Internierungslager Libyen

Flüchtlinge werden willkürlich in libyschen Internierungslagern festgehalten. Die Lebensbedingungen dort sind menschenunwürdig und haben sich seit Februar 2021 weiter verschlechtert. © Aurelie Baumel/MSF

Libyen: Mit Maschinengewehren gegen Flüchtlinge

Red. /  In libyschen Flüchtlingslagern nehmen Hunger und Gewalt erschreckende Ausmasse an. Auch die EU trägt eine Mitverantwortung.

Hilfsorganisationen schlagen wegen der katastrophalen Verhältnisse in libyschen Internierungslagern für Flüchtlinge zum wiederholten Mal Alarm. Die Lager sind stark überbelegt, weil die von der EU trainierte und ausgerüstete libysche Küstenwache immer mehr Flüchtlinge aufgreift – dank systematischer Zuarbeit der EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex. Allein in den ersten sechs Monaten 2021 wurden bereits mehr Migranten von der Küstenwache festgesetzt als im Gesamtjahr 2020. Der Europäische Auswärtige Dienst lobt, die Küstenwache, die unerwünschte Flüchtlinge von der EU fernhält, erziele «exzellente Ergebnisse». 

Prellungen, Schnittwunden, Knochenbrüche

Die Hilfsorganisation Médecins sans frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) teilte kürzlich mit, dass sie ihre Arbeit in zwei Lagern in Tripolis wegen des gewalttätigen Vorgehens des Lagerpersonals vorübergehend einstellen müsse. So berichtet MSF, am 17. Juni hätten Mitarbeiter der Organisation das Lager Mabani in Tripolis besucht – und mitansehen müssen, wie Flüchtlinge willkürlich verprügelt wurden, wenn sie ihre Zellen zur ärztlichen Visite verlassen wollten. Letztlich konnte MSF 19 Migranten behandeln, die Prellungen, Schnittwunden und Knochenbrüche erlitten hatten. Wie MSF erfuhr, hatte es in der Nacht zuvor heftige Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Wächtern gegeben, welche die Internierten zuvor verbal und körperlich misshandelt hatten. Im Lager Mabani seien mindestens 2000 Menschen eingesperrt, berichtet MSF.[1]

In einem weiteren Lager in Tripolis, Abu Salim, seien Besuche ab dem 13. Juni für eine Woche nicht zugelassen worden. MSF fand heraus, dass Wächter dort mit automatischen Schusswaffen auf Lagerinsassen gefeuert hatten. Die Zahl der Verletzten war beträchtlich. Umso schwerer wog es, dass Ärzte der Hilfsorganisation sieben Tage lang keine Chance erhielten, die Opfer ärztlich zu versorgen. Wegen der eskalierenden Gewalt und aus Sorge um die Sicherheit der Ärzte sah sich die Organisation Médecins Sans Frontières schliesslich gezwungen, Besuche in Mabani und Abu Salim ab sofort bis auf weiteres einzustellen. Damit erhalten kranke und verletzte Flüchtlinge in den Lagern vorerst keine ärztliche Hilfe.

Hunger, Enge, Gewalt

Laut MSF sind die Lebensbedingungen in den Lagern ohnehin desolat. So erhalten die internierten Flüchtlinge nur eine oder zwei Mahlzeiten pro Tag – «gewöhnlich ein kleines Stück Brot mit Käse oder einen Teller Nudeln, den sich viele teilen müssen».[2] Mitarbeiter von MSF haben beobachtet, dass manche Lagerinsassen ihren Hunger zuweilen mit Medikamenten zu stillen suchen. Zudem sind die Internierungslager unzulänglich belüftet und haben oft kaum natürliches Licht, ein verlässlicher Zugang zu sauberem Wasser und zu sanitären Einrichtungen fehlt. 

Weil die libysche Küstenwache immer mehr Flüchtlinge auf dem Meer aufgreift, sind die Lager mittlerweile dramatisch überfüllt. In manchen von ihnen teilen sich bis zu vier Migranten einen Quadratmeter; das hat zur Folge, dass sie nur in Schichten schlafen können. Die katastrophalen Verhältnisse sowie körperliche Übergriffe des Lagerpersonals führen dazu, die ohnehin stets vorhandenen Spannungen in den Einrichtungen anschwellen zu lassen. Sie entladen sich seit Anfang 2021 zunehmend in Gewalt.

