Kommentar

kontertext: Wespenstiche gegen den Rassismus

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Von der Notwendigkeit antirassistischer Sprachirritation – und von ihren Grenzen.

Genervt und etwas hochmütig, wie man etwa eine lästige Wespe verscheucht. So reagierte in letzter Zeit die NZZ mit mehreren Artikeln auf die Sprachregelungen, die von politischen Bewegungen, von Frauen-, LGBTQ- und Antirassismus-Bewegung, gefordert werden. Gegenderte Sprache? Diskriminierungsfreies Schreiben? Das ist doch unnötig komplizierte Zwängerei! Unästhetische Belästigung! Einschüchterung, die zum Verstummen führt! Man kann bald gar nichts mehr sagen! Tyrannei wie in Orwells «1984»! Links-liberaler Meinungsterror! So ungefähr der Tenor der Artikel (hier, hier und hier).

Das Wort – ein mächtiges Instrument

Gegen die Verniedlichung des ganzen Problems holen wir uns Beistand bei Übervater Freud, dessen Zitat ich in einem lesenswerten Diskussionspapier von Marianne Albrecht gefunden habe:
«Wir wollen übrigens das Wort nicht verachten. Es ist doch ein mächtiges Instrument, es ist das Mittel, durch das wir einander unsere Gefühle kundtun, der Weg, auf den anderen Einfluss zu nehmen. Worte können unsagbar wohl tun und fürchterliche Verletzungen zufügen. Gewiss, zu allem Anfang war die Tat, das Wort kam später, es war unter manchen Verhältnissen ein kultureller Fortschritt, wenn sich die Tat zum Wort ermäßigte. Aber das Wort war ursprünglich ein Zauber, ein magischer Akt, und es hat noch viel von seiner alten Kraft bewahrt.» 1)

Auch dass wir sprachlos werden, wenn wir auf Wörter verzichten, die vom Kolonialismus und Rassismus kontaminiert sind, stimmt natürlich nicht. Das lässt sich an einer Parallele zeigen: Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit hat zur Beseitigung oder Infragestellung einer erklecklichen Anzahl von Wörtern wie «Rasse», «Führer», «Machtergreifung» etc. geführt, ohne dass deswegen der historische Diskurs gelitten hätte. Im Gegenteil. Viele Jahre haben wir von der «Kristallnacht» gesprochen, bis wir bemerkt haben, dass das ein verharmlosender Propagandabegriff der Täter ist. Der seither verwendete Begriff vom Novemberpogrom ist präziser und menschlicher.

Uns fehlen die Worte

Ganz unerträglich ist es, wenn gemütlich lebende weisse RedaktorInnen entscheiden, was für andere, von Rassismus Betroffene, verletzend oder nicht verletzend sei. Da möge man doch eher die Betroffenen fragen!

«Wir haben deshalb so wenige Worte, um über Rassismus zu sprechen, weil es nicht Teil unserer Kultur ist, über Rassismus zu sprechen», sagt die Autorin und Psychologin Marina Weisband in einem Meinungsbeitrag für den Deutschlandfunk. In der Tat: Für «people of color» haben wir im Deutschen keine Entsprechung, aber wir reden in einer Selbstverständlichkeit von «Rassenunruhen» …
Die Notwendigkeit antirassistischer Sprachirritation ist also evident. Und gleichzeitig besteht die ebenso evidente Gefahr, die Arbeit an der Sprache zu überschätzen. Dazu zunächst zwei Geschichten:

Schoggikopf 1
Basel, Ende 90er Jahre. Wir haben gerade das Wort «Mohrenkopf» durch «Schoggikopf» ersetzt. Ich will am Bahnhof in ein «Trämli» einsteigen, aber es geht nicht voran, vor der «Trämli»-Türe bildet sich ein Stau. Hinter mir ruft einer: «Dä Schoggikopf doo vorne söll emol Platz mache!»

Schoggikopf 2
Im Stadion, während eines Fussballspiels. In einer der Mannschaften rennt ein schwarzer Spieler über den Rasen, der seine Haare ganz hell, fast weiss, gefärbt hat. Aus dem Publikum ruft einer: «Dä aabisseni Schoggikopf söll emol voraamache!»

