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Russen sind jetzt Verstössen gegen Menschenrechte ausgeliefert

Red. /  Die Suspendierung und der folgende Rückzug Russlands aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat weitreichende Folgen.

upg. Folgender Gastbeitrag erschien in der Zeitschrift «Mensch und Recht», welche der Jurist Ludwig A. Minelli herausgibt.


Für 144,5 Millionen Einwohner Russlands ist am 16. September 2022 der Schutz ihrer Menschenrechte durch die Institutionen der Europäischen Menschenrechtskonvention weggefallen. Das dürfte der grösste Kriegsschaden sein, der zufolge des Putin’schen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf der Bevölkerung des flächenmässig grössten Landes der Erde lastet. 

Russland suspendiert, dann ausgeschlossen

Der Europarat hatte am 25. Februar 2022 die Mitgliedschaft Russlands nach dem Angriff auf die Ukraine suspendiert. Als Folge davon erklärte Russland am 15. März den Austritt. Darauf schloss der Europarat Russland endgültig aus. Russland erklärte, das Land werde Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR, die nach dem 15. März ergangen sind, nicht mehr beachten.

Mitte September ging die Übergangsfrist von sechs Monaten seit dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat, der am 16. März 2022 erfolgt ist, zu Ende. Dazu hat die Generalsekretärin des Europarates, Marija Pejčinović Burić, folgende Erklärung veröffentlicht:

«Es ist sehr bedauerlich, dass sich Russland durch den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention weiter von der demokratischen Welt entfernt und über 140 Millionen russischen Bürgern den Schutz der Konvention vorenthält.
Der Europarat wird weiterhin Menschenrechtsverteidiger, demokratische Kräfte, freie Medien und die unabhängige Zivilgesellschaft in der Russischen Föderation unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten. Wir hoffen, dass die russischen Bürger eines Tages wieder den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention in Anspruch nehmen können.
Gemäss der Konvention ist die Russische Föderation rechtlich verpflichtet, alle Urteile und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf ihre Handlungen oder Unterlassungen umzusetzen, die bis zum 16. September 2022 eintreten. Der Europarat wird weiterhin alles in seiner Macht Stehende tun, um Gerechtigkeit zu schaffen und die beteiligten Personen zur Rechenschaft zu ziehen.»

Mitgliedschaft war stets umstritten

Die Mitgliedschaft Russlands im Europarat und damit dessen Bindung an die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK war stets umstritten:
Supermächte unterwerfen sich in der Regel keinen solchen Beschränkungen – wie die USA zeigen, die bis heute der Amerikanischen Menschenrechtskonvention AMRK aus reinen Machtüberlegungen noch immer nicht beigetreten sind. 

Zu Recht wurde geltend gemacht, die (relative) Grossmacht Russland erfülle die Bedingungen für einen Rechtsstaat nur zum Teil und werde nicht demokratisch regiert. Doch ein Argument sprach vehement dafür, Russland in den Europarat aufzunehmen: Es war das alleinige Mittel, um für dessen Bevölkerung die Bedrohung durch die Todesstrafe zu beseitigen. 

Seit Russland 1996 dem Europarat beigetreten war, wurde dort keine Todesstrafe mehr vollstreckt. Drei Jahre später untersagte das Verfassungsgericht der Russischen Föderation die Vollstreckung ausgesprochener Todesstrafen auch noch formell. 

Ob Russland unter seiner gegenwärtigen Führung auch in dieser Hinsicht wieder in die alte Barbarei zurückfällt, wird die Zukunft zeigen; entsprechende Absichten hatte schon vor längerem Dmitri Anatoljewitsch Medwedew, der Gefolgsmann Putins, geäussert.

Viel Arbeit für «Strassburg»

Die Ausdehnung der EMRK auf das Gebiet Russlands hat die Arbeitslast des Europäischen Menschenrechts-Gerichtshofs (EGMR) in Strassburg seit 1996 gewaltig erhöht. 

Am 30. Juni 2022 waren am Gerichtshof 72’750 Beschwerden hängig, davon noch 17’550 Verfahren gegen Russland – etwas mehr als 24 Prozent aller hängigen Fälle –, deren Behandlung fortgesetzt wird. Der Gerichtshof hat sich in den letzten sechs Monaten bemüht, noch über eine grosse Anzahl russischer Beschwerden zu entscheiden. Doch das blieb nur ein Tropfen auf den heissen Stein. 

Gerichtssprengel ist kleiner geworden

Der Europarat zählt nun noch 46 Staaten. Durch den Wegfall Russlands ist der Gerichtssprengel des EGMR enorm geschrumpft: Reichte er vorher von Island und Irland im Westen bis nach Wladiwostok und zum Autonomen Kreis der Tschukten an der Lagune von Uelen am äussersten Zipfel Sibiriens an der Beringstrasse, so ist nunmehr dessen Ostgrenze im Norden unseres Planeten um mehr als 5’000 Kilometer nach Westen verschoben worden. Sie verläuft jetzt an der norwegischen und finnischen Ostgrenze. 

Zum Europarat Sorge tragen

Es ist für den Schutz der Menschenrechte und des Friedens in Europa von grosser Bedeutung, dass der Europarat seine seit 1949 andauernde Menschenrechts- und In­te­grationsarbeit weiterführen kann. 

Im Unterschied zur EU stellt er eine sehr schlanke Organisation dar, die sich im Interesse der 46 Staaten mit ihren 676 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern nicht nur um Menschenrechte verdient macht, sondern auch um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Er will dazu – fern jeglicher Machtpolitik – einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern verwirklichen.  