Sexualisierte Gewalt

Gleichzeitig werden neue Berichte über sexuellen Missbrauch in libyschen Internierungslagern bekannt. Demnach werden seit Monaten mehrere junge Frauen aus Somalia im Alter zwischen 16 und 18 Jahren in dem Lager Shara al Zawiya in Tripolis vom Lagerpersonal vergewaltigt. Das Lager ist – wie Mabani oder Abu Salim – eines derjenigen, die das libysche Department for Combating Illegal Immigration (DCIM) betreibt. Dieses wiederum ist unmittelbar dem libyschen Innenministerium unterstellt, mit dem die EU offiziell kooperiert.

Menschenrechtsorganisationen versuchen seit Wochen, die Entlassung der jungen Frauen aus dem Lager zu erreichen, haben aber bislang keinen Erfolg.[3] Dabei wird seit Jahren von systematischem sexuellem Missbrauch an Flüchtlingen berichtet. «Sexualisierte Gewalt» werde «straflos von Menschenhändlern entlang den Migrationsrouten verübt», aber auch in Polizeigefängnissen und in Internierungslagern, hiess es beispielsweise in einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019.[4] Menschenrechtler weisen darauf hin, dass in den Lagern zwar meistens Frauen, zuweilen aber auch Männer und Jungen sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind.[5]

Mit Hilfe von Frontex

Auf die Berichte über die Vergewaltigung junger Frauen in Shara al Zawiya hat eine Sprecherin der EU-Kommission mit der Forderung reagiert, die Internierungslager müssten «schliessen».[6] Diese Forderung steht allerdings in bemerkenswertem Kontrast zu der Tatsache, dass die EU massgebliche Verantwortung für die stetige, zuletzt sogar rasch zunehmende Internierung von Flüchtlingen in den Lagern trägt. Dies zeigen Recherchen über aktuelle Praktiken der EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex. 

Frontex überwacht das Mittelmeer zwischen Libyen und Italien respektive Malta nicht mit Schiffen, sondern mit Flugzeugen, die Flüchtlingsboote aufspüren. Frontex informiert dann sämtliche Seenotleitstellen – die italienische, die maltesische, aber auch die libysche –, doch den Recherchen zufolge bleiben die italienischen wie auch die maltesischen Stellen immer wieder untätig, bis schliesslich die libysche Küstenwache die Flüchtlinge aufgreift. Dies geschieht auch in Gewässern, für die eindeutig die europäische Seite zuständig ist.[7] Von der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen gebracht, landen die Flüchtlinge regelmässig in Internierungslagern, darunter solche wie Mabani oder Abu Salim.

EU: «Exzellente Ergebnisse»

Dabei ist die libysche Küstenwache immer wieder von der EU unterstützt worden, jüngst etwa im Rahmen eines Pilotprojekts, das die Such- und Rettungsfähigkeiten der Küstenwache systematisch verbessern sollte. In diesem Zusammenhang sind Berichten zufolge mehr als hundert Mitglieder der libyschen General Administration for Coastal Security (GACS) trainiert worden; zudem trägt mittlerweile die Türkei zur Ausbildung sowie zur Ausrüstung der Küstenwache bei.[8] 

Ein interner Bericht des Europäischen Auswärtigen Diensts stuft die Massnahmen als äusserst erfolgreich ein: «Die Effektivität der libyschen Küstenwache», heisst es mit Blick auf die Entwicklung im zweiten Halbjahr 2020, «konnte gesteigert werden und exzellente Ergebnisse erzielen».[9] In der Tat ist die Zahl der Flüchtlinge, die libysche Küstenwächter von ihren Booten holten sowie zurück nach Libyen brachten, von 9000 im Jahr 2019 auf fast 12’000 im Jahr 2020 gestiegen; allein zwischen dem 1. Januar und dem 19. Juni dieses Jahres belief sich ihre Anzahl laut Médecins sans frontières bereits auf mehr als 14’000.[10] Die Mitwirkung von Frontex stuft die Völkerrechtlerin Nora Markand von der Universität Münster als «mit dem Völkerrecht unvereinbar» ein: Es handle sich «im Grunde» um «Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen».[11]

Die zweite Berliner Libyen-Konferenz

An der zweiten Berliner Libyen-Konferenz vom 23. Juni spielte die Lage der Flüchtlinge keine Rolle. Die Konferenz beschloss, sämtliche ausländischen Truppen und Söldner müssten umgehend aus Libyen abziehen; zudem müssten die für den 24. Dezember angekündigten Parlaments- und Präsidentenwahlen pünktlich abgehalten werden. Der deutsche Aussenminister Heiko Maas feierte die Konferenz als einen Erfolg. Allerdings fehlen Berlin – wie schon nach der ersten Libyen-Konferenz vom Januar 2020, die faktisch scheiterte – die Machtmittel, um die Forderungen durchzusetzen. Wie Berliner Experten bestätigen, fungieren bei den verfeindeten Parteien in Libyen als «Sicherheitsgaranten» in Wirklichkeit nicht Deutschland und die EU, sondern die Türkei und Russland [12]. Daran hat das Berliner Treffen nichts geändert.

