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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Das neue Erbrecht lautet «erbrecht!»

Daniel Goldstein /  In «Vaters Kiste» findet Lukas Bärfuss Dokumente über einen Schuldenberg, der ihn zu radikalem Überdenken des Erbens bringt.

«Many a true word is spoken in jest.» Das englische Sprichwort geht in Vorformen bis ins 14. Jahrhundert zurück und besagt, dass «so manches wahre Wort im Scherz gesagt wird». Manchmal wattiert man eine unangenehme Wahrheit absichtlich mit Humor, manchmal bricht sie sich in einem freudschen Versprecher Bahn. Konzentriert und meistens mit Absicht wird dem Sprichwort im politischen Cabaret nachgelebt. Aber die Wahrheit im alten Studentenulk, «Erbrecht» wie den Imperativ «erbrecht!» auszusprechen, diese Wahrheit ist mir ein halbes Jahrhundert lang verborgen geblieben. Dafür, dass mir jetzt ein Licht aufgegangen ist, brauchte es neben dem Schriftsteller Lukas Bärfuss die Vorlesefunktion in der elektronischen Version seines neuen Buchs «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben». Dass darin das Erbrecht eine prominente Rolle spielt, liegt auf der Hand. Und so kommt die von Microsoft angebotene Vorlesestimme zu ihrem erleuchtenden Moment: Sie ignoriert das grosse E und liest den juristischen Begriff studentenulkig.

Und genau so könnte man die Quintessenz des Buches wiedergeben, auch wenn es Bärfuss selber nicht tut: mit dem Befehl «erbrecht!» – gerichtet an alle, die Reichtümer ererbt oder zusammengerafft haben: Sie sollen die wieder hergeben, allerdings erst nach dem Tod. Dazu soll das Erbrecht dienen, denn: «Eine Gesellschaft, die sich der Klimapolitik verschreibt, muss notwendigerweise den Eigentumsbegriff und das Erbrecht überdenken.»

Familien- und Weltgeschichte

Der Zusammenhang erschliesst sich so: «Unsere Gesellschaft schafft Vermögen in nie gekanntem Ausmass, und sie produziert Abfall in nie gekanntem Ausmass. Beides müssten wir gerechter verteilen. Im eigenen Interesse, denn Ungerechtigkeit ist ein Sicherheitsproblem.» Auch weil das Privateigentum proportional auf «gesellschaftlicher Vorleistung» beruhe, solle es wieder der Allgemeinheit zugute kommen; indes: «Das ererbte Privatvermögen in Gemeingut überführen wird lange dauern, viele Generationen, ein Projekt, das auf hundert Jahre zu planen wäre.»

Seine eigene Erbschaft selektiv beizusteuern, daran ist Bärfuss gerade: Das Einzige, was er aus ihr akzeptiert, ist die Gabe, Geschichten zu erzählen. Das materielle Erbe hat er ausgeschlagen, es bestand aus Schulden, dokumentiert in des Vaters hinterlassener Kiste, einer Bananenschachtel. Den Weg aus der familiären Misere wies ihm schliesslich das Lesen vieler Bücher: «Meine Eltern hatten mich geprägt durch ihr negatives Beispiel, nie hatte ich von meiner Familie etwas anderes erwartet als Ärger und Probleme, und ich schien, wenn ich die Bücher las, nicht der Einzige zu sein. Und wenn ich hörte, dass sich die Menschenrechte auf die Familie bezogen und die Familie die natürliche Kernzelle der Gesellschaft sei, dann war klar, warum es eben dieser Gesellschaft so dreckig ging.» Also weg mit der Familie, jedenfalls als Begründung für ein Erbrecht: «So etwas wie eine Familie gibt es in der Wirklichkeit nicht, und wer immer sie zu konstruieren versucht, verfolgt damit ein Interesse», schreibt der Autor und beruft sich dabei auf den Ethnologen Claude Lévy-Strauss.

Neue Sprache mit «Privatmüll»

Was aber gibt es denn in der Verwandtschaft und darüber hinaus? «Es gibt die Wirklichkeit, und es gibt die Sprache, und wie das eine vom anderen unterschieden ist, das bleibt ganz grässlich ungewiss.» Für Bärfuss ist Arbeit an beidem nötig: «Die Gesetze, nach denen wir leben, sind wiederum Sprache, und wenn wir also die Welt verändern wollen, müssen wir die Sprache verändern. Wir brauchen eine andere Grammatik und andere Begriffe für Familie, für Herkunft, aber vor allem brauchen wir ein anderes Erbrecht.»

Wie er die Sprache verändern will, hat Bärfuss in diesem grossen Essay nicht ausgeführt – ausser beim «Privatmüll», den wir anerkennen statt (auch in die Luft) aussetzen sollen. Gut möglich, dass sich der Schriftsteller noch mehr einfallen lässt.

Weiterführende Informationen

Google und Microsoft im Wettlesen

Beim Vorlesen hat Google die Nase vorn: Die auf Deutsch angebotenen Stimmen bringen natürlichere Satzmelodien zustande als die von Microsoft. Und Googles Sprachausgabe unterscheidet zwar auch nicht zwischen «Erbrecht» und «erbrecht», gibt aber mit der Anfangsbetonung dem – zweifellos häufigeren – juristischen Begriff den Vorzug.

Seltsamerweise hat die deutsche Standardstimme «Hedda» für Windows-PCs einen leichten englischen Akzent – dabei verfügt Microsoft durchaus über muttersprachlich deutsch klingende Stimmen, doch die sind für Mobilgeräte bestimmt. Wie man sie auf den PC bringt, erfährt man z. B. beim Vorleseprogramm Balabolka unter Hilfe (Häufig gestellte Fragen, weit unten).

Google kann man im Online-Übersetzer probehören; komplizierter ist es mit längeren Texten. In «Google Play Bücher» lassen sich auch E-Bücher aus anderer Quelle laden; vorgelesen werden sie in der Web-Version nicht, sondern nur in der App für Mobilgeräte. Auf dem PC läuft diese App in einer Android-Simulation wie MEmu. So ist «Vaters Kiste» mit korrektem «Erbrecht» zu hören – und erst noch so, dass es kaum mehr nach Computer klingt. Allerdings auch nicht professionell wie bei einem Hörbuch. dg


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

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Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 28.01.2023 um 15:44 Uhr
    Permalink

    Nur der Mensch verfügt über zwei Vererbungssysteme. Eines davon ist die Sprache für die Zwiesprache zwischen Generationen. (Gottfried Schatz). Aber für diese Zwiesprache braucht es Leute, die Sprache verstehen und beherrschen. Das tun Sie, Herr Goldstein, danke dafür. Sprachfehler führen im biologischen Vererbungssystem zu Krebs. Das ist bei der Sprache nicht anders.

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