Kommentar

kontertext: Palästina lebt!

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  In Paris ist zu erfahren, was hierzulande verdrängt wird: die geistige Vitalität und die künstlerische Kraft Palästinas.

Im Pariser «Institut du monde arabe» (IMA) läuft zur Zeit eine sechsmonatige Grossveranstaltung unter dem Titel «Ce que la Palestine apporte au monde». Was Palästina der Welt zu bieten hat, zeigt das interkulturelle, von Frankreich und arabischen Staaten finanzierte Institut in seinem von Jean Nouvel errichteten Bau mit der berühmten Fassade aus Irisblenden.  Das Team unter der Direktion des ehemaligen Kulturministers Jack Lang zeigt Ausstellungen und Filme, organisiert Ateliers, Diskussionen, Vorträge, Lesungen, Konzerte und Veranstaltungen aller Art. Das dem Aussenministerium unterstehende Institut, immerhin «Musée de France», «se met à l’heure palestinienne»: Es steht ganz im Zeichen Palästinas.

Kunst als Politikersatz?

Die politische Lage der Palästinenser heute ist hoffnungslos. Nach weitverbreiteter Auffassung in Israel und manchen arabischen Staaten gibt es sie gar nicht. Aggressive israelische Siedler, deren Macht bis in die Regierung reicht, lassen fast ganz Palästina unter der Bezeichnung «Judäa und Samaria» verschwinden und machen das Leben der Bevölkerung unerträglich. Die PLO ist undemokratisch, korrupt und sklerotisch. Hamas und Djihad sind religiöse Fanatiker und kurzsichtige Eiferer, denen nichts Gescheiteres einfällt, als mit Raketenangriffen in Israel die demokratische Opposition zu schwächen und die rechtsradikalen Palästinenserfeinde zu stärken. Europa schweigt, hilft allenfalls heimlich ein bisschen und erschlägt möglichst jede Debatte über Palästina mit der Antisemitismus-Keule. Die USA haben primär andere Interessen. Wenn die Zweistaatenlösung tatsächlich, wie es den Anschein hat, nicht mehr realisierbar ist, steht den Palästinenser:innen als mögliche Zukunft bevor: Vertreibung oder Tötung oder Bürgertum zweiter Klasse oder eine Mischung aus all dem. Was können Kultur und Kunst in einer derart trostlosen Lage bewirken?

Ein Nationalmuseum ohne Staat

Kernstück des IMA-Palästina-Programms ist eine Kunst-Ausstellung, die neben Werken aus der IMA-eigenen Sammlung auch Objekte aus dem «Musée national d’art moderne et contemporain de la Palestine» zeigt. Ja, das gibt es, ein palästinensisches Nationalmuseum für moderne und zeitgenössische Kunst, das seine Werke im IMA einlagert, bis Ostjerusalem die Hauptstadt Palästinas sein wird und das Museum wird beherbergen können. Initiiert wurde dieses Projekt, das dereinst die ganze Fülle der Kunst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zeigen soll, vom palästinensischen Diplomaten, Publizisten und Übersetzer Elias Sanbar und dem französischen Künstler Ernest Pignon-Ernest. Das Museum hat praktisch kein Geld. Die Sammlung ergänzt sich ausschliesslich durch Geschenke der Künstler:innen oder ihrer Rechteinhaber:innen. Wenn Künstler:innen ihren Wunsch kundtun, dem Museum ein Werk zu schenken, so werden sie vom Verein, der die Sammlung verwaltet, gefragt, welches Werk sie den Palästinensern zeigen wollen. Das Museum will nämlich nicht die Geschichte Palästinas aufarbeiten, es will kein Museum über Palästina sein, sondern ein Museum für Palästina. Es ist vorgekommen, erzählt der IMA-Konservator Eric Delpont, dass Geschenke abgelehnt wurden, weil die Werke zu militant und zu heftig gewesen seien. «Ce n’est pas un musée militant sur le plan politique. C’est au contraire de montrer le monde en Palestine, le monde, tel qu’il est vu par les artistes du monde», sagt Delpont. In Palästina die Welt zu zeigen, wie sie von Künstlern aus aller Welt wahrgenommen wird  – das ist die Aufgabe dieses Museums. Auch wenn ganz grosse Namen (Beuys, Calder, Warhol, Twombly, Richter etc.) offenbar fehlen, zeigt dieses Nationalmuseum im Exil doch wesentliche Strömungen moderner Kunst wie Pop, Informel, neuen Expressionismus, Hyperrealismus.

