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Weniger Staus, weniger CO2: Luxemburg macht ÖV kostenlos © Wikipedia Commons/cc

Warum die Idee vom Gratis-ÖV in der Schweiz nicht ankommt

Christian Raaflaub, Swissinfo.ch /  In Luxemburg sind ab 1. März 2020 alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos. Wie realistisch sind solche Vorstösse in der Schweiz?

Einfach einsteigen nach Lust und Laune. Keine Automaten, keine Billette, keine Kontrollen mehr. Wer träumt nicht manchmal davon, wenn wieder mal die Zeit vor dem Billettautomaten knapp wird oder das Handy beim Ticketkauf eine wacklige Verbindung hat.
In Luxemburg wird diese Vision ab 1. März 2020 Realität. Das Land will seine notorischen Staus entschärfen und CO2-Emissionen reduzieren. Luxemburg, das zweitkleinste EU-Mitgliedsland, ist rund 16 Mal kleiner als die Schweiz, also kaum vergleichbar. Doch auch hier wird das Thema in letzter Zeit wieder vermehrt diskutiert.

Die beste aller Möglichkeiten?
Ein vehementer Vorkämpfer für kostenfreien öffentlichen Verkehr (ÖV) ist Cédric Wermuth. Der Politiker kandidiert gegenwärtig für das Co-Präsidium der Sozialdemokratischen Partei (SP). Er hat eine Vision, wie er kürzlich gegenüber CH Media sagte: «Der ÖV soll gebührenfrei sein und von den Steuern finanziert werden», schlägt Wermuth vor.
Skeptisch ist Kay Axhausen, Professor für Verkehrsplanung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). «Sagen wir mal, es wird ein riesiger Erfolg, die Leute stürmen die Busse. Wenn diese dann überfüllt und somit auch unzuverlässig sind, dann sind die Kunden wahrscheinlich zwei Tage später weg», sagt er.
Axhausen fragt sich, ob Preisreduktionen oder Gratis-ÖV wirklich die effizienteste Massnahme sind, um das Ziel von weniger CO2-Ausstoss zu erreichen. Alternativ sähe er auch bessere Verbindungen, erleichtertes Umsteigen, Priorisierung an Lichtsignalanlagen, mehr Busspuren und Veränderungen des Liniennetzes als Möglichkeiten, den ÖV attraktiver zu machen.

Gratis = wertlos?

Kostenfreier Nahverkehr, das ist besonders eine Idee der Linken. Doch nicht alle in diesem politischen Lager sind vehement dafür. So plädieren einige für eine preisliche Abstufung. Ihrer Meinung nach sollte der öffentliche Verkehr mehr kosten, als wenn man zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs sei. Ein anderer Vorschlag ist, ein Generalabonnement für die ganze Schweiz für Jugendliche für 1000 Franken einzuführen. Diese Idee stösst auch bei Bürgerlichen auf offene Ohren.
«Kostenfreier Nahverkehr hätte mit Sicherheit einen positiven Umwelteffekt, wenn es die Leute zum Umsteigen vom Auto auf ÖV bewegt», sagt Laura Schmid. Die Projektleiterin für Verkehrspolitik beim links-grünen Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) betont aber, ihr Verband stehe dieser Idee auch etwas kritisch gegenüber: «Denn was gratis ist, kann man auch so viel konsumieren, wie man will. Auch der ÖV braucht Platz, Energie und führt zur Zersiedelung.»
Gar nichts von der Idee hält der Verband öffentlicher Verkehr (VöV), der politisch unabhängige nationale Dachverband der ÖV-Transportunternehmen. Der öffentliche Verkehr sei ganz klar ein volkswirtschaftlicher Standortvorteil der Schweiz. Aber: «Unsere Haltung ist klar: Was nichts kostet, hat keinen Wert», sagt Sprecher Roger Baumann.
Eine umfassende Liste über Versuche mit Gratis-ÖV gibt es nicht. Erwähnt wird aber immer wieder das Beispiel Hasselt in Belgien, wo der ÖV von 1997 bis 2013 gratis war. Dort wurde im Lauf dieser Jahre das Busnetz von drei auf über 50 Linien ausgebaut. Schliesslich konnte die Stadt die Betriebskosten aber nicht mehr tragen und musste wieder Geld für die Benutzung verlangen.

