Kommentar

kontertext: Zwei Schüttraummeter Lesestoff

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Bücherboxen sollen das Kulturgut Buch stärken. Stattdessen präsentieren sie es als Wegwerfartikel. Skizze einer stillen Implosion.

In einer Kolumne für den «Merkur» schildert die Autorin Kathrin Passig 2010, wie sie sich vom gedruckten Buch löste, um nur noch elektronisch zu lesen. Das Abräumen ihrer Regale beschreibt sie als entlastend: «Zuerst die ungeliebten, danach das Mittelfeld, am Ende auch die Schätze.» Passig nennt gute Gründe für ihre Abkehr von der Printwelt. Vor allem will sie nach dem Umstieg mehr gelesen haben: Leseförderung durch Technologiewechsel. Im Rückblick sieht sie ihre private Bibliothek nicht nur als Überbleibsel einer intellektuellen Selbstfindung, sondern auch als Distinktionsobjekt der bildungsbewussten Stände – Büchermassen als Statussymbol.

Auch im antibürgerlichen Milieu meiner Studienzeit galt: «Zeig mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist.» Mit Bänden der edition suhrkamp schlug man sich einer Diskurs-Community zu; Merve-Büchlein verstärkten die Gruppenzugehörigkeit. War also nicht Erkenntnis durch Lektüre das Motiv, sondern gesellschaftliche Positionierung, durchaus nach Bourdieus Klassen-Modell? – Damals hätte ich kaum gelten lassen, was Passig später als Strategie der Repräsentation beschreibt.

Prunkbibeln aus Klöstern oder die illustrierten Urverse des Hinduismus sind dagegen keine bürgerlichen Rudelwesen mit Distinktionseffekt, sondern Solitäre, repräsentativ im historischen Sinn. Man zeigt sie hinter Panzerglas: die Diamant-Sutra, Shakespeares Folio, die Gutenbergbibel, Wegmarken in der geistigen Landschaft ihrer Kultur. Abgerückt von der Gebrauchslogik des Alltags liegen sie im Schein von Spezialleuchten, Unikate und doch Vorläufer der Reproduzierbarkeit.

Das Argument der Zugänglichkeit

Bibliotheken als Bollwerke des Wissens sind Postkartensujets der Geistesgeschichte, so wie die Bücherattrappen aus der guten Stube des Bürgertums (die buchstäbliche Hohlform von Bildung), Erstausgaben wichtiger Werke werden noch immer emsig gehandelt, und sogar die Heilserwartungen, die den Buchdruck einst umwehten, haben im informatischen Zeitalter wenig von ihrer Strahlkraft eingebüsst. Zwar liess Nietzsche seinen Zarathustra verkünden: «Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken.» Und doch soll das Buch bis heute die finstere Macht der Ignoranz aus der Welt vertreiben. Parallel dazu floriert weiter das Bastei-Lübbe-Universum, Berg- und Liebesromane vom Kiosk, am Fliessband verfasst und dazu bestimmt, nach der Lektüre rezykliert zu werden: Fast Food mit Happyend-Garantie.

Als Heinrich Maria Ledig-Rowohlt 1950 das Taschenbuch lancierte, lagen die Argumente auf der Hand: Die Umrüstung der Zeitungspressen auf Buchdruck erlaubte effizientere Produktionsprozesse, und niemand hatte kurz nach dem Krieg etwas dagegen, dass Lesende in grosser Zahl zu erschwinglicher Lektüre kamen. Trotzdem waren einige Tempelwächter der Hochkultur indigniert. Während die Neuerung am Markt reüssierte, fürchteten sie den Niedergang des Kulturguts Buch.

Über solche Bedenken mag man heute milde lächeln, obwohl Wahres in ihnen steckt. Immerhin verschleiert das Preis-Argument, dass die Mitochondrien der Erkenntnis, mit denen Schriften der Hochkultur locken, sich dem Preisvergleich entziehen: Sie sind ‹unerschwinglich› in vielfacher Hinsicht und behaupten jenseits von Angebot und Nachfrage ihren inneren Wert. Während Milben und Säure das Papier bedrohen, ist der potenteste Schädling der Erkenntnis nicht die Abrede, sondern das Vergessen. Gegen dieses tritt die Schrift an, seit sie bei den Sumerern ein Werkzeug der Buchhaltung war.

