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Das missratene Kind & der Kriminelle werden als aus Kuckuckskinder fantasiert. © abbilder-flickr-cc

Rupperswil: Die Sehnsucht nach der «Bestie» II/II

Jürgmeier /  «Statt des von aller Welt erwarteten ‹Tieres …› erhob sich von den Bänken der Angeklagten immer nur die platte ‹Normalität›.»

Die Coiffeuse – der ich vor einiger Zeit, während sie an meinen Haaren herumschnippelte, sagte, sie hätte sicher auch schon einen Mörder frisiert – liess fast die Schere fallen, und als ich selbst in jungen Jahren zum ersten Mal einen wegen Totschlags Verurteilten traf, wunderte ich mich, dass mir kein Schlag durch den Arm donnerte, als wir uns im Aquarienhaus des Zürchers Zoos, beim Zitteraal, die Hand zur Begrüssung gaben. Die Sehnsucht nach der «Bestie» beziehungsweise dem ganz anderen, nach sauberer Scheidung von heiler Alltagswelt & Grausamkeit, das ist auch der Wunsch, nach einer mörderischen & «un-menschlichen» Tat in die sichere Normalität zurückkehren zu können, nicht für immer vor allen auf der Hut sein zu müssen. «Als ich erfahren habe», zitiert die Aargauer Zeitung am 14. Mai 2016 eine Rupperswilerin, «dass der Täter scheinbar aus dem Nichts gekommen ist, hat es mich richtig erschaudert … Wem kann ich jetzt noch meine Kinder anvertrauen?» Wir möchten, um Gefahren & Gefährliche zu erkennen, zwischen «Gut & Böse» unterscheiden, allen anderen (ausser der «Bestie») und uns selbst vertrauen können.

Ihr bekommt meinen Hass nicht»

Im Club vom 14. Juli 2008 beklagte sich die Mutter eines von Jugendlichen schwer verletzten Sohnes, die Täter hätten letzteren bei Gericht nicht einmal angeschaut, und sagt dann den Satz: «Ich habe mir gedacht, vielleicht sind das Menschen, aber es sind keine Menschen.» Die Entmenschlichung von Täter(innen), wie sie in der «Bestien»-Kampagne des Boulevards zum Ausdruck kommt, ist zum einen Verharmlosung des Menschenmöglichen, zum anderen Vorbereitung neuer Gewalt. Der des Menschlichen beraubte Täter wird, zumindest symbolisch, zum Abschuss freigegeben, unter dem dünnen Firnis der Normalität öffnen sich plötzlich Abgründe.

«Öffentlich ausstellen müsste man ihn, und dann richtig mit ihm abrechnen.» Zitiert die SonntagsZeitung am 15. Mai die Aussage, die offensichtlich an einem Rupperswiler Stammtisch gefallen ist. Und auf der Facebookseite der Kantonspolizei Aargau findet die Journalistin Fiona Endres nicht nur «Worte des Dankes und des Lobs», sondern auch solche: «Dieses Schwein soll leiden … Der Täter soll in der Hölle schmoren …» Aus Sicht von Opfern sind solche Rachegelüste verständlich. Nicht alle haben die Kraft zum berühmten «Ihr bekommt meinen Hass nicht» von Antoine Leiris, der bei den Anschlägen von Paris im November des letzten Jahres seine Frau verloren hat: Aber in einer Fernsehsendung hätte der Satz – «…es sind keine Menschen.» – nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Die verständliche Wut der Opfer – die erfolglos Trauer & Verzweiflung zu lindern versucht – darf nicht zur öffentlichen Meinung werden.

Die Stilisierung der Täterfigur zum Un-Menschen ist auch gefährlich – sie lässt mögliche Opfer Bedrohungen übersehen. Zum einen töten MörderInnen nicht rund um die Uhr, zum anderen zeigt die Statistik gewordene Erfahrung, dass Menschen nirgendwo so gefährdet sind, Opfer von Gewalt zu werden, wie unter ihren Liebsten, Vertrauten und Bekannten. Das heisst, nicht selten gilt der beklemmende Satz: Wir sind die, vor denen wir euch immer gewarnt haben.