Palästinensische Kunst

Als Ergänzung zu den Werken aus dem Bestand des Nationalmuseums zeigt das IMA aus der eigenen Sammlung palästinensische Kunstwerke, die sich zwar expliziter auf die Realität vor Ort beziehen, sich aber niemals für den Kampf instrumentalisieren lassen. Diese Werke bleiben primär autonome ästhetische Gebilde von höchster Qualität. Ein paar Beispiele:

Abdul Rahman Katanani (*1983) arbeitet mit Materialien, die er als Kind im Beiruter Flüchtlingslager Sabra kennen gelernt hat. Er formte aus widerlichem Natostacheldraht eine raumhohe Spirale, die an eine Windhose erinnert. Das Werk lebt vom Gegensatz zwischen den messerscharfen Klingen des Drahtes und der grazilen Drehbewegung.

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Mohamed Abusal stellte im Gaza Symbole der Pariser Metro auf und fragte die Bewohner:innen, was sie von einer Metro in Gaza hielten.

Mohamed Abusal (*Gaza 1976) war so begeistert von der Pariser Metro, dass er einen detaillierten Plan für eine Metro im Gazastreifen ausarbeitete. Danach pflanzte er ein Pariser Metrosymbol an mehr oder weniger zerstörte Orte im Gaza und fragte die Bewohner:innen, was sie von seiner Metro-Idee hielten. Die Antworten reichten von Ablehnung («Du spinnst, wir haben andere Sorgen!») bis zu Begeisterung («Im Tunnelbau sind wir ja sowieso gut!»).

Hazem Harb (*Gaza 1980) konfrontiert frühe Fotografien des «heiligen Landes», die eine biblisch idyllische Landschaft, «gereinigt» von ihren «unheiligen» Bewohnern zeigen, mit heutigen Ansichten derselben Orte, wo Warntafeln stehen: «MORTAL DANGER. MILITARY ZONE. ANY PERSON WHO PASSES OR DAMAGES THE FENCE ENDANGERS HIS LIFE»

Safaa Khatib (*Cana/Galilea/Israel 1994) erinnert mit einer Serie fotografierter Zöpfe an die jungen Palästinenserinnen, die ihre Haare heimlich aus dem israelischen Gefängnis heraus für Krebspatienten spendeten.

Über die Wolke zur Welt

Die hier ausgestellte Kunst hat eine eigentümliche Wirkung. Noch das abstrakteste Werk schreibt sich in den konkreten Nahostkonflikt ein. Was auffällt, sind die Abweichungen vom gängigen Bild, das in der schweizerischen und der deutschen Öffentlichkeit von den Palästinensern vermittelt wird. Die Palästinenser erscheinen im IMA nicht primär als Opfer. Die Bevölkerung der arabischen Länder ist jung und hat das Bedürfnis, die Erzählung vom Leiden ihrer Väter und Grossväter zu ergänzen. Die heutigen Medien eröffnen ihnen neue Möglichkeiten und schaffen Verbindungen zu den Palästinensern im Exil und in die ganze Welt. Künstler:innen aus dem Gazastreifen, geboren zwischen 1990 und 2000, unter Embargo lebend und ohne Museen im Land, haben ihr «Museum in den Wolken» eingerichtet. Ihr in Paris gezeigtes Bild ist eine Ansammlung versteckter Strichcodes: ein Trampolin, das uns erlaubt mittels unserer Handys in ein virtuelles Museum einzutreten.

