Kommentar

kontertext: In den Knast für eine Medaille

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Sich zu opfern für Grosses: Dieser Antrieb eint Olympionikinnen unserer Zeit und Dienstverweigerer aus den 1980er Jahren.

Der menschlichen Opferbereitschaft sind keine Grenzen gesetzt. Vor fast fünfunddreissig Jahren liess ich mich von der Militärgerichtsbarkeit der Schweizer Armee zu sieben Monaten Gefängnis verurteilen, um mir und meinen Zeitgenossen zu zeigen, wie wahr, gut und schön es ist, wenn ein empfindsames Individuum sich moralisch korrekt verhält, und wie falsch und hässlich, wenn ein Staat sein Recht in unsinnigen Gesetzen statuiert. Es kam mir nicht nur unsinnig, sondern anstössig vor, dass junge Seelen das Gewaltmonopol der Armee verkörpern sollten, indem sie bewaffnet durch den Matsch des Mittellandes robbten, und dies in einem Alter, das gern zart genannt wird. Zart an mir war damals nur mein flaumiges Kinn, sonst fühlte ich mich kampfeslustig, wenn es darum ging, die Institutionen der Väter herauszufordern – in den Köpfen der Erwachsenen Kalter Krieg, eisig wie eh und je, und daneben die lauwarme Gegenwart eines Gymnasiasten. Da konnte etwas gelebte Temperaturdifferenz nicht schaden. So habe ich fünfeinhalb Monate im Berner Seeland hinter Zäunen und Mauern verbracht, die seltsam attrappenhaft wirkten, weil jeder, der dort zur Zwangsarbeit auf den Feldern war, ohne weiteres hätte ausbüchsen können. Einige taten es und wurden wieder geschnappt, ich blieb, wo ich war, unter Betrügern, Dealern und Gattenmördern, vielleicht, weil ich mich der Situation stellen und die Konfrontation in ihrer Härte spüren wollte – j’adore ce qui me brûle. Zu dieser Konfrontation war es gekommen, weil es mir recht war, wenn aus dieser Meinungsverschiedenheit des Einzelnen mit dem System ein Fall wurde, verhandelt vor Divisionsgericht, getreu der Devise: Nur was öffentlich einsehbar ist, kann zum Politikum werden. 

«Wolltest du dich opfern, um etwas Unterdrücktes sichtbar zu machen?», hat meine Nachbarin Annette mich gefragt. Sie arbeitet als Agogin in einer sozialen Institution. Neulich sprachen wir über das Brandschutzdispositiv ihres Heims. Priorität habe der Schutz der Mitarbeitenden, sagte sie. Das klinge befremdend, doch als sie gegen diese Weisung aufbegehrt habe, habe der Hausmeister gefragt: «Was gewinnen wir, wenn die Retterin und der Gerettete sterben? Zwei Tote.» Trotzdem sei sie überzeugt, sagt Annette, dass die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen mehr als nur Rauchgasvergiftungen riskieren würden, um Klientinnen zu retten: «Tatenlos zusehen möchte man ja nicht. Und wann ist der Helfertrieb stärker als wenn es brennt?» 

Auch in Europas Musterdemokratie brannte es damals, Mitte der 1980er-Jahre, sichtbar wie auch im Verborgenen, und dieses Verborgene sollte öffentlich werden, zum Beispiel im Film Züri brännt über die Zürcher Jugendunruhen. Ich fühlte mich als Pionier in jenen Jahren, als Teil einer grösseren, in die Zukunft gewandten Bewegung, und wollte nicht tatenlos zusehen, wenn es um die schwerbewaffneten jungen Männer in den Schweizer Eisenbahnen ging, um den Kalten Krieg, der mir lauwarm vorkam, doch allgegenwärtig: Milizionäre reisten waffenbehängt durch die zivile Schweiz, und niemand stiess sich daran, im Gegenteil, das Feldgrün ihrer Kampfanzüge beruhigte das Gemüt und weckte nostalgische Erinnerungen an die Kriegsjahre, als man, in der Not vereint, Kartoffeln angebaut hatte und in den engen Grenzen des Landes zusammengerückt war. Im Jahr 1985 aber standen die Sturmgewehre einhellig mit Fahrrädern und Skiern im Vorraum der Bahnwaggons, als handle es sich bei dem, was die Rekruten in ihren Kasernen trieben, um organisierte Freizeitbeschäftigung. 