Obwohl wir Menschen grundsätzlich eine so genannte Zebrastruktur haben, also schwarz & weiss sind, versuchen sowohl Individuen als auch Kollektive, sich als weisse Zebras zu sehen & zu geben. Aber «die Phantasie vom weissen Zebra», schreibt Thomas Auchter in seinem Essay «Angst, Hass und Gewalt» (Thomas Auchter, u.a.: Der 11. September), «ist nur aufrechtzuerhalten, wenn ich alles Schwarze von mir auf den anderen übertrage. Er muss als Müll-Container für alles Negative, bei mir selbst Abgelehnte dienen». Nur die Leugnung der Zebrastruktur, das heisst eigener Potenziale zum Gewalttätigen, ermöglicht die stereotypisierenden & stigmatisierenden Bilder fremder Gewalt. Wo die Gewalt zur Gewalt der anderen wird, erscheint das Leben im eigenen Land beziehungsweise den vertrauten vier Wänden als sicher.

Wir sind die, vor denen wir euch immer gewarnt haben

So unerträglich die Vorstellung auch sein mag, der Täter ist, wie es Åsne Seierstad über Anders Behring Breivik, den 77-fachen Mörder von Norwegen, schreibt, «einer von uns». Unter uns werden Menschen zu Täter(innen). Hitler-Biograph Joachim C. Fest erinnert in seinem Buch «Das Gesicht des Dritten Reiches» an die enttäuschte Sehnsucht nach der «Bestie» bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen: «Statt des von aller Welt erwarteten ‹Tieres aus der Tiefe› erhob sich von den Bänken der Angeklagten immer nur die platte ‹Normalität›.»

Um diese bedrohliche Nähe des «Bösen» abzuwehren, wird die notwendige Ächtung der Tat häufig mit einer Rundum-Ablehnung der Täterperson und der gänzlichen Zurückweisung ihrer Leidensgeschichte – Verstehen heisst entschuldigen – kurzgeschlossen. Die Verwerfung des Täters (beziehungsweise der Täterin) als auch leidendes Subjekt, als ehemals ausgeliefertes Kind dient der Entlastung von Gesellschaft sowie Erziehungspersonal und führt rückwirkend zu einer eigentlichen Dämonisierung des Kindes.

Sogar für das (nur) schreiende Kind, so der Psychoanalytiker Franz Renggli in seinem Buch «Selbstzerstörung aus Verlassenheit», habe es zwei mögliche Erklärungen gegeben: «Entweder es ist vom Teufel besessen oder aber das richtige, eigene Kind ist vom Teufel gestohlen worden, und anstelle dessen hat er einen schreienden Wechselbalg in die Wiege gelegt.» Der mittelalterliche Wechselbalg-Mythos findet seine Fortsetzung in den modernen Vorstellungen des «Triebtäters» oder des «Kriminalitätsgens». Das «missratene» Kind & der Kriminelle werden als aus anderen Welten Stammende, als Kuckuckskinder fantasiert.

Der Neurobiologe James Fallon – bis dahin überzeugt, die Gene seien «zu 80 bis 100 Prozent verantwortlich für die Entwicklung des Menschen» (Tages-Anzeiger, 23.5.2016) – muss einigermassen geschockt gewesen sein, als sich der anonymisierte Scan eines «Psychopathenhirns» in einer Untersuchung 2006 als sein eigenes entpuppte. Der «gefeierte Neurobiologe, gute Vater von drei Kindern, seit Jahrzehnten verheiratet, hatte alle Anlagen dafür gehabt, ein empathieloses Monster, ein Serienmörder zu werden.» Notiert Tagi-Autorin Alexandra Kedves.

Kein Freispruch für Eltern & Co.

Der Naturwissenschaftler hätte besser den Sozialpsychologen Arno Plack gelesen, dann wäre er schon früher draufgekommen, dass Täter(innen) – Genetik, für die im Übrigen kein Mörder etwas kann, hin oder her – vor allem Gewordene und nicht Geborene sind. Dass der soziokulturelle & sozioökonomische Kontext sowie das «Verhalten der ersten Bezugspersonen» (Tages-Anzeiger) zentralen Einfluss auf die Entfaltung «positiver» & «negativer» Potenziale eines Menschen haben und er selbst, Fallon, deshalb, «trotz aller ungünstigen biologischen Voraussetzungen, kein gewaltsüchtiger Serientäter geworden sei». Das bedeutet aber auch – kein Freispruch für Eltern & Co. in Mord- oder schlimmeren Fällen. Wie das der Richter im Prozess gegen Jürgen Bartsch 1967 tat. Letzterer hatte im Alter von 16 bis 20 vier Knaben «bestialisch» ermordet. Als der Adoptivvater – Die leibliche Mutter hatte das Neugeborene im Spital zurückgelassen – in den Gerichtssaal rief: «War diese Sache in ihm von Geburt an, oder haben wir etwas Falsches gemacht?», beruhigte ihn der Vorsitzende mit einer «der erstaunlichsten Äusserungen eines erstaunlichen Prozesses: ‹Herr Bartsch, ich bin überzeugt, Sie und Ihre Frau haben absolut keinen Grund für Selbstvorwürfe.›» (Paul Moor: Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch).