Doch während im Netz der Obskurantismus als Gegner der Wissbegierigen floriert, sind Probleme der Zugänglichkeit kaum noch von Belang. Datenbanken haben die vielbändigen Lexika verdrängt, Versteigerungsplattformen ersetzen den Gang zum Antiquariat, die einstige Trouvaille findet sich in virtuellen Schaufenstern rund um die Welt, nicht selten zum Spottpreis, wenn die Anbieter ihren Wert nicht kennen. Bei so viel Breite kann der Tiefgang zum Suchkriterium werden.

Zwischen Verramschung und Open Source

Wenn heute Telefonzellen zu öffentlichen Bücherschränken umfunktioniert werden, um als letzte Hürde zwischen Mensch und Text den Erstehungspreis abzuräumen, ist zwar noch einmal die Hand gefragt, das Buch als Greifartikel: «Nimm eines mit, lass eines hier!» Unter diesem Motto wird das Buch zum Überschussgut. Da stehen zwei Schüttraummeter Lesestoff am Strassenrand, ein Mahnmal wider den Illettrismus unserer Zeit, Treibgut im flachen Wellengang der Indifferenz. Während Gemälde und Oldtimer Höchstpreise erzielen, setzt man im vermeintlich letzten Hafen der Gutenberg-Galaxis auf den Nulltarif: «Wenn Lesen schon so anstrengend ist, warum auch noch dafür bezahlen?»

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Lesestoff am Strassenrand: Eine alte Telefonkabine wird zum Bücherschrank.

Es mag problematisch sein, den Satz, «Was nichts kostet, ist nichts wert», auf Schriften zu beziehen. Immerhin ist das Buch als Medium mit sieben Leben noch da, dreizehn Jahre nach Passigs Nekrolog. Etwas daran scheint unverzichtbar zu sein, auch wenn sich sein Stellenwert am Markt und im Feuilleton gewandelt hat.

In diesem Spannungsfeld verströmt das Unternehmen Bücherschrank zwei Duftwolken: den keimfreien Atem von Open Source und den Mundgeruch der Verramschung. Besonders aus Sicht der Schreibenden sieht die Sache trübe aus. Sollen die Jahre, die sie über einem Text verbracht haben, damit abgefrühstückt sein, dass ihr Buch als geistige Konkursmasse von Haushalt zu Haushalt geschoben wird? Feilt man an Sätzen, um sie schon bald nach Drucklegung als Geschiebe am Grund des Leseflusses zu sehen, wo aus Literatur dasjenige wird, was Schreibende nur ungern in ihr sehen: Lesefutter?

Das Mönchsgeschäft der Kritzelei

Wer mit dem Argument der Zugänglichkeit operiert, könnte sagen: kein Problem! Was heute gerettet werden soll, sind nicht Texte oder Formate sondern die Fähigkeit selbst: das Lesen als ‹Kulturtechnik›. Von den Neurowissenschaften käme Zustimmung, unter Verweis auf die Aufmerksamkeitsspanne des durchschnittlichen Individuums: «Hauptsätze bilden! Der Mensch kann nur sechs Wörter auf einmal apperzipieren!» Wer mit dieser Haltung Kleist-Sätze studiert, wird den Kopf schütteln.

Ist also die öffentliche Bücherzelle nur ausgelagerte Hirnsubstanz? Und ist das so schlimm?

Viele Bedenken mögen an die Entwertungsangst der Kultureliten erinnern, als Ledigs Rotationspresse für das Literarische zu rattern begann. Doch ein Blick in private Bibliotheken wirft weitere Fragen auf: Durch Gebrauch sind da viele Bände vom Massenprodukt zum Individuum geworden. Notate umranken den Druck, eingelegte Zettel ragen froschzüngig hervor, Verfärbungen zeugen vom Koffeinbedarf der geistigen Arbeit. Für Aussenstehende ist das kaum von Erkenntniswert, doch es verknüpft ein Erzeugnis serieller Fertigung mit einem individuellen Leben.