Beide Mal ist der diskriminierende Begriff durch den korrekten ersetzt worden. Beide Mal ist mit dem korrekten Begriff Diskriminierung und Beleidigung artikuliert worden. Der Rassismus sitzt auch im Individuum tiefer als die isolierte Begrifflichkeit. Auf die (bewusste oder unbewusste) Intention, auf den Kontext und auf die Art der Sprachverwendung kommt es an.

Ein Wespenstich ist keine Ektomie

Sprachreflexion ist ein Wespenstich, der heilsame Irritation verbreiten kann. Mehr nicht. Arbeit an der Sprache kann von jedem Individuum sofort und umstandslos geleistet werden. Sie verführt manchmal dazu, komplizierte Zusammenhänge auszublenden und sich dem magischen Denken hinzugeben. Wenn in Turkmenistan als Massnahme gegen die derzeitige Pandemie einfach das Wort Coronavirus verboten wird, so lachen wir hierzulande. Aber es besteht durchaus Anlass, darüber nachzudenken, wie weit unsere Jagd auf einzelne Wörter uns in angenehmer Weise davon dispensiert, die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Ursachen des Rassismus zu thematisieren. Wo wurzelt der Rassismus in den USA? Doch nicht nur in der Seele von Menschen, sondern im skandalösen Gefängnissystem, in der Armut, in der Ungleichheit der Bildungschancen, in der Todesstrafe, in der Klassengesellschaft. Antirassismus in der Schweiz wird nicht darum herumkommen, die historische Rolle des Landes im Kolonialismus aufzuarbeiten, die Flüchtlingspolitik zu skandalisieren, mehr Diversität im Personalbestand von Behörden, Medien und Firmen zu verlangen, die Rolle des Landes in der Weltwirtschaft anzuprangern – ja, die Konzernverantwortungsinitiative ist auch ein Stück Antirassismus.

Es gibt eine Form des naiven Idealismus, der sich, so gut er gemeint ist, gegen die Menschen kehrt. In einem Gastkommentar in der NZZ war kürzlich zu lesen, wie sich die Autorin den Zusammenhang zwischen dem Holocaust und dem Antijudaismus im Alltag vorstellt. Sie beruft sich bei ihren Ausführungen auf Äusserungen von Anita Lasker-Wallfisch, so wie sie sie verstanden hat:
Der Holocaust «begann in einem Klassenzimmer», «vor der Wandtafel, als ein Mitschüler zu einem anderen sagte, er solle dem Juden nicht den Schwamm geben». «Ein Wortaustausch unter Kindern» markiere «den Beginn eines Völkermordes».
Wenn der Weg vom Gedanken über das Wort zur Tat dermassen verkürzt und als nahezu zwangsläufig gesetzt wird, so nimmt man den Menschen ihre Freiheit und damit ihre Verantwortung. Nein, auf dem Weg zwischen der Wandtafel und der Gaskammer haben Tausende von Menschen gehandelt, wie sie gehandelt haben – die meisten hätten auch anders handeln können. Und dafür sind sie verantwortlich.

Ist Sprechen eine Tat?

Claudia Mäder hat in einem lesenswerten NZZ-Kommentar unter Berufung auf Judith Butlers Buch «Hass spricht» unterschieden zwischen Aussagen mit verschieden starker performativer Kraft. Wenn die Standesbeamtin sagt: «Hiermit erkläre ich euch zu Frau und Mann», so ist dieser Satz eine Handlung. Claudia Mäder: «Doch längst nicht alle Sprechakte verfügen über diese direkte performative Kraft. Beleidigungen und Diffamierungen, die eine Herabwürdigung intendieren, wirken gerade nicht auf diese Art.» Mäder konkretisiert: «Wie ich auf den Satz ‹Frauen sind minderbemittelte Wesen› reagiere, vermag der Absender dieser Botschaft nicht zu kontrollieren. Möglich, dass ich mich tatsächlich getroffen fühle, möglich aber auch, dass ich den Kopf schüttle oder mit einem zweistündigen Vortrag über Judith Butlers Theorie des Performativen widerspreche. In den letzteren beiden Fällen misslingt der verletzende Sprechakt.» Butlers Gedanke sei, so Mäder, darauf ausgerichtet, «die Diffamierten aus der Starre der Opferrolle herauszuführen».