«Das Pochen auf einem prinzipiellen Unterschied zwischen sich selber und dem Verbrecher», schreibt Arno Plack in seinem Buch «Die Gesellschaft und das Böse», «entspringt letztlich dem Bedürfnis, der Mitverantwortung für die Gesellschaft, die das Kriminelle hervortreibt, zu entgehen.» Täter(innen) sind das letzte Glied einer sozial-psycho-logischen Kette, sie führen den Schlag aus, den andere mit-vorbereitet haben. Auch für sie gibt es – wenn auch anders als für das Opfer – keine Gerechtigkeit. Sie werden als einzige bestraft & weggesperrt, was in einzelnen Fällen zum Schutz potenzieller Opfer notwendig ist. Da, wo Menschen für eine Tat zur Rechenschaft gezogen werden, kommen alle anderen & Mittäter(innen) ungeschoren davon, die Eltern, die NachbarInnen, die LehrerInnen, der Pfarrer, die LeiterInnen von Turnverein und Lehrbetrieb – keine & keiner zerrt die für die psychosozialen Lebensverhältnisse von Vergewaltiger(innen) & Mörder(innen) Verantwortlichen vor Gericht.

«Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch»

Wenn es keine Erkennungsmerkmale für «Bestien» gibt, wenn sich Normalität & Gewalt nicht sauber trennen lassen, wenn jeder & jede das Potenzial zum «Bösen» hat, müssen wir allen misstrauen – auch uns selbst, auch den Verhältnissen, in denen immer wieder menschliche Zebras zu Tätern und, solange Gewalt Männer macht, seltener Täterinnen werden. Schon George Bernard Shaw schrieb: «Jeder Mensch kann unter bestimmten Voraussetzungen in eine Situation kommen, wo er einen anderen tötet» (Thomas Müller: Bestie Mensch).

«So weit und so tief geht unsere Verantwortung für den Mörder, der aus unserer Mitte kommt», bringt es Arno Plack im Buch «Wie oft wird Hitler noch besiegt» auf den Punkt, «dass wir die Bedingungen überprüfen [müssten, Jm], unter denen er aufgewachsen ist. Wir müssen uns fragen, ob nicht im Gesamtzusammenhang unserer Werte, Ideale und Lebensziele wie der tatsächlich gelebten sozialen Wirklichkeit ein Sprung ist, eine Lücke klafft, aus der das Unheil mit psycho-logischer Notwendigkeit hervorquillt – und jederzeit wieder hervorbrechen kann …»

Die Überwindung des individualistischen Konzepts sind wir nicht nur den Täter(innen) schuldig, sondern vor allem auch potenziellen Opfern. Das lebenslängliche Wegsperren der bereits zu Täter(innen) Gewordenen wiegt uns in falscher Sicherheit. Was Bertolt Brecht über die Nazis schrieb, gilt auch für ganz «gewöhnliche» Kriminelle: «Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.»

Systemisches Denken in Interdependenzen von Individuum & Umwelt, wie es in soziologischen, ökonomischen und psychotherapeutischen Seminaren praktiziert & propagiert wird, kann & darf bei Gewalttaten beziehungsweise anderen Verbrechen nicht selektiv aufgegeben werden, nur weil es uns in Unerträgliches verwickelt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

Gewalt_linksfraktion

Gewalt

«Nur wer die Gewalt bei sich versteht, kann sie bei andern bekämpfen.» Jean-Martin Büttner

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2 Meinungen

  • am 27.05.2016 um 12:34 Uhr
    Permalink

    Ich kann die Erklärungen von Herr Jürgmeier nur begrüssen.

  • am 27.05.2016 um 18:32 Uhr
    Permalink

    Der Psychiater Milgram hat untersucht, wie es zu den Greueltaten im Dritten Reich kommen konnte. (Milgram-Experiment) Die Menschen haben sich nicht geändert.

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