Kommentar

kontertext: Nur JA heisst JA? Ein Film als Beitrag zum § 190

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Ein aktueller Spielfilm wirft Schlaglichter auf die in der Schweiz geforderte «Zustimmungslösung» im Sexualstrafrecht.

Ja und Nein sind jene Partikel, die neben Danke, Bitte und Entschuldigung immer zuerst gelernt werden. Von Kindern und später auch in jeder Fremdsprache. Sie bilden das Grundvokabular unserer Verständigung mit anderen Menschen, sie sind so grundsätzlich, dass wir sie früh auch körperlich einüben und verstehen. Dennoch sind, einem beliebten Sprichwort zufolge, Ja und Nein jene Wörter, die das längste Nachdenken erfordern – bis sie dann einmal gesagt sind. Das heisst: So impulsiv und verhandelbar beide Wörter im Privaten sind, so gravierend sind ihre Konsequenzen im öffentlichen Bereich, wenn es um bindende Entscheidungen geht, die sogar die Form eines Urteils haben können.

Wenn für die Revision des § 190 vor allem von feministischer Seite die «Nur-Ja-heisst-Ja»-Lösung gefordert wird, dann ist es wichtig, zu überlegen, was damit wirklich «gelöst» werden kann. Im Privaten, im Gesellschaftlichen wie im Juristischen. Denn die Sache hat mehrere Haken. Inwiefern, zeigt aktuell ein französischer Spielfilm, der die Klippen der Rechtsprechung im Bereich des Sexualstrafrechtes an einem Fallbeispiel ausleuchtet. Schon der Titel «Les choses humaines» (Yvan Atal, F 2021) enthält den Hinweis auf die anthropologische Dimension von Sexualität und Gewalt. Anders als in der monströsen Übertreibung des Reality-TV mit Johnny Depp und Amber Heard, nimmt man als Zuschauer:in teil an einem Gerichtsprozess, der einen sensibilisiert dafür, was Justiz kann und was sie nicht kann.

Die menschlichen Dinge

«Les choses humaines» beruht auf dem gleichnamigen Roman von Karine Tuil (2019), der wiederum einen realen Vorfall aufgreift. Er stellt die Ereignisse um eine Vergewaltigungsklage in den Mittelpunkt, die zuerst als Erlebnis der beiden jungen Leute, dann als Gerichtsfall in der Zeit nach #metoo erzählt wird. Eingebettet ist der Film in den Kosmos zweier Milieus: den einer jüdisch-orthodox-mittelständischen Familie, dem die 16-jährige Mila entstammt, und den einer libertinär-chauvinistisch-emanzipierten Oberschicht, aus welcher der Student Alexandre kommt. (Ben Atal, Sohn des Regisseurs, und Charlotte Gainsbourg, die auch im Film seine Mutter ist). Die beiden Familien sind verbunden: Der Vater der Klägerin und die Mutter des Angeklagten sind ein Paar, die jungen Leute lernen sich über sie kennen.

Am Morgen nach einer gemeinsam besuchten Party wird Alexandre verhaftet; Mila hat ihn angezeigt, er habe sie vergewaltigt. Danach gerät die Welt aller mehr oder weniger aus den Fugen: Entsetzen, Unverständnis, Verleugnung, Entfremdung der Eltern und dann die allmähliche Zermürbung von Angeklagtem und Klägerin in einem öffentlich abgehaltenen Zeugenprozess, in welchem die Details einer 10-minütigen «Affäre» wieder und wieder erläutert werden müssen, um Schuld oder Unschuld des Täters festzustellen. Im Kern geht es dabei um die Glaubwürdigkeit seiner Behauptung, dass er nicht wusste und nicht merkte, dass sie nicht wollte, was er tat, und um die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage, dass sie wirklich nicht wollte, obschon sie nicht nein sagte. Es fehlte das Nein, es fehlte das Ja. Würde die Zustimmungslösung in solchen Fällen helfen?

Filmszene
Der Prozess zermürbt auch die Klägerin. Hier: Mila und ihre Anwältin. (Filmszene «Les choses humaines», F 2021)

Der Prozess zieht sich im Film über Jahre dahin, die Medien leisten die übliche Schützenhilfe, der Vater des Angeklagten ist ein allbekannter TV-Moderator und Schürzenjäger. Nach drei Jahren, kurz vor den Schlussplädoyers, trifft die Mutter des Angeklagten den Vater der Klägerin zum ersten Mal wieder, und sie schliessen Frieden. Die Mutter sagt einen bemerkenswerten Satz, der sich einem neben den glänzenden Plädoyers einprägt. Sie sagt, dass ihr das Ganze wie eine riesige Verschwendung zweier junger Leben vorkomme. Gewinner kann es keine geben, das ist ausgeschlossen, beider Leben ist beschädigt. Die Rezensentin der NZZ moniert, die Figuren des Films seien zu klischiert, aber das ist gar nicht der Punkt. Natürlich sind die Milieus irgendwie typisch, man darf den Film nämlich ruhig als Lehrstück sehen für die bürgerliche Realität, der er entstammt. Stereotyp ist die Argumentationsstruktur im Verfahren und der Prozess insgesamt, der zeigt, dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob die Klägerin NEIN, JA oder nicht JA gesagt hat. Zu dünn ist die Beweislage, wenn Aussage gegen Aussage steht. Zu wenig meinten beide, was sie sagten, zu verschieden waren ihre milieu- und geschlechtsspezifischen Perspektiven, um eine gemeinsame Wahrheit zu finden. Je länger der Prozess dauerte, um so weniger.

Wie könnte es anders gehen?