Dieser Beitrag ist auf german-foreign-policy.com erschienen.

Fussnoten:
[1], [2], [10] Libyen: Ärzte ohne Grenzen muss aufgrund massiver Gewalt in Internierungslagern von Tripolis Hilfe vorübergehend einstellen. msf.org 24.06.2021
[3] Minors accuse guards at Libya detention centre of sexual assault. aljazeera.com 20.06.2021.
[4], [5] Women migrants reduced to sex slaves in Libya ‹hell›. euractiv.com 23.06.2021.
[6], [8] Nikolaj Nielsen: Libyan detention centres must end, EU says. euobserver.com 22.06.2021.
[7], [9], [11] Frontex und die libysche Küstenwache: Tödliche Kollaboration. tagesschau.de 29.04.2021.
[12] S. dazu «Die zweite Berliner Libyen-Konferenz».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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4 Meinungen

  • am 29.06.2021 um 11:35 Uhr
    Permalink

    Ich kann all diese grausamen Dinge nur ohn-mächtig und entsetzt lesen.

    Und wünsche all der üblen «überwachenden» UN-Menschen-Brut
    ob nun aus Europa – oder von anderswo

    von ganzem Herzen

    die übelst möglichen Krankheiten an den Hals ! –
    ! Hoffentlich mit baldigem Erfolg !

    Ich verfluche DIE !

    Wünscht und verflucht bitte alle mit mir mit –
    und wendet Euch mit Abscheu
    von diesen «seelisch Aussätzigen» ab !

    Wolf Gerlach, Ingenieur

  • am 29.06.2021 um 11:50 Uhr
    Permalink

    Grauenhaft. Die Gewaltbereitschaft der menschlichen Spezies. Sogar in religiösen Schriften findet man gewaltfördernde Anleitungen. Es gibt Frauentag, Männertag, Tag der Arbeit, aber keinen Tag des Gewaltverzichts. Diejenigen welche die Macht hätten dies zu verändern, wissen oft gar nicht was es bedeutet Opfer von Gewalt zu sein, sie sind wohlbehütet aufgewachsen ohne existentielle Not und erhielten eine gute Bildung. Doch zwischen Bildung und Erfahrung gibt es einen Unterschied. Trotz Holocaust gibt es keinen internationalen Gedenktag für Gewaltopfer. Noch heute herrscht in vielen Köpfen die Vorstellung, das Gewaltopfer selber schuld sind am erlebten. Ueber Massaker wird diskutiert in den Medien, aber es wird oft kein Bewusstsein über die Ursachen der menschlichen Gewaltbereitschaft angesprochen. Eine sehr schmerzliche Situation. In Gedenken an Marshall Rosenberg, den hervorragenden Gewaltforscher, der eigentlich den Nobelpreis verdient hätte. Er forderte den weltweiten Verzicht auf jede Form von Gewalt welche jenseits von Notwehr liegt.

  • am 29.06.2021 um 12:01 Uhr
    Permalink

    Satansimus hoch drei: und alle Welt schaut zu. Auch die EU trägt eine Mitverantwortung: und waseliwas macht die Schweiz?

  • am 1.07.2021 um 19:48 Uhr
    Permalink

    Fällt dieser Artikel unter «Fake News» / Desinformation?

    Jedenfalls wurde mit genau solchen Artikel über einen angeblichen «humanitäten Notstand» in Libyen der per se völkerrechtswidrige Überfall begründet und der Regimechange, der Sturz Gaddafis eingeleitet. Der behauptete Grund, («humanitäte Notstand») entpuppte sich als «Fake News» / Desinformation.
    Der völkerrechtswidrige Überfall auf Libyen VERURSACHTE einen bis heute anhaltenden humanitäten Notstand. Insbesondere, da von den Angreifern auch radioaktive Munition eingesetzt wurde => radioaktive Verseuchung des Landes.

    Die Kriegstreiberin Hillary Clinten sagte dazu: «We came, we saw he [they] died!»
    (https://www.youtube.com/watch?v=FmIRYvJQeHM)

    Siehe auch:
    https://william-tell.org/cms/index.php/themen/nordafrika/848-nato-kriegsverbrecher-bomben-und-schiessen-in-libyen-mit-uran-waffen

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