Kommentar

kontertext: Gegen den Bekenntniseifer

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Kulturschaffende boykottieren? Russland isolieren? Ein Plädoyer für mehr Skepsis und Bescheidenheit.

Das Cardiff Philharmonic Orchestra hat kürzlich ein Programm mit Werken (ausschliesslich) von Tschaikowsky aus seinen Konzerten herausgenommen: «inappropriate at this time». Ähnliches geschah in bescheidenerem Rahmen – es handelte sich nur um ein einzelnes Werk zuvor schon in Berlin. 

Tschaikowsky gilt russischen Nationalisten als «Ikone», sofern verschwiegen wird, dass er schwul war. Er hat neben viel reiner Musik auch eine Ouvertüre geschrieben, die den russischen Sieg über Napoleon verherrlichen sollte. Also weg mit ihm? 

Wen bekämpfen wir eigentlich? Das Putin-Regime oder Russland? Verteidigen wir Demokratie, Rechtsstaat und Aufklärung oder verfallen wir dem Ethno-Nationalismus? Glauben auch wir schon an eine ewige, widerspruchsfreie völkische Einheit namens Russland, die durch einen Komponisten verkörpert werde?  

Bekenntnisse zur eigenen Beruhigung?

Der Bekenntniseifer im Kulturmilieu, insbesondere unter Musiker:innen, verdient Skepsis. Er ist eine verwirrende Mischung aus Abscheu vor dem Krieg und grossartigem Engagement für dessen Opfer auf der einen Seite, auf der anderen aber sind auch konformistische und egozentrische Züge zu beobachten. 

Im Unterschied zu Stellungnahmen etwa im Vormärz oder Plädoyers zugunsten der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik handelt es sich hier nicht um Parteinahmen für eine unterdrückte und verfolgte soziale oder politische Bewegung, sondern, hier und heute, um den Anschluss an gesellschaftlichen Mainstream. «Slipped Disc», eine wichtige Plattform für klassische Musik, hat eine Liste von bekannten Musiker:innen veröffentlicht, von denen sie Stellungnahmen zum Ukraine-Krieg verlangt. Diese Nötigung zum Bekenntnis hat etwas Totalitäres.  

Die Stimmung ist sehr schnell umgekippt, zu schnell. Bis vor zwei Wochen war es noch selbstverständlich, dass in dieser Welt voll Elend, Krieg und Gewalt Kulturevents für die Reichen stattfanden, Konzerte oder Opernaufführungen etwa, die Hunderte von Franken an Eintritt kosteten und der Fiktion der kontextfreien, ewigen, hehren Kultur frönten. Auch sonst hat es auf Bühnen, Leinwänden und zwischen Buchdeckeln an politikfreien Glasperlenspielen nicht gefehlt. 

Da kommt das plötzliche Engagement etwas gar schnell. Um glaubwürdig zu sein, genügt es nicht, mit der ukrainischen Fahne rumzufuchteln und die ukrainische Nationalhymne zu spielen. Wie nachhaltig solche Erregungen sind, wird sich weisen, wenn es darum geht, sie in künstlerische Praxis umzusetzen. 

Bedenkenträger als Brückenbauer

Etwas Selbstreflexion täte not, denn gerade gestern noch haben wir uns doch noch ganz anders verhalten. Die Kriege in Afghanistan, Tschetschenien, Libyen, Somalia, Syrien, Jemen, Irak, Kurdistan, Ostukraine … haben uns nicht übermässig beunruhigt. Flüchtlinge haben unsere Ämter mit bürokratischen Argumenten abgewehrt, die brutale russische Kriegsführung in Aleppo und im Donbass haben wir achselzuckend zur Kenntnis genommen. 

Man kann das normal und gott- oder naturgegeben finden, wie Benedict Neff in der NZZ vom 14.03.22: «Es handelt sich um natürliche Reflexe», sagt er, «Kiew ist uns näher als Damaskus», und «das Christentum handelt auch von der Nächstenliebe und nicht von der Fernstenliebe». Das Problem dabei ist nur: Wer entscheidet, wer zu den Nächsten und wer zu den Fernsten gehört? Herr Neff? Die NZZ? Auch haben Globalisierung und Cyberspace kräftig an den Distanzen geschraubt. 