In der Bücherzelle ist das Mönchsgeschäft der Randkritzelei wenig willkommen, da es die Vermittelbarkeit erschwert. Wer will schon auf jeder zweiten Seite den Ergüssen eines Vorlesers begegnen? Darf man also annehmen, das Gratisregal sei für jene Schmalkost gedacht, die keiner Annotierung bedarf?

Ganz eindeutig ist das Bild nicht. Zwischen Arztromanen und den Sachbuchknüllern von einst finden sich ja auch Arendt oder Benjamin. Trotzdem stellt sich die Frage, ob das Gratisregal Bücher als reine Gefässe für geistigen Gehalt präsentiert, kontextblind und austauschbar, und ob bei solchem Speeddating zwischen Mensch und Text nicht jenes retardierende Lese-Moment verloren geht, das aus Büchern Wegmarken eines Lebens werden lässt. Wer sie weggibt, verabschiedet sich von der Geschichtlichkeit seines Denkens. Oder ist es bereits sentimental, von einer Lesebiografie zu sprechen?

Gutenbergs (Alp-)Traum

Schon vor dem Siegeszug der mobilen Telefonie war die Zelle für solitäre Kundschaft gedacht. Auch in der hier diskutierten Form erinnert sie an eine Bedürfnisanstalt, in der man sein Geschäft stehend verrichtet. Das Gratisregal macht aus dem Wissbegierigen, der ich bin, eine lesende Ich-AG. Meine Beziehung zum Buch ist nun Mitnahmeeffekten verpflichtet. Stelle ich dagegen etwas ins Regal, mache ich kein Geschenk, sondern befreie mich von Ballast.

Dabei: Gibt es Schöneres, als Schriften zu teilen? Dieses konspirative Geschäft war lange meine Zuflucht vor dem, was ich in jugendlicher Apodiktik ‹Mainstream› nannte. Dass sich Innenräume des Denkens teilen liessen in der Schrift, euphorisierte mich. Viele lektüregeprägte Freundschaften schienen mir recht zu geben. Mag sein, dass einige hoch gehandelte Titel jener Zeit intellektuelle Statussymbole waren wider den Common Sense. Aber auf die Dauer hat sich doch die Neugier durchgesetzt: der Wunsch, mehr, tiefer und breiter zu verstehen.

Vielleicht hat Gutenberg Verwandtes geträumt, als er die klösterliche Abschrift ersetzen wollte durch jenes schnellere Medium, das heute für Langsamkeit steht: Was, wenn jeder Mensch dieser Erde den Blick auf denselben Vers werfen könnte? Würde dies eine Weltgemeinschaft stiften? Solchem Pathos steht der Wörtermensch als Content-Hopper gegenüber, dem das Lesen zur Schwundform einer alten Kulturtechnik wird. Mit dieser Zielgruppe, deren Argumente Kathrin Passig überzeugend darlegt, wird die Bücherzelle zum Symbol einer Zeit, deren Schrifttum mit der Einmallektüre abgehandelt sein sollte. Ihr Alltags-Hedonismus rät: «Belaste dich nicht durch Besitz. Zieh’s rein und gib’s weiter. Und bei Anfällen spontaner Rührung besuch das Grab des anonymen Lesers, wo ein ewiges Leselicht brennt.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

