Kommentar

Hilfe! Ich habe die Orientierung verloren und bin am Boden …

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  So kann es einem ergehen, wenn man Post von Unbekannt erhält – und dadurch auf ganz andere Gedanken kommt. Aber Achtung: Satire!

Da war ich doch mal ein – von den Eltern geliebtes – Kind, dann ein Schüler, dann ein Student und dann ein sogenannter Akademiker. Aber in letzter Zeit erhalte ich immer wieder Post von Hilfsorganisationen, die mich anreden mit «Liebe Unterstützer:innen» oder «Geschätzte Spender*innen». Komisch, denke ich jedes Mal, ich bin doch ein Unterstützer und ein Spender! Aber wenn ich das eine oder andere Mal zurückgefragt habe, warum ich denn plötzlich zu den Spender:innen gehöre, schrieb man mir zurück, das verlange eben die gendergerechte Sprache. 

Aha.

Jetzt aber habe ich eine Email erhalten, in dem mir eine Leserin dafür dankt, dass ich regelmässig über Russland berichte, ohne dabei die Politik dieses Landes – wie die meisten Zeitungen – einfach in den Dreck zu ziehen. Aber was schrieb sie da, diese Leserin, als vermeintliches Kompliment? «Sie sind in der Russland-Berichterstattung eine echte Kapazität!» 

Jetzt liege ich zerstört am Boden. Eine Kapazität! Eine Frau also! Die Leserin hätte ja auch «ein Fachmann» schreiben können, oder «ein Kenner». Aber nein, «eine Kapazität»! Wenn sie doch wenigstens «ein Ass» geschrieben hätte, ein – neutrales, also geschlechtsloses – «Ass»! Aber nein, «eine Kapazität»!

Ich hole verzweifelt mein Synonym-Wörterbuch hervor und schlage «Kapazität» auf. Da gibt es doch sicher genügend männliche Bezeichnungen für Leute, die gute Arbeit leisten. Und ich erbleiche: Auch «die Persönlichkeit», «die Fachgrösse», «die Autorität», alle sind Frauen! Und – welcher Schock – auch «die Koryphäe»! Und «die Ikone»! Alles Frauen! Wo ist da die gendergerechte Sprache?!

Ich bin erschlagen. Und ich beginne über die Welt nachzudenken, über diese Ungerechtigkeit der Sprachen. Und jetzt dämmert es: In meinem Curriculum steht, dass ich «zwischen der Schweiz, Italien und der Tschechischen Republik» lebe, was zutrifft. So ein Leben ist aber nicht einfach, ich zahle in allen drei Ländern Steuern und Versicherungsprämien. Aber das ginge ja noch. Es gibt da vor allem ein kulturelles, ein unlösbares Gender-Problem! In der Schweiz gibt es «die Sonne», ein weibliches, mütterliches Wesen, in Italien «il Sole», ein Mann, und in Prag «Slunce», sächlich, ein Neutrum! In der Schweiz «den Mond», einen Mann, in Italien «la Luna», die mich nachts treu begleitet, wenn ich von einer Frau träume…

Wie schön war es doch, als ich einfach noch zu den «Bürgern» gehörte, zu den «Lesern» und zu den «Schreibern», zu all den «Personen» – weiblich! –, mit denen einfach alle gemeint waren. Im Lateinunterricht war ich, wie meine alten Zeugnisse es verraten, kein Talent, im Deutschunterricht aber schon – «das Talent» lässt grüssen. Und welch Wunder: Beim Skifahren war ich «eine Kanone». Heute aber, wenn ich ein Mann bleiben will, muss ich darauf verzichten, «ein Genie» sein zu wollen. Gendergerecht sind mir «die Persönlichkeit», «die Autorität», «die Kapazität» und «die Koryphäe», sie alle sind mir verboten. Ich habe, wie ich sehe, eigentlich nur noch eine Chance, ein aussergewöhnlicher Mann zu werden: ein Guru.

Aber noch liege ich zerstört am Boden. Und ich denke immer noch darüber nach, ob ich ein Sonnenanbeter bin, weil sie – die Sonne – meine licht- und wärmespendende Mutter ist, oder weil er – il Sole – mein überragender Vater ist, der mit typisch männlicher Generosität auch «la Luna» von seinem Licht gibt …


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Keine
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4 Meinungen

  • am 26.09.2021 um 13:29 Uhr
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    Ich habe mich gerade köstlich amüsiert! Danke! Danke! Danke! Mögen viele Lacher auf Ihrer Seite sein, bis das von der Gender (und -innen) – Sprache nur noch eine Guruine übrig bleibt.

  • am 26.09.2021 um 13:29 Uhr
    Permalink

    Lieber Christian Müller, ich kann das gut nachvollziehen und nur Dein Problem bedauern; so viele Worte für nichts? Und dann bekommt man noch Geld dafür? Leider seid Ihr Akademiker (Geister- und Geisteswissenschaftler) auf die kläglichen Vereinfachungen etwa einer Feministin wie Alice Schwarzer oder noch perfider auf Deborah Tannen («Du kannst mich nicht verstehen»; was hoffentlich auf Dich hier nun nicht zutrifft) hereingefallen. Dass Sprache alleine IMMER unzulänglich ist, beweist Deine weiterführende Analyse zu den Sprachräumen und echte BEZIEHUNGEN gibt es eben nur mit Beziehungswahrheit 3’698 mögliche, gemessen an echten Lebensprinzipien (144) und nicht schönen Worten ohne eine Bedeutung, wovon nur Rechtswissenschaften profitieren können, wo man mit Recht kaum mehr recht bekommt. Darum sollten wir uns wirklich kümmern, das zu verstehen, statt politisch korrekt mit Projektionen noch besser zu manipulieren, damit man Lust mehren und Unlust mindern kann. Das bringt niemandem nämlich irgend etwas, das dem LEBEN dient! Im Zeitalter der Zerrüttung «Age of Disruption» nimmt die Arglist der Zeit den Menschen die FUNKTION und reduziert sie auf ihre soziale Wirkungsdimension (Christen vs. Muslime, Männer vs. Frauen, LGBT) und so kann niemand mehr machen, was er/sie ist. Du hast es gerade angeblich als Satire getarnt politisch korrekt bewiesen, nämlich aus der persönlichen Befindlichkeit heraus mit eigenen Worten zu reden, wie eben der Schnabel gewachsen ist. Das wäre ehrlicher!

  • am 27.09.2021 um 07:05 Uhr
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    Darf ich fragen: Wie hätten Sie reagiert? «Aber was schrieb sie da, diese Leserin, als vermeintliches Kompliment? «Sie sind in der Russland-Berichterstattung eine echte Kazipatät!» » Und dann erscheinen im Forum reihenweise Kommentare, die sich diesem Kompliment anschliessen. Und plötzlich taucht ein Kommentar auf: «Ich bin eine Asylbewerberin aus Afghanistan und im Deutschkurs wurde mir übungstechnisch empfohlen Kommentare zu schreiben und ich bin mir sicher das Wort «Kazipatät» gibt es überhaupt nicht, aber vielleicht ist «Kalamität» die richtige Wortwahl …

    • am 27.09.2021 um 19:31 Uhr
      Permalink

      «So viele Worte für nichts» – Haben sie die Glosse verstanden?

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