Kunst, Kultur, Journalismus können in Kriegszeiten nur symbolische Beiträge leisten. Etwas Bescheidenheit stünde uns Intellektuellen gut an. Und etwas Nachdenklichkeit. Vielleicht sind wir ja fürs Kompliziertere, Uneindeutige zuständig. Und fürs Fragen. War das wirklich so, dass wir bisher im Frieden lebten – oder wähnten wir uns nur im Frieden? 

War das so ganz und gar falsch, wenn wir auf Beziehungen unter den Ländern setzten, auch und gerade auf wirtschaftliche Verflechtungen, weil wir dachten, Vernetzungen und gegenseitige Abhängigkeiten dienten der Sicherheit und dem Frieden? 

Heute geht es um die Isolierung Russlands. Wie aber kommen wir später zu neuen Beziehungen? Immerhin scheint klar: Statt militärische Massnahmen ergreift der Westen wirtschaftliche Sanktionen – die aber sind nur möglich aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtungen. Aus SWIFT kann nur rausgeschmissen werden, wer drin ist. 

War das nur Irrtum und Irrweg, unser Eintreten für Abrüstung und Entmilitarisierung? Gilt es noch, wie Marx sagte, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist»?

Wer soll isoliert werden?

Die Stiftung Preussischer Kulturbesitz hat den Kulturaustausch mit Russland eingestellt, die meisten deutschen Hochschulen haben die Forschungskooperationen auf Eis gelegt. Die Ermitage hat Bilder aus italienischen Ausstellungen abgezogen. Russland wird isoliert und isoliert sich selbst. 

Aber gerade unter Wissenschaftler:innen gibt es viele Regimekritiker:innen, die schon isoliert sind und unter Repressalien leiden, «und wir würden ihnen, wenn wir die Netzwerke abschneiden, eine doppelte Repression zumuten, eine doppelte Isolation», sagte kürzlich Jutta Almendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Wissenschaftliche und kulturelle Kontakte zu kritischen Geistern, sagte sie, sind «auch Sprachrohre nach Russland rein, um überhaupt aufklären zu können, was Russland anrichtet in der Ukraine.» 

Statt Tschaikowsky und die russische Kultur zu ächten, sollten wir ganz im Gegenteil unser Augenmerk auf das «andere Russland» richten. Kritische und aufgeklärte russische Traditionen wären zu entdecken. Und die russische Opposition besteht doch nicht nur aus Nawalny. 8’000 bis 10’000 russische Wissenschaftler:innen haben eine Petition gegen den russischen Angriffskrieg unterschrieben. 15’000 Antikriegsdemonstrant:innen sind verhaftet worden. Wer sind diese Oppositionellen? Wie leben sie? Und wie wären sie zu stärken? Und die ausserhalb Russlands lebenden Russen wären als Publikum und Diskurspartner extrem wichtig. Es gilt, etwa mit der Hilfe geflohener russischer Journalist:innen, Informationsnetzwerke aufzubauen, damit die Russen überhaupt erfahren, was geschieht. Denn letzten Endes geht es um nichts weniger als um den «regime change» in Russland. Und den führt die Ächtung russischer Musik im Konzertsaal gewiss nicht herbei.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Felix Schneider ist gelegentlicher Mitarbeiter des „solinetz“ („Solidaritätsnetz Region Basel für Menschen ohne gesicherten Aufenthalt“).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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5 Meinungen

  • am 19.03.2022 um 15:12 Uhr
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    Dieser Beitrag ist symptomatisch für das Geschwätz, das im Feuilleton die seriöse Kulturberichterstattung verdrängt hat, was ich die neoliberale Cancel Culture nenne. Sonst wüsste man nämlich, dass in Tschaikowskys «Ouvertüre 1812» Kanonenschüsse erklingen und die alte Zarenhymne den Sieg verkündet. Daher ist das Adjektiv «unangemessen» hier voll und ganz zu unterschreiben. Das gilt auch für die Aufführung von «Mazeppa», wo es um die «Befreiung der Ukraine» geht und auch noch Krieg gegen Schweden ausbricht. Diese Unkenntnis speist sich daraus, dass heute Thesen- und Gesellschaftsjournalismus die Kulturseiten beherrschen und man die Fachjournalisten zum Teufel gejagt hat.

