscheid.

      • am 22.11.2021 um 06:28 Uhr
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        Gibt ja genug Umfragen, weswegen sich die Leute impfen lassen. Die überwältigende Mehrheit tut es, damit wieder Party gemacht werden kann.

  • am 21.11.2021 um 11:54 Uhr
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    Wenn es so wäre, dass Imfpen der ganzen Geschichte ein Ende bereiten würde, dann wäre Nicht-Impfen egoistisch. Es ist aber weitgehend Konsens, dass diese Annahme falsch ist.

    Wenn es erwiesen wäre, dass Impfen für alle ein günstiges Verhältnis von Nutzten zu Risiken hätte, dann wäre Nicht-Impfen dumm. Diese Frage ist aber für Nicht-Risikopatienten keineswegs geklärt. Die schwedischen Behörden sind jedenfalls zum Schluss gekommen, dass das Risiko einer Moderna-Impfung für unter 30-Jährige den Nutzen überwiegt. Die Schweizer Behörden nehmen dazu nicht ernsthaft Stellung und sind damit für mich weniger glaubwürdig als die schwedischen.

  • am 21.11.2021 um 22:27 Uhr
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    Heidi Kastner darf also die Andersdenkenden als dumm titulieren. Wenn aber ein einfacher Kommentarschreiber darauf hinweist, dass psychologische Abhandlungen, basierend auf unzutreffenden Annahmen, auch dumm sein könnten, dann wird es zensuriert. Warum?

  • am 22.11.2021 um 12:57 Uhr
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    Zitat von oben: „ Eigenverantwortung hochzuhalten, ist demnach für die Schweiz so selbstverständlich wie….“ Zitat Ende. Das ist so. Und gilt als Wahrheit. Gilt aber nicht für die alt bekannten Ideologen, die den Staatsapparat zum dominierenden, umsorgenden, „Muttermilch spendenden“ „Väterchen Staat“ erheben. UDSSR UND DDR sind daran gescheitert… und viele mehr… Von der mir lieb gewordenen Sprachlupe bin ich zutiefst enttäuscht. Mit dem überbordenden Gebrauch vom abschätzigen Begriff Dummheit, vom Sinn und Notwendigkeit der Eigenverantwortung abzulenken, weicht mir zu sehr von dem ab, wie ich die Sprachlupe bisher sehr geschätzt habe. Als eigenverantwortlicher und „Geimpfter der ersten Stunde“ bleibe ich dem Prinzip Eigenverantwortung treu und sage Nein zu ideologisch geprägtem Muskelzucken und halbintellektuellem Blah…. Blah… Damit übernehme ich Verantwortung für unseren Bundesstaat, unserer Verfassung und für mich.
    Noch ein neckischer Gedanke zum Begriff Dummheit….. die gegenteilige Eigenschaft von Dummheit ist Intelligenz oder auch Schlauheit. Über die Dummheit anderer zu philosophieren, bleibt auf halben Weg stecken. Halbschlau wird’s in der wohlgehüteten Umgangssprache genannt. Mit dem nötigen Respekt will ich das nicht verletzend verstanden wissen….. und werfe demnächst ein Nein -in Eigenverantwortung- ein…. und verteidige damit unsere Verfassung. Das ist ein staatspolitischer Akt. Fernab vom Problem Corona.

  • am 22.11.2021 um 21:48 Uhr
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    Nun ja:
    • Mit Millionen verschlingenden Kampagnen versucht der BR die Nichtgeimpften zu überzeugen, dass nur das Impfen nützt.
    • Und den Geimpften ruft er zu, sich «Boostern» zu lassen, da die Impfung nicht (mehr) wirkt.
    • Und mir Gesundem verbietet er den Zugang zum Sportstudie, mit dem Ziel dass ich auch noch krank werde?
    Von all den anderen BAG-Irrungen (ab «Maske nützt nichts») hier zu schreiben, «nützt nichts», solange die Verantwortlichen dort zur Hauptsache «politisch gut vernetzt» sind/sein müssen.

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