aa_Sprachlust_Daniel_4c

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe – Alter weisser Mann, es geht noch schlimmer: reich

Daniel Goldstein /  Tamara Funiciellos Tirade gegen «alte, reiche, weisse Männer» nach der AHV-Abstimmung bedient sich bei einem Gruppenstereotyp.

Eine Erweiterung des Schimpfkanons erwartet man nicht unbedingt beim «Bänkli vorem Huus» – es sei denn, darauf hocke eine keifende alte Frau oder ihr mürrischer alter Mann. Doch wenn das «Huus» das Bundeshaus ist und auf dem Bänkli Tamara Funiciello steht, muss sich der alte Mann auf etwas gefasst machen. Die SP-Nationalrätin hielt dort nach der AHV-Abstimmung ihre inzwischen berühmt-berüchtigt gewordene Wutrede und schrieb vor allem «reichen, alten Männern» den Entscheid zu, das Rentenalter für Frauen zu erhöhen.

Ein bisschen konnte sie sich dabei auf eine Nachwahlbefragung stützen, wonach die Zustimmung zur Vorlage bei Männern, bei älteren Personen und bei gutverdienenden am höchsten war. Das Meinungsforschungsinstitut LeeWas resümierte: «Gegen das Votum der Frauen und der Personen mit tieferem Einkommen wurden die AHV-Reformen von den Männern, Pensionierten und gut Verdienenden angenommen.» Wahrscheinlich, aber statistisch nicht zwingend ist, dass jene Stimmberechtigten am häufigsten zustimmten, die zwei oder gar alle drei dieser Kriterien auf sich vereinen. Ob eine solche Detailauswertung gemacht wurde und dann der Politikerin bekannt war, weiss ich nicht. Beim knappen Ausgang der Abstimmung war aber ohnehin auch Hilfe aus den entgegengesetzten Kategorien nötig.

Wer zählt die Nichtweissen?

Schon der Befund von LeeWas war, wenn im Pressezitat richtig wiedergegeben, zumindest gewagt. Denn wir haben keinen Geschlechter-, Einkommens- oder Altersföderalismus, gemäss dem solchen Gruppen so etwas wie eine Standesstimme zukäme, jede von ihnen also ein gemeinsames «Votum» abzugeben hätte. Funiciello war immerhin so korrekt, nicht «die reichen alten Männer» zu bezichtigen, sondern durch Weglassen des Artikels Raum für jene zu lassen, die gegen die Mehrheit ihrer statistischen Kategorien gestimmt hatten.

Dafür aber holte die Nationalrätin im zweiten Anlauf, nach kurzem Blick auf den Zettel in ihrer Hand, zum schimpftechnisch innovativen Schlag aus: Ihre ausdrückliche Kampfansage richtete sie zwar auch an «diese reichen Frauen», aber wiederum zuerst an «diese alten, reichen, weissen Männer». Offenbar nur «diese» mit missliebiger Stimmabgabe, ausgenommen nichtweisse. Deren dürfte es unter den älteren Stimmberechtigten nicht allzu viele geben, und die Meinungsforschung hat sie auch nicht separat erfasst – zum Glück, denn da gerät man in Teufels Küche. Hautfarbe variiert stufenlos, und wer Rassen unterscheiden will, braucht Rassengesetze oder Pseudowissenschaft.

«Höchst privilegierte Sprechposition»

Anders verhält es sich mit «race» in den USA: Da gilt eine Selbstzuschreibung per Kreuzchen in der Volkszählung, mit einer reichhaltigen Auswahl. In den USA liegt auch der Ursprung des ungefragt schimpfwörtlich gewordenen «alten weissen Mannes». NZZ Folio (1/2022) ist ihm nachgegangen und liefert diese einengende Definition: «Ein Typ Mensch, der seine Privilegien verdrängt, den gesellschaftlichen Wandel belächelt und glaubt, seine Position ausschliesslich aus eigener Kraft erreicht zu haben.» Ob die Kurzformel «alter weisser Mann» rassistisch sei? «Linke Kreise haben Rassismus so definiert, dass eine privilegierte Gruppe grundsätzlich nicht darunter fallen kann. Konservative machen den Substitutionstest: Wäre es zulässig, über junge schwarze Frauen so zu sprechen wie über alte weisse Männer? Wohl kaum.»