Während in unserer Öffentlichkeit «die» Palästinenser, wenn überhaupt, dann fast ausschliesslich als – unglückliches – Kollektiv erscheinen, sorgt die Kunst für eine Kommunikation zwischen Individuen. Und es ist berührend, in das Gesicht eines Palästinensers zu blicken, der illegal in Israel arbeitet (wie auf dem Foto von Raed Bawayah, *1971 Qutanna bei Ramallah); da braucht es keine weiteren (An)Klagen. Der individuelle Zugang erlaubt es, über die – deprimierende – Bilanz der Vergangenheit hinauszugehen und einen Blick in die Zukunft zu wagen, und zwar einen durchaus auch positiven, optimistischen, humorvollen. Ein trotziger Anspruch auf Lebensfreude ist zu spüren. «Occupied Pleasures» heisst eine grossartige Fotoserie der Jordanierin Tanya Habjouqa (*1975). Ein Bild zeigt eine Familie mit Kleinkind, entspannt in riesigen roten Fauteuils unmittelbar vor der monströsen Grenzmauer, der sie den Rücken zukehren. Jugendliche nutzen ein Trümmerfeld als Turnplatz – sie fliegen in kühnen Sprüngen durch die Luft. Auf Hajouquas Bildern wird mitten in der Zerstörung, in der Armut, im Dreck gelacht, geheiratet, getanzt.

Die letzte Waffe der Palästinenser:innen

Eric Delpont, im Pariser Institut verantwortlich für das Museum und die Ausstellungen, lobt die Kraft der Kunst, die es uns erlaube, «de nous évader», uns aus der Realität wegzuphantasieren. Wer in der Tradition der engagierten Kunst sozialisiert wurde, mag dieses Plädoyer für einen Rückzug in den Elfenbeinturm befremdlich finden. Im Kontext Palästinas aber ermöglicht autonome Kunst ein Stück Selbstbestimmung ausserhalb der Fremddefinitionen von Feinden und Zwängen. Dass wir alle Menschen seien, ist da keine Phrase. Für die Palästinenser:innen sei es darum gegangen «de regagner le fait d’exister, alors que cette existence était très longtemps niée et combattue, même dans le monde arabe», sagt Delpont. Eine Selbstvergewisserung war zu leisten. Die Gewissheit, als Palästinenser:innen zu existieren, musste wiedergewonnen werden. Und das scheint gelungen. Das aber hat seine politische Dimension, denn die letzte und unbesiegbare Waffe der Palästinenser ist ihre pure Existenz. Sie sind da. Es gibt sie. Da hilft kein Gewalt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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2 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 27.07.2023 um 19:20 Uhr
    Permalink

    Die Hoffnung stirbt zuletzt…

    Die Morallosigkeit des Wertewestens ist zur Genüge dokumentiert worden. Aber das Dictum «es kann der beste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt» stimmt leider immer noch.

    Die Dynamik der Medienpolitik scheint diese Entwicklung zu verstärken. Der Gedanke an «deep fake» wird unweigerlich zur zwingenden Polit-Korruptionshypothese. Muss dies so sein ?

  • am 28.07.2023 um 01:19 Uhr
    Permalink

    Wunderbar, eine sinnvolle Geste der Franzosen. Schade, dass in der Schweiz nur die wenigen Freundschaftsorganisationen mit Palästina Veranstaltungen und Lesezirkel mit palästinensischen Schriftstellern organisieren. Ein politisches Engagement wäre mehr als erwünscht, aber niemand wird Sanktionen oder Boykotte gegen Israel ergreifen, obwohl dieses Land rücksichtslos gegen das Völkerrecht agiert. Wer würde den Palästinensern Waffen liefern, um sich gegen den Einmarsch und die ständigen Bombardierungen zu wehren? Europa schweigt. Die Schweiz auch. Weshalb? Israel liefert uns Waffen und lädt die Schweiz zu Militärübungen ein… Da stehen einem die Haare zu Berge!

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