Wilson – Wohltäter und Rassist

Jean Ziegler hat kürzlich in der Zeitung «work» darauf hingewiesen, dass Genf seine weltweite Bedeutung dem US-amerikanischen Präsidenten Wilson verdankt. Und die Stadt erwies sich ihm als dankbar. Bis heute gehen die GenferInnen am «Quai Wilson» spazieren, die UNO tagt im «Palais Wilson» und daneben steht das Hotel «Président Wilson». Nur eben: Die antirassistische Bewegung hat gerade daran erinnert, was dabei verleugnet wurde: dass Wilson nicht nur den Völkerbund gegründet hat, sondern auch «ein wüster Rassist» war. Und Ziegler setzt gleich noch eins drauf: Voltaire, dessen philosophisches und publizistisches Werk Aufklärung und Emanzipation der Menschheit vorangebracht hat – dieser Voltaire hat sich gleichzeitig am Sklavenhandel bereichert.
Wie umgehen mit Geschichte, in der Gut und Böse selten sauber getrennt sind? Ambiguitätstoleranz war früher mal ein wichtiges pädagogisches Ziel – aber heute?
Die zivilgesellschaftlichen Bewegungen stürzen die Denkmäler. Das sind berechtigte Handlungen des Zorns. Antirassistische Aspekte müssen ja in unsere Kultur erst mal hineingeboxt werden. Und das wird kaum ohne Gewalt gehen. Zu dieser bitteren Erkenntnis ist kürzlich sogar «Nordstrom» gekommen, die exklusive Warenhausgruppe, deren Geschäfte geplündert wurden. Die Warenhauskette begründete ihren Verzicht auf Schadenersatz-Ansprüche mit der Einsicht, dass «Gewalt die einzige verbleibende Sprache ist, mit der afroamerikanische Mitbürger auf ihre gerechtfertigten Forderungen aufmerksam machen können». Die Beseitigung der Denkmäler ist indessen nicht in jedem Falle eine dauerhafte und nachhaltige Lösung, weil sie die Geschichte beseitigt.

Der malträtierte König

Ich habe neulich das Bild einer Statue des belgischen Königs Leopold II. gesehen – beschädigt und versehen mit antirassistischen Parolen. Das schien schon eher ein adäquates Denkmal zu sein. Jedenfalls besteht die grosse ästhetische Herausforderung darin, Formen zu finden, die an die Geschichte mit ihren Verbrechen und Ambivalenzen erinnern.
Dabei ist das Bemühen, die Geschichte zu reinigen, ganz und gar kontraproduktiv. Manche Saubermänner wollen aus alten Kinderbüchern oder anderen Texten einzelne Wörter herauszensurieren und durch heute korrekte Begriffe ersetzen. Dieses Verfahren zerstört Geschichte und Gedächtnis, es neigt zum Totalitarismus. Nehmen wir ein Beispiel. Max Frisch war kein Rassist. Aber er schrieb, als er Anfang der 50er Jahre in den USA war, den Text «Begegnung mit Negern». 2) Dieser Text ist in manchen Unter- und Nebentönen ein Beleg sowohl für den rassistischen Charakter der damaligen Kultur als auch für Frischs Bemühen, sich dem zu entwinden. Davon, von beidem, müssen wir reden, offen und direkt.

1) Sigmund Freud: Die Frage der Laienanalyse, In S. F. Gesammelte Werke, S. Fischer, Frankfurt am Main 1976, Bd. XIV, p. 214

2) Max Frisch: Gesammelte Werke, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, Bd. 3, p. 243

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  • Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

    Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium (Deutsch, Französisch, Geschichte). Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

      Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.

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    4 Meinungen

    • am 1.09.2020 um 13:15 Uhr
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      Niemand hindert uns, gescheiter zu werden. Und was vor 100 Jahren völlig normal war, ist heute unkorrekt. Wenn man jetzt aber alle Geschichtsbücher darauf absucht, wer einmal etwas gesagt hat, das nach heutigen Empfinden nicht korrekt ist, wird sich hoffnungslos verheddern. Heute geht es darum, die aktuell gültigen Werte zu achten. Dies aber auf eine Art und Weise, die man auch bewältigen kann. Diese unsäglichen Lokführer*innen gehen einfach nicht. Wie soll man das sprechen? Und dass man jetzt auch noch sämtliche Arten von abweichenden Geschlechtsidentitäten berücksichtigen soll, führt uns dann in ein abschliessendes Sprachchaos in dem der Sinn eines Satzes unterzugehen droht. Wenn man Lokführerinnen und Lokführer meint, sollte so viel Zeit und Platz sein, das auch so zu schreiben. Und wenn eine oder einer dieser Lokomotive führenden Menschen geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnen ist, ist das seine bzw. ihre Privatsache.

