Kommentar

kontertext: Hightech im Circus

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Der Circus Knie zeigt dieses Jahr nicht nur ein neues Programm sondern einen neuen Circus: die total suggestive Show.

Sommerzeit ist Circuszeit. Für mich bedeutet das seit einem halben Jahrhundert Circus-Knie-Zeit, und ich empfinde das diesjährige Programm von Knie als Beginn einer neuen Ära. In der Technik, der Organisation und im Programm gab es in den letzten Jahren schon Neuerungen, die aber vereinzelt blieben und erst in diesem Jahr durch ihr Zusammenspiel dem «up-to-date circus»* eine Ästhetik geben, die mit heutigen Show-Realitäten gleichauf sein will.

Ganz unbedeutend scheint mir das nicht. Der «Schweizer Nationalcircus Gebrüder Knie» zieht Jahr für Jahr ungefähr 800’000 Zuschauer:innen aus den verschiedensten Klassen, Schichten und Bildungsgraden an. Zum Kauf eines neuen Zeltes hat er mittels Crowdfunding innerhalb von vier Monaten 500 Spender:innen gefunden, die zusammen 250’000 Franken geschenkt haben. Knie ist auch ein emotionaler Wert, er trägt zur Identifikation mit der Schweiz bei. 

Ruck-Zuck und Lächeln

Vorbei sind die Zeiten, da ein Circusprogramm aus der Begrüssung durch den Frack tragenden Direktor und dann einer Aneinanderreihung von mehr oder weniger individuellen Einzelnummern bestand. Die heutige Show ist mittels Choreographie, Musik und Licht einheitlich durchgestaltet. Von der ersten bis zur letzten Minute werden die Zuhörer:innen einem Gewitter von lauten Rock-Beats ausgesetzt. Auch ein Star wie der Sänger Bastian Baker ist da eingepasst, darf aber zu seiner Profilierung ins Publikum gehen, während das geschrumpfte Circusorchester zwar noch vorhanden ist, aber optisch im Halbdunkel und akustisch in der Elektronik verschwindet. 

Die vielseitige ukrainische «Truppe» «Bingo» führt den Choreographie-Stil des Abends idealtypisch vor. Gleichzeitig zu Akrobatik und Jonglage wird getanzt: schnell, zackig, die Beine auf den Beat in den Boden gestampft, die Arme in die Luft gerissen, blitzartiges Flimmern ganz ohne Strobo-Light. «Jung, wild und modern» wollen sie sein. Und sie lächeln, strahlen, jubilieren immerzu. Ihre Eröffnungsnummer heisst «Happy-Welcome-Grüsse». Sie sehen sich im «Dauerflirt mit dem Publikum». Auch hier verkörpern sie das Ideal der Show: die leicht erscheinende Anstrengung. 

In einem anderen Rhythmus bewegen sich nur die Pferde – und das Komiker-Duo Ursus und Nadeschkin. Die glänzend gestriegelten Pferde, die in einer Grossgruppe geordnet durch die Manege galoppieren, strahlen vor Schönheit und Kraft. Gerne glaubt man an das Märchen ihrer Freiheit: «Lass das Pferd Pferd sein», sagt Fredy Knie. Aber manchmal machen sie gerade nicht, was der Chef mit der Peitsche will. Das wirkt als wohltuende Entspannung in dieser perfekt getrimmten Show! 

Auch Ursus und Nadeschkin brechen auf ihre Weise aus der festen Form aus. Sie schaffen es, sich in ihren Rollen als Individuen zu etablieren. Sie spielen gekonnt mit den Elementen des Circus, mit Seiltanz, mit dem Namen Knie, mit alten Clownsnummern. 

Coolness plus Swissness

Zur Einheitlichkeit der Gesamtshow trägt ein konsequentes Design bei. Grelle, üppige Kostüme und die «wohl aufwendigsten Hairstylings der Schweiz» rücken die Menschen in die Künstlichkeit von Comic-Figuren. Selbst wo nackte, muskulöse Körper ausgestellt werden, sind sie zwar sexy, aber auch seltsam clean. Um die Zuschauer:innen bei so viel Coolness und internationalem Flair nicht zu überfordern, ist dem Programm ein gehörige Dosis Swissness beigegeben. Das geschieht über die Präsenz der Familie Knie. Die Ahnen und die Alten werden im Programmheft beschworen. Die Jüngeren treten auf, und der 4-jährige Maycol betritt zum ersten Mal in seinem Leben die Manege als kleiner Erwachsener, als wär er einem alten Gemälde entsprungen, und befriedigt so das Bedürfnis nach dem Jöö-Gefühl. 