Während ich mit Annette über Fragen spreche, die ich «Güterabwägung» nenne, obwohl es nicht um Güter, sondern um Menschen in brennenden Heimen geht, flackert ein Bericht zur bevorstehenden Winterolympiade über den Schirm. Bei Annette läuft permanent der Fernseher – wenn sie isst, wenn sie putzt, wenn sie Gäste empfängt. Also sehen wir grosse Mengen von Kunstschnee rund um Peking, verwaiste Sprungschanzen, weit draussen schlängelt sich eine Rodelbahn pythongleich die Hänge hinab, und dazwischen – das olympische Dorf. Dieser Begriff wirkt unangemessen, zu putzig, angewandt auf solche abgeriegelten Festungsanlagen. Die Athletinnen leben dort scharf bewacht und abgeschnitten von der nichtolympischen Welt. Auf den Plätzen bilden Überwachungskameras regelrechte Trauben, zu den Wettkampf-Arenen führen unterirdische Gänge, abends um elf verschliessen sich die Hotelzimmer selbst. Minibars gibt es keine, und in der Kantine wird nur abgepacktes Essen angeboten: Ein Greifarm setzt es auf dem Tisch ab, dann und wann schlurfen im Hintergrund Schwerstvermummte vorbei. Abendlicher Ausgang ist nicht möglich. Wer gegen die Regelungen dieses Dispositivs verstösst, riskiert den Auschluss von den Spielen; die App, ohne die es keine Akkreditierung gibt, zieht private Gesundheitsdaten ab. Stichprobenartig, man könnte auch sagen: überfallartig werden Athletinnen zum Coronatest geführt. Diese Szenen atmen einen Gestapo-Geist, einzig die Uniformen passen nicht ins Bild – statt hoher Lederstiefel trägt die Eingreiftruppe Laborausrüstung, und die Opfer werden nicht zur Erschiessung abgeführt, sondern zur Einführung eines Wattestäbchens. Ob sie sich selber als Opfer sehen, ist nicht zu erkennen, aber eines steht fest: Diese olympischen Dörfer sind Gefängnisse. Die Devise lautet: In den Knast für eine Medaille. 

Auch Annette wirkt etwas ratlos vor diesen Bildern. Vermutlich ordnen die Curlerinnen und Bobpiloten dem sportlichen Erfolg alles unter, weshalb sie bereit sind, vorübergehend sogar auf ihre Bürgerrechte zu verzichten. Oder verstehe ich sie falsch, sind sie in Wirklichkeit sportbegeisterte Menschenrechtsaktivisten? Zeigen sie, indem sie sich freiwillig in Haft begeben, Solidarität mit den Uiguren, die im selben Land eingesperrt sind? – Diesen Scherz findet Annette ziemlich überzogen. Sie sagt: «Hast nicht auch du diese sieben Monate auf dich genommen, um deine Sache durchzuziehen? Und das war eine bedeutend längere Zeit. So lange dauert kein Turnier.» 

Mag sein, dass es attraktiv war, sich für eine gute Sache hinzugeben. Auch damals, so wie jetzt in Peking, war es ein Opfer mit Publikum. Ein seltsamer Tausch: etwas Öffentlichkeit für den Verzicht. Im Unterschied zum heutigen China erinnert die Alpendemokratie der 80er-Jahre aber eher an eine grotesk gealterte Domina, deren Peitsche keinen Schrecken mehr verbreitet. Chinas Parteidiktatur dagegen ist straff durchorganisiert und glaubt an die Wirkung ihrer Strafen.