  • am 19.03.2022 um 16:06 Uhr
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    Herr Schneider, irgendwann wird die Zeit reif sein, um Russland und die russische Kultur wieder differenziert zu betrachten, so wie Sie es beschreiben. Jetzt gilt es aber glasklar auf EINER Seite zu stehen. Und jede Abhängigkeit von Russland so schnell als möglich zu beenden.

  • am 19.03.2022 um 16:07 Uhr
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    Falls er nicht ironisch gemeint war (was hätte markiert werden sollen), legt der vorletzte Satz genau die neokolonialistische Arroganz an den Tag, die der Autor ansonsten in seinem Artikel kritisiert. Wer bestimmt, wer Russland regiert? Über 70% stehen hinter Putin. War der regime change 2014 in der Ukraine nicht genau der Anfang der Situation, die wir jetzt haben? Fragen Sie Victoria Nuland! Und gab es nicht auch Versuche in Kasachstan und Weissrussland? Was haben regime changes weltweit gebracht, ausser failed states (aber vielleicht ist ja genau das der Sinn – warlords sind die besseren Geschäftspartner: Waffen gegen Öl 😉 ) Und wer soll nach einem regime change Russland regieren? Schirinowski??? Auf Putins Wort konnte man sich wenigstens verlassen – selbst der Überfall auf die Ukraine war mit Ansage (die nur niemand hören wollte).
    Also ich würde mir das mit einem regime change noch mal überlegen – und mir vor allem vorher schon Gedanken über die möglichen Folgen machen ………

  • am 21.03.2022 um 10:14 Uhr
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    Eine putzige Angelegenheit, wie schon beim vorauseilenden Gehorsam den Coronamaßnahmen gegenüber und dem Befolgen der neuen «Solidarität» zu beobachten, sich jetzt viele vorschnell und der allgemeinen Stimmung anbiedernd in eine vermeintlich neue Solidarität flüchten und jahrhundertealte Musik, Theaterstücke, Opern aus dem Programm nehmen. Kaum knallt es nicht wie sonst immer tausende Kilometer entfernt, sondern nicht weit von der eigenen Haustür, schließt sich die Gutmenschenphalanx, schwenkt fremde Flaggen und haut Kulturschaffende raus. Vor soviel wohlfeilem Mut muss man einfach den Hut ziehen. Es ist grundmenschlich und ein schönes warmes Gefühl, sich mit vielen anderen auf der richtigen Seite stehend zu wissen.
    Nein. Man muss jetzt das Gegenteil tun: russische Autoren rauf und runter spielen, russisch Kochen und Kalinka pfeifen – um zu zeigen, dass die Kultur nichts aber auch gar nichts mit diesem Krieg zu tun hat.

  • am 21.03.2022 um 23:12 Uhr
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    Guten Abend,
    es gibt Leser, die sich nicht im Klaren sind, welchen Unsinn sie schreiben. Was könnern die Künstler, besonders alle, die schon verstorben sind, für die Kriege in unserer Zeit? Was könne diese Künstler für all die kapitalistischen Kriege – ganz gleich, ob diese von den USA, von der NATO, der EU oder von Russland geführt werden bzw. wurden. Warum wurden die Kriege gegen Jugoslawien, gegen Mali, gegen Afghanistan und andere Länder nicht mit ebensolchen Maßnahmen bekämpft und verhindert? Warum gibt es unterschiedliche Flüchtlinge , die unerwünschten ( 2015 )und die von Europa hofierten Edel-Flüchtlinge. Und ich dachte immer, alle Menschen sind gleich. – Nur die Künstler, die sich bewusst zund vorsätzlich für Kriege gegen Menschen missbrauchen lassen , sollten mit Konsequenzen zu rechnen haben. Die schon verstorbenen Künstler gehören auf keinen Fall zu diesert Gruppe.

    Mit freundlichen Grüßen

    Kurt Wolfgang Ringel

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