Das Vorbild
In der estnischen Hauptstadt Tallinn ist der Nahverkehr für die Einwohner seit 2013 kostenlos, weshalb sie heute vielen Befürwortern als Modell gilt. Gemäss Medienberichten hat die Zahl der Benutzenden um 14 Prozent zugenommen, es kommt zu weniger Staus, und die Luftqualität hat sich verbessert. Laut der «Neuen Zürcher Zeitung» sind Gratisbusse gegenwärtig auch in den englischen Städten Manchester, Bolton und Stockport unterwegs.
In Diskussion ist Gratis-ÖV unter anderem auch in Moskau. Ein Versuch läuft bereits in der nordfranzösischen Stadt Dünkirchen. Doch meist scheitert eine Einführung an den Kosten. Die Frage, die sich stellt: Ist der Nutzen gross genug, um die Kosten zu rechtfertigen?
So antwortete etwa der Berner Gemeinderat auf einen lokalen Vorstoss: Die Gratisbenützung hätte positive Effekte, sei aber für die Stadt nicht finanzierbar. Einerseits müsste der Tarifverbund entschädigt werden, andererseits kämen indirekte Kosten für einen Kapazitätsausbau des Tram- und Busnetzes hinzu.
«Praktisch überall auf der Welt wird der ÖV subventioniert», sagt Verkehrsplanungs-Experte Axhausen. Mit vergleichsweise niedrigen Preisen versuchten die Städte schon heute, die Kundschaft davon zu überzeugen, den ÖV zu nutzen.
Würde dieser aber wie in der Vision des SP-Politikers Cédric Wermuth komplett von der öffentlichen Hand finanziert, «verlieren die Verkehrsbetriebe Steuerungsmöglichkeiten, in gewissem Umfang auch Unabhängigkeit gegenüber der Politik, weil sie dann vollständig am Tropf der Politik hängen», warnt er.
Ein Punkt, den auch der VCS bemängelt: «Mit Gratis-ÖV für alle kann man überhaupt keine Steuerung mehr betreiben, etwa durch Sparbillette. Das Risiko besteht, dass die Passagierzahlen zu Spitzenzeiten immer stärker zunehmen», sagt Schmid. «Aus Umweltsicht ist für uns die spannende Frage, ob die Verlagerungswirkung von Gratis-ÖV grösser ist als der Mehrkonsum.»

Alle Vorstösse abgelehnt
In der Schweiz wurden bereits mehrmals Versuche gestartet, Gratis-ÖV in der Bevölkerung beliebt zu machen. 1972 in Basel, 2004 in Le Locle, 2008 in Genf, 2010 in Glarus und 2012 für junge Menschen bis 25 in der Agglomeration St. Gallen. Keiner kam beim Stimmvolk durch.
«Alle bisherigen lokalen und regionalen Initiativen sind vom jeweiligen Stimmvolk klar abgelehnt worden. Die Idee hat offensichtlich keinen Rückhalt in der Bevölkerung», sagt Baumann vom VöV. Fazit: Die Dringlichkeit scheint in einem Land nicht zu bestehen, in dem der öffentliche Verkehr so gut ausgebaut ist wie kaum in einem anderen und bereits stark subventioniert wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf swissinfo.ch

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DOSSIER: Auto oder Bahn: Wer zahlt Defizite?


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Öffentlicher Verkehr

Der Stellenwert, den Bahn, Busse oder Trams haben sollen. Der Nutzen, die Kosten, die Preise.

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7 Meinungen

  • am 1.03.2020 um 17:20 Uhr
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    Ich halte gar nichts davon, allen das ÖV bezahlen zu müssen. Wir wohnen ausserhalb, ich habe eine pflegebedürftige Mutter, die ich überall hin chauffieren muss, ausserdem muss ich meine Kunden persönlich belierfern, müsste ich das per ÖV machen, dann würde ich jeden Tag 12 Stunden im ÖV unterwegs sein, wo ich mit dem Auto insgesamt 2 Stunden habe! Das ist unrealistisch, wirtschaftsfeindlich, kurzsichtig, und ungerecht. Ausserdem ist unser CO2 Ausstoss viel kleiner als der von China, Indien und anderen Ländern. Ich weiss nicht, wer solche realtitäsfremden und blödsinnigen Ideen in Umlauf bringt. Und wer Angst vor CO2 hat sollte man den Artikel googeln, dass unser Planet grüner geworden ist, gerade wegen CO2 in der Luft.

  • am 1.03.2020 um 17:20 Uhr
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    Ich halte gar nichts davon, allen das ÖV bezahlen zu müssen. Wir wohnen ausserhalb, ich habe eine pflegebedürftige Mutter, die ich überall hin chauffieren muss, ausserdem muss ich meine Kunden persönlich belierfern, müsste ich das per ÖV machen, dann würde ich jeden Tag 12 Stunden im ÖV unterwegs sein, wo ich mit dem Auto insgesamt 2 Stunden habe! Das ist unrealistisch, wirtschaftsfeindlich, kurzsichtig, und ungerecht. Ausserdem ist unser CO2 Ausstoss viel kleiner als der von China, Indien und anderen Ländern. Ich weiss nicht, wer solche realtitäsfremden und blödsinnigen Ideen in Umlauf bringt. Und wer Angst vor CO2 hat sollte man den Artikel googeln, dass unser Planet grüner geworden ist, gerade wegen CO2 in der Luft.

  • am 1.03.2020 um 20:28 Uhr
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    Grundsätzlich ist die Idee des Gratis-ÖV richtig. Die Finanzierbarkeit des ganzen ÖV ist aber zum heutigen Zeitpunkt nicht machbar und es braucht eine differenziertere Beurteilung. Es geht ja im wesentlichen um den Verkehr in den Städten. So müsste eine Mindestzahl festgelegt werden ab welcher Einwohnerzahl in den Städten der ÖV gratis wäre: zum Beispiel ab 10000 oder ab 50000 Einwohnern. Dies könnte man jedoch den Kantonen überlassen, in welchen Orten sie eine solche Massnahme für richtig erachten. Die Vorteile