Das Mittel dazu ist die Stärkung der Idee, Europa in seiner Vielgestaltigkeit zu respektieren und diese dadurch vor allem auch gegenüber aussereuropäischen hegemonischen Ideen wirksam zu verteidigen, indem auf vielen Rechtsgebieten vereinheitlichte Regeln geschaffen werden, so dass sich die hier lebenden Menschen nicht nur als Staatsbürger, sondern auch als Europäer empfinden können.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der Umgang mit Putins Russland

Russland zwischen Europa, USA und China. Berechtigte Kritik und viele Vorurteile.

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Menschenrechte

Genügend zu essen. Gut schlafen. Gesundheit. Grundschule. Keine Diskriminierung. Bewegungsfreiheit. Bürgerrechte

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8 Meinungen

  • am 31.10.2022 um 12:02 Uhr
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    Mir will sich das politische Kalkül nicht erschließen, Russland aus allem auszuschließen und alle Verbindungen zu kappen. Wie soll denn eine zukünftige europäische Ordnung aussehen?
    Es wird Jahrzehnte benötigen, den Schaden wieder zu beheben, wenn nicht sowieso der GAU eintritt.

    Warum haben wir die USA wie Herpes in Europa, und lassen uns unsere Belange diktieren von einem Staat, von dem uns Tausende Kilometer trennen, dahingehend dass wir das Tischtuch zu unserem geographischen Nachbarn so zerreißen?
    Sogar CH geriet in diesen Sog – warum wurde leichtfertig die kosbare Neutralität geopfert, warum sollten F-35 angeschafft werden?
    Der Eindruck einer politischen Korruption, dass europäische Politiker US-Interessen bedienen statt genuin europäischer drängt sich auf. Dies sekundiert von den Medien – wie bei Corona wird jede Maßnahme desto mehr gefeiert, je absurder sie ist.

    Währenddessen gehen Sterben und Zerstörung in der Ukraine dank der «Hilfe» des Westens unvermindert weiter, ach…

  • am 31.10.2022 um 15:28 Uhr
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    Nein. Ich sehe das Problem der Menschenrechte in Europa bzw. EUSA.

  • am 31.10.2022 um 18:37 Uhr
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    Realistischerweise muss man sehen, dass der Nutzen des EGMR für Menschen in Russland schon in den Jahren vor der Suspendierung stark abgenommen hat.
    Und heute könnten russische Bürger wohl auch dann nicht mehr vom EGMR profitieren, wenn Russland nicht ausgeschlossen worden wäre. Ich glaube, Putin würde die Urteile des Gerichts einfach ignorieren.

  • am 31.10.2022 um 22:11 Uhr
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    Das Völkerrecht ist ausgehebelt und jeder stellt seine eigenen Regeln auf. Europa weil sie von den USA finanziert, gekauft sind, Russland weil sie die gleichen Interessen vertritt wie ehemals die USA im Kubakonflickt. Wir Europäer stellen das Schlachtfeld auf dem der mögliche Atomkrieg ausgetragen wird. Die USA betrifft es nicht, sind weit genug weg und die Russen sind gross genug sich zurück zu zeiehen auf bewohnbare Gebiete.
    Die Verlierer sind wir und Russland, die Gewinner die USA die nur noch das geschwächte China vor sich haben. Schöne neue Welt….

    • am 1.11.2022 um 14:59 Uhr
      Permalink

      Ich glaube, das sehen Sie zu einfach.
      Wenn es zum Atomkrieg eskalieren würde, wäre das auch für die USA eine Gefahr. Die Russen haben (genau wie die USA) Langstreckenraketen. Die könnten über den Atlantik (oder über den Nordpol) fliegen.

    • am 1.11.2022 um 15:03 Uhr
      Permalink

      Ich glaube, Sie sehen das zu einfach.
      Wenn es zum Atomkrieg eskalieren würde, wäre auch die USA gefährdet. Die Russen haben (gleich wie die USA) Langstreckenraketen. Die könnten über den Atlantik (oder den Nordpol) fliegen.

      • am 2.11.2022 um 18:58 Uhr
        Permalink

        @ Daniel Heierli Was Sie schreiben, finde ich logik- bzw. realitätswidrig. Falls es egal wäre, wo Atomwaffen stationiert sind, hätten die USA 1962 nicht mit unmittelbarem Atomkrieg gedroht wegen Kuba; und dann wären die USA auch nicht derart interessiert, ihre (heute sogar um Welten moderneren) Atomwaffen immer näher an die empfindlich Westflanke Russlands (nahe Moskau) zu schieben.
        @ Und betreffend «Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR» (Strassburg) empfehle ich den Vergleich mit dem Internationalen Strafgerichtshof (Den Haag): die fachgerechte Erklärung liefert dieses MdB im Deutschen Bundestag:
        https://www.youtube.com/watch?v=H2u2KSiDm94
        Hingegen westliche Leitmedien wie welt.de finde ich (…) falsch:
        https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus238176893/Der-Internationale-Strafgerichtshof-kann-Putin-richten.html

  • am 2.11.2022 um 19:36 Uhr
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    Russland hat seit 1996 keine Todesstrafe mehr vollzogen.
    In den USA gibt es 2022 noch 33 Staaten in welchen die Todesstrafe anwendbar ist.
    z.t. gegen Minderjährige (8 der 33 Staaten kennen kein Mindestalter für die Verhängung der Todesstrafe) oder gegen Behinderte.

    Und wir machen uns Sorgen, dass Russland in die Barbarei zurückfällt aus denen andere nie rauskamen. Zum Glück haben unsere Unterarme derart viele Ellen die wir je nach Gusto zum Messen verwenden können.

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