    • am 2.09.2020 um 09:32 Uhr
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      Für mich ist es eine gefährliche Veränderung der Geschichte.
      Wir haben im mittleren Europa unser Spracherbe im lateinischen. Das Wort «Neger» beschreibt aus dem lateinischen einen «Schwarzen». Was also ist daran falsch ?
      Mohr – beschreibt keinen Schwarzen, sondern einen Mauren aus Mauretanien, welche notabene einst uns selbst versklavten. Auch da sehe ich absolut nichts verwerfliches dahinter.
      Im Gegenzug aber, wird NUR die schwarze Bevölkerung beschrieben. Ausgerechnet allen voran die Amerikaner, welche aber gerne darüber schweigen, wie sie mit ihrer eigenen Urbevölkerung umgehen und umgegangen sind.
      Alle Weissen dürfen auch weiterhin diskriminiert werden. So fressen wir noch immer ‹Berliner›, ‹Hamburger›, Wiener Würstchen› und schnetzeln Zürcher und benutzen ungehemmt ‹Pariser›. Das alles scheint egal zu sein.
      Die Ungarn diffarmieren wir neuerdings als Zigeuner, weil die als Pendent zur Zigeunersauce hinhalten müssen. Wir aber haben selber fahrende, wie zB die Manischen oder die Jenischen, welche in sich selbst standhafte Eidgenossen sind und von unserer Gesellschaft selbst geächtet wurden und noch immer werden. Das wundert mich umso mehr.
      Bei all diesen Rassismus-Vorwürfen, wäre es wichtig, dass man unsere Sprache wirklich kennt und sich mal darüber interessiert, woher diese Begriffe stammen und weshalb…..

    • am 2.09.2020 um 15:21 Uhr
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      Als Einheimischer erfahre ich (hier) Herabsetzungen, gegen die man sich zur Wehr setzen kann – und soll! In «Ganz unerträglich ist es, wenn gemütlich lebende weisse RedaktorInnen entscheiden» offenbart sich ein Schuldkomplex, der nicht eindeutig zuzuordnen ist. Ich frage darum einfach mal nach, ob sich hinter dem Ausschreiben solcher Vorwürfe nicht bloss ein eigener und persönlicher Schuldkomplex verbirgt. Das Übertragen der eigenen Schuldgefühle auf andere könnte so als Erlösung davor empfunden werden.

      Die gegenwärtige Diskussion um Rassismus ist im Grossen und Ganzen eine Stellvertreterdiskussion, weil es schmerzhaft ist, das Eigentliche direkt anzusprechen: Traumata. Das Verletztsein können wir aussprechen, aber im Aussparen der tieferen Traumata kommen wir keinen Schritt weiter. Oft geht dann die Sache den wohlbekannten Weg: Es ist das Ziel, Diskurshoheit zu erlangen, wie ich das in unzähligen Beispielen habe erleben können. Das sind wohlverstanden Gegenreaktionen auf Traumata, die stracks zu Narzismen führen. Aber wollen wir diese? Narzismen scheinen weit besser akzeptiert zu sein als Traumata, denn wer möchte sich z.B. verletzbar zeigen?

      Die Diskussionen um Ungleichheiten (in der Sprache und sonstwo) sind nicht nur strukturell zu führen, denn es sind nicht nur Strukturen, welche Gewalt ausüben, sondern zumeist Menschen. Wie diese miteinander umgehen, liegt stark darin begründet, wie sie sich ihrer Identität, also ihrer Stärken und Schwächen bewusst sind.

    • am 3.09.2020 um 17:01 Uhr
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      An: Andreas Hagenbach.
      Vielen Dank für Ihren ausgezeichneten Beitrag!
      Freundliche Grüsse Matthieu Chanton

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