Schier lehrbuchmässig formulierte Tamara Funiciello schon 2020 in einem WOZ-Interview: «Alle gesellschaftlichen Strukturen begünstigen wesentlich den alten weissen Mann. Zum Beispiel nimmt er eine höchst privilegierte Sprechposition im öffentlichen Diskurs ein. Um es etwas platt zu formulieren: Er spricht selbstverständlich zuerst, er hat die besten Ideen – selbst wenn er sie gerade einer Vorrednerin geklaut hat –, er lässt Leute, die weniger forsch auftreten, nicht zu Wort kommen oder übergeht, was sie sagen.» Als Juso-Präsidentin hielt sie es nach eigenem Bekunden ganz anders: «Mir war ein rücksichtsvoller Umgang wichtig.» Das wäre er noch heute, auch im Bundeshaus und davor.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist 75-jährig und hellhäutig und gehört einer mittleren Einkommensschicht an.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

6 Meinungen

  • am 4.10.2022 um 11:13 Uhr
    Permalink

    Schade um den szenischen Einstieg, aber das Haus mit der Bank davor war die Heiliggeistkirche (was auch ohne Lupe auf allen Bildern der Demo erkennbar ist).

  • am 4.10.2022 um 11:27 Uhr
    Permalink

    Ich grinse still vor mich hin. Ich, alter, armer Mann.

  • am 5.10.2022 um 09:22 Uhr
    Permalink

    Funiciello verwendet «alt», «weiß» und «Mann» diskriminierend, indem sie diesen neutralen Begriffen durch den Kontext ihrer Aussage eine negative Bedeutung zuweist. Bei «reich» könnte man noch entgegenkommen, da «reich sein» im monetären Sinne in vielen Kulturen, besonders im Christentum, oft negativ bewertet wird. Reiche waren und sind ein häufiges Ziel für Satire und Spott. Wobei Fr. Funiciello von den meisten Menschen dieser Erde wohl selbst als «reich» betrachtet würde.
    Der Rest der Aussage ist Diskriminierung. Da gibt es nichts zu deuteln, besonders weil sie in einem öffentlichen und politischen Rahmen getätigt wurde, also keine Privatmeinung ist. Diskriminierung wird nicht dadurch definiert, dass sie sich nur gegen gesellschaftlich vermeintlich Schwächere richten muss; sie kann sich nach Art der Bedeutungszuschreibung gegen jede Person richten.

    • am 5.10.2022 um 21:21 Uhr
      Permalink

      grüezi herr goldstein
      grüezi männer ,
      besser ich enthalte mich jeglicher adjektive.
      aber warum „antworten“ wohl nur männer?!
      die worte von tamara unterstütze ich, bald 70 jährige frau voll und ganz. unsere geduld und unser verständnis werden und wurden überstrapaziert. es hat uns fast nichts gebracht.
      und jetzt soll tamara die würde bestimmter männer verletzt haben? –
      würde hat auch mit wertschätzung zu tun. wo bleibt denn die wertschätzung der frauen? wert hat auch mit geld zu tun. seit der annahme des gleichstellungsgesetzes müssen die frauen vor dem gesetz gleichwertig sein. und? wie wertet sie gesellschaft sorge- und berufsarbeit von frauen, dass sie mehr und besser auf ihre gesundheit achten. länger arbeiten und mit weniger ahv zufrieden sein. gesetzlich heisst es auch, die ahv soll zu einem anständigen leben reichen. für viele frauen ist das nicht so.
      und sie beklagen die wütende rede einer jungen mutigen frau… ich finds zum schreien!

      • am 6.10.2022 um 11:22 Uhr
        Permalink

        Liebe Frau greuter, Ihr Text geht an die falsche Adresse. Wir alten, armen Männer haben uns immer für eine AHV eingesetzt, von der man würdig leben könnte. Gegen die reichen alten Männer sind wir leider nicht angekommen, gerade weil die Unterstützung der Frauen fehlte.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...