Annette insistiert. Sie will, dass ich mehr erzähle von jener Zeit, und ich muss zugeben: Für meine Eltern war mein Opfer weniger lustvoll als für mich. Sie konnten nur auf meine Anrufe warten und hoffen, dass das Knastleben mich nicht aus der Bahn werfen würde. Ich dagegen hatte meinen Konflikt; ich konnte zeigen, wie hässlich er eskalierte – ich konnte mir selbst beweisen, dass man etwas tun kann, auch wenn die Fronten verhärtet scheinen. Ich machte eine passable Figur dabei, und der Staat fraglos eine erbärmliche. Wer verdonnert schon einen kaum schulentlassenen Flaumbart zu sieben Monaten Haft, um dann wegen ‹guter Führung› einen Drittel zu erlassen? Nur jemand, der einen Sprung in der Schüssel hat. Und ich mit meinen zwanzig Jahren lebte in der Illusion, genug Lebenszeit für ein Tänzchen mit Gevatter Staat übrig zu haben – diese Monate warf ich gern auf, für eine Tapferkeitsmedaille, die man sich in den Giftschrank hängt. So wie heute diese Wintersportlerinnen, die sich sagen können: Fünf Wochen Quarantänehaft sind ein vertretbarer Preis für eine Medaille, selbst wenn der Altar, auf dem sie geopfert werden, in einem Schurkenstaat steht. Wenn sie Jahre später ihr Edelmetall zeigen, ihren Enkeln womöglich, wird Peking vergessen sein, und auf den Fotos wird ihr Bob in den vertrauten Landesfarben erstrahlen. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020). 

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer und Felix Schneider.  
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

3 Meinungen

  • am 7.02.2022 um 12:59 Uhr
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    Die gealterte Dame damals verhängte aber auch noch Berufsverbote. Und verfolgte kritische «Elemente» und fichierte sie. Die «Institutionen der Väter» waren einschneidend für solche, die die gedankliche Auseinandersetzung mit Gesellschaft gleichberechtigt neben die herrschende Arbeitsnorm stellen wollten.

  • am 7.02.2022 um 13:20 Uhr
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    China ist sicherlich kein Hort der individuellen Freiheit und Demokratie, aber Schurkenstaat? Dieses Wort ist absolut nichtssagend und ein rein politischer Begriff mit dem die USA, ihr nicht genehme Länder, zu diskreditieren versucht.
    Der Autor wollte diesem Satz .. » Fünf Wochen Quarantänehaft sind ein vertretbarer Preis für eine Medaille, selbst wenn der Altar, auf dem sie geopfert werden, in einem Schurkenstaat steht.» .. wohl etwas Dramatik verleihen, hat damit jedoch in einem sonst durchaus interessanten Text eine etwas riechende Note hinterlassen.

  • am 7.02.2022 um 17:01 Uhr
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    Lieber Michel,
    ich war in meiner beruflich aktiven Zeit Lehrer, und nach meiner Gymnasialzeit richtig froh, endlich das richtige Leben kennen zu lernen und für Gott und Vaterland durch den Dreck zu robben: Was für ein hehres Gefühl für jeden echten Schweizer!
    Doch schon nach einer Woche erlebter Realität war meine Begeisterung der totalen Ernüchterung gewichen und ich hasste das Militär mit seinem gottvergessenen Unsinn, das Töten so perfekt zu lernen, dass es einem im Ernstfall leicht fallen würde. Heute finde ich es immer noch verbrecherisch –
    Ich hatte nicht den Mut, mich für diese Überzeugung wie einen Schwerverbrecher einsperren zu lassen: Die Parlamentarier hätten hinter Gitter gehört, die solche menschenverachtenden Beschlüsse fassten!
    Ich habe allerdings diesen Schrecken wenigstens indirekt miterlebt: Einer meiner intelligentesten Schüler entschied sich gegen das staatlich angeordnete Tötenlernen. Ich besuchte ihn einige Male: Wir waren zum Glück durch dickes Panzerglas voreinander geschützt, denn wir waren ja beide sehr gefährlich!
    Und es werden weiterhin – von den Stimmbürger*/innnen genehmigt – Milliarden für das Töten Lernen zum Fenster hinausgeschmissen, obwohl weit und breit kein Feind in Sicht ist.
    Aber Halt! Fast hätte ich vergessen: Der ferne Joe und der nahe Bundesrat werden schon dafür sorgen , dass die bösen Russen, wie gewünscht, endlich doch die Ukraine angreifen. Dann könnten unsere Piloten im Dienste der NATO echte Bomben auf Moskau abwerfen.

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