Ein guter Film mit Lehrstückcharakter regt an, zu fragen, wie es anders hätte gehen können, verrät uns aber nicht wie. Wäre der Schaden nicht passiert, wenn die Eltern ihren Sohn kritischer in den Blick genommen hätten? Generell, wenn Eltern wüssten, welche Partys ihre Kinder feiern, zu welchen Gemeinheiten sich junge Männer unter Alkoholeinfluss anstiften? Wenn Mila statt einer Anzeige ein aussergerichtliches Verfahren angestrebt hätte? Wenn sie, statt sogleich am nächsten Morgen zur Polizei zu gehen, ihren Verführer/Vergewaltiger mit einem Rechtsbeistand zur Rede gestellt und Genugtuung verlangt hätte? Denn der schlimmste und zugleich dunkelste Punkt bei der Wahrheitsfindung in einem Vergewaltigungsprozess ist die erzwungene öffentliche Schilderung der Details im Zeugenstand, wo es darum geht, den sexuellen Akt als Gewalt «gegen den erkennbaren Willen» der Klägerin festzustellen. Hier beginnt jene Intimzone, die für viele Vergewaltigungsfälle, welche einvernehmlich beginnen, im Nachhinein unerträglich ist. Denn Sexualität besteht nicht nur aus äusserlichen Handlungen, sie umschliesst Erregung, Scham, Neugier, Aggression, Gefühle, die sich sowohl äusserlich wie innerlich manifestieren. Deshalb kann man eine sexuelle Handlung noch so präzis schildern: was damit psychisch verbunden ist, was erlebt, gemeint oder «erkennbar gewollt» wird, kann nie ganz festgestellt werden.

Auch das zeigt der Film: Auf der Ebene der Rechtsprechung folgt er Milas Klage und erklärt Alexandre für schuldig. Dem Schuldspruch gehen die Schlussplädoyers der Anwältin von Mila und des Anwalts von Alexandre, einem Pflichtverteidiger, voraus. Während die Anwältin Gerechtigkeit für alle weiblichen Opfer von männlicher Gewalt fordert, also politisch argumentiert, macht der Verteidiger einen rechtstheoretischen Vorbehalt: Wenn die Geschworenen als Vertreter der Gesellschaft in diesem Fall für «schuldig» plädieren, dann setzen sie die Moralität des Falls über dessen Wahrheit. Und die Wahrheit ist in diesem Fall, dass sich die Wahrheit nicht feststellen lässt. Man kann Alexandre zwar moralisch als skrupellos, arrogant, und dreist bewerten, aber das genügt nicht, ihn als Vergewaltiger und damit als Verbrecher zu verurteilen, wenn die Beweise fehlen. «Ja», sagt Alexandre, «ich habe mies gehandelt, aber ich bin kein Vergewaltiger. Niemals wollte ich ihr wehtun.» Aber da auch dieser Wille nicht nachweisbar ist, bleibt es im Zweifelsfall bei der moralischen Vorverurteilung des Täters. So kann, nach dem Plädoyer des Verteidigers, zuletzt auch die Gerechtigkeit nicht zum Zug kommen.

Und die «Zustimmungslösung»?

Die «Zustimmungslösung» geht davon aus, dass Sexualakte nur dann legitim sind, wenn sie unter gegenseitiger Zustimmung erfolgen. Sie sagt nicht: Es ist erwünscht, dass es so wäre. Sie sagt, dass Sexualität nur dann legitim ist. Alle anderen «Fälle» könnten mithin vor Gericht kommen. Ist damit wirklich etwas gewonnen? Die #metoo-Bewegung spielt hierbei keine unwesentliche Rolle. Auch die Protagonistin im Film hat sich bereits aktiv darin betätigt, bevor sie Alexandre traf. Das ist ein Hinweis im Film auf einen weiteren Konflikt, den viele Gerichte haben: Immerhin ein knappes Drittel der Vergewaltigungsklagen sind Folgen von Demütigungen, Angst und Rachegefühlen, mit welchen Frauen sich wehren gegen allgemeines oder konkretes Unrecht, das sie von Männern erfahren haben. Dabei steht ausser Zweifel, dass sie leiden oder gelitten haben, gedemütigt wurden. Auch Rache steht in Beziehung zu Gerechtigkeit, wie man sogar noch im Falle von Heards und Depps Prozess sagen könnte. Ob der Gang vor Gericht jedoch immer der richtige ist und ob der neue § 190 dabei nicht eine Sicherheit und Genugtuung verspricht, die das Gesetz gar nicht herstellen kann, ist offen. Offen ist auch, ob die heranwachsende Generation, die versucht, Geschlechterrollen fluider zu behandeln, tatsächlich Interesse hat an einer verschärften Verrechtlichung ihrer sexuellen Beziehungen. Ob sie nicht eher daran ist, Sexualität als etwas grundsätzlich Verhandelbares zu sehen für beide Geschlechter, etwas, worüber man offen spricht, nicht nur in Form von JA und NEIN. Hierfür braucht es Sexualerziehung, es braucht die Schule, die Eltern, die Medien, es braucht Fantasie und: gute Filme und gute Diskussionen zum Thema. Dass die Abstimmung zu reden gibt, ist in diesem Fall bereits ein Erfolg für das Anliegen hinter dem Paragraphen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, ästhetische Bildung, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Kolumnen, Essays und Aufsätze in Magazinen und Anthologien.

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Eine Meinung zu

  • Portrait_Jacques_Schiltknecht
    am 20.06.2022 um 14:58 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen differenzierten Artikel. Das Schlussplaidoyer des Pflichtverteidigers überzeugt.

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