Die Show ist hochtechnisiert. Für die meisten Nummern wird ein polyvalenter Untersatz aus dem Circushimmel in die Manege gesenkt: ein weicher Boden für allfällige Stürze, ein Boden, aus dem meterhohe Stichflammen, Wasserfontänen und gebündelte Lichtstrahlen schiessen können. Das neue Zelt kommt ohne Masten aus, denn es ist an zwei metallenen Rundbögen aufgehängt, und die Sitze sind nicht mehr hintereinander, sondern versetzt angeordnet, sodass man von jedem Platz das gesamte Rund mit über 2000 Plätzen überblicken kann: Das verschafft ein neues Raum- und Nähegefühl. 

Die Macht der Show

Die aufwändige Lichtregie des Abends ist von extremer Perfektion. Ganze Nummern beruhen auf Lichteffekten. LED-Regie macht aus einer Gruppe von Trampolin-Artisten Körper, die wie die Bälle eines Jongleurs durch die Luft wirbeln. Sie fliegen und lächeln dabei ironisch, als könnten sie für all das nichts, als geschehe es ohne ihr Zutun. In einer anderen Nummer ermöglichen LED-Kostüme, die im Rhythmus der Musik leuchten, Tanz im Dunkeln. Alle Aufbau- und Vorbereitungsarbeiten – also etwa das Hereintragen von Hilfsmitteln, Apparaten, Requisiten – werden im Dunkeln versteckt. Das Machen und Herstellen verschwindet, Überraschungs- und Überrumpelungseffekte werden möglich, z.B. plötzlich durch die Luft fliegende Motorradfahrer.  

Ich kann mich noch gut an meine Ängste erinnern, wenn ich als Abendregisseur nach einer Theatervorstellung entscheiden musste, ob ich die Schauspieler:innen noch einmal «rausschicke» auf die Bühne zum Verbeugen. Hält der Applaus noch? Sich ohne Applaus verbeugen, ist mehr als peinlich. Auf der anderen Seite kann das Sich-Verbeugen den begehrten Applaus auch nochmals anfachen. Solche Sorgen scheint der heutige Circus nicht mehr zu haben. Die Lichtregie hat die Zuschauer:innen im Griff. Licht hochfahren – und der Applaus brandet auf. Licht abblenden – der Applaus verebbt. Die Entscheidung liegt beim Meister des Lichts, nicht mehr beim  Publikum. Er hat eine nahezu vollständige Steuerungsmacht, die einer Entmündigung der Applaudierenden nahe kommt.

Beeindruckt und etwas betäubt kommt man aus der Circus-Show heraus. Die Leistungen der Artisten sind atemberaubend. Die Show ist perfekt und sicher zeitgemäss. Der Geruch der Manege fehlt. 

* Alle Zitate stammen aus dem Programmheft des Circus Knie oder von den Webseiten der Artisten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Felix Schneider ist gelegentlicher Mitarbeiter des «solinetz» («Solidaritätsnetz Region Basel für Menschen ohne gesicherten Aufenthalt»).

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 28.06.2022 um 12:44 Uhr
    Permalink

    Inwiefern der Zirkus Knie «zur Identifikation mit der Schweiz beitragen» soll, kann ich absolut nicht nachvollziehen. Bloss, weil sich das Unternehmen mit genialem Marketingschachzug das Label «Schweizer National-Circus» gegeben hat und seit Jahrzehnten immer wieder Publikumslieblinge aus dem CH-Showbusiness engagiert; schlicht als sichere Werte, um genug Zahlende anzulocken?
    Und für Innovation im Zirkuswesen und/oder korrekten Umgang mit Menschen und Tieren (und Material…) steht der Knie nicht wirklich – da gibt es andere, mutigere Vorreiter. Knie beherrscht in erster Linie professionelle Öffentlichkeitsarbeit.

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