5 Meinungen

  • am 11.02.2024 um 12:04 Uhr
    Permalink

    28 Jahre lang habe ich als Mitarbeiter einer buchhändlerischen Zwischenhandelsfirma erlebt, wie paletten- und Tonnen-weise Bücher entsorgt wurden. Die Verlage hatten zum Teil zu hohe Auflagen produziert und sie hatten ihre Bilanz mit Beständen aufgewertet. Das rächte sich nach Jahren des Verbleibs in verlagseigenen Paletten-Lagern. In Bücherboxen kommen die Bücher wenigstens noch unter die Leute. Aber auch die Bücherbrocki und Neuantiquariate sind voller Bücher.
    Dies hat nur bedingt mit Lesefreude/Belesenheit zu tun, sondern mit markbedingten (Fehl-)Entwicklungen. Umfragen ergeben, dass die Anzahl der Viel-Leser in etwa konstant geblieben ist. Diese greifen auch heute noch in der Regel zum gedruckten Buch. Es gibt keine Analysen/Untersuchungen, welche Art Bücher unverkauft und/oder ungelesen herum liegen. Sind es Unterhaltungsschmöker? Fachliteratur? Die Verlage sind jedenfalls vorsichtiger geworden!

  • billo
    am 11.02.2024 um 12:40 Uhr
    Permalink

    Köstlicher Text, nein, wunderbar, danke!

    Wegen wiederholter Umzüge musste ich mich immer wieder von Büchern trennen. Es ist mir nie leicht gefallen, auch wenn wir völlig klar war, dass ich die aussortierten so wenig wie die verbliebenen Bücher kaum je wieder in die Hand nehmen würde. Entscheidend bei Büchern, die ich gelesen habe, ist jedoch etwas ganz anderes, was Michel Mettler für mich treffend beschreibt: «Durch Gebrauch sind da viele Bände vom Massenprodukt zum Individuum geworden. Für Aussenstehende ist das kaum von Erkenntniswert.»

    Das erinnert mich an ein Buch des malischen Schriftstellers und Wissenschafters Amadou Hampâté Bâ, «Jäger des Wortes, eine Kindheit in Westafrika», in welchem er die in der afrikanischen Gesellschaft traditionell orale Weitergabe von Wissen mit dem Satz auf den Punkt bringt, dass mit dem Tod eines alten Mannes eine ganze Bibliothek verschwinde. Mit unseren privaten Bibliotheken ist es nicht anders, sie sind für andere wertlos und enden im Altpapier.

  • am 11.02.2024 um 13:00 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Mettler

    wir haben hier bei Infosperber schon einige intelligente Texte von Ihnen lesen dürfen. In Ihrem heutigen Artikel aber, verzetteln Sie sich. Sie schreiben hier über ein sehr wichtiges Thema.
    Und ja viele Menschen haben sich leider vom Buch verabschiedet und einige haben gar nicht angefangen welche zu lesen. Und diesen Sachverhalt beschreiben Sie hier in einer Sprache, was viele erst recht davon abhält, ein Buch zu lesen. Oder überhaupt ernsthaft «wichtiges» zu lesen.
    Sprachlich komplex und etwas selbstdarstellerisch kommt Ihr Text daher. Das hilft der Sache überhaupt nicht. Das wollte ich Ihnen noch sagen. Ich wünsche Ihnen aber weiterhin alles Gute!

    Beste Grüsse
    Jannis Petros

  • am 11.02.2024 um 14:15 Uhr
    Permalink

    Was soll ich von diesem Artikel denken, abgesehen davon, dass ich vermutlich zu dumm bin, alle Fremdwörter und Konzepte zu verstehen? Eine Streitschrift gegen Telefonzellen, die in Bücherregale umgewandelt worden sind? Was soll dagegen einzuwenden sein? Immerhin weist die rege Nutzung dieser «Büchereien» darauf hin, dass die Menschheit in der digitalen Flut noch nicht ganz untergegangen ist und Leute bereit sind, ihre Bücher mit anderen zu teilen. Das genügt dem Kommentarschreiber offenbar nicht: Er bietet die unsäglichsten Theorien auf, um selbst diese Art von Teilen zu beschmutzen. Schade!

  • am 11.02.2024 um 22:17 Uhr
    Permalink

    Welch wunderbar formulierter Text! (Vielleicht mit Ausnahme von «froschzüngig» – m.E. 😉
    Ein grosses Lesevergnügen (wiewohl digital). Mit viel Kopfnicken meinerseits… Ganz herzlichen Dank dafür von einer Unqualifizierten, die öffentlich sicht- und nutzbare Bücherregale trotz allem mag (aber eher holen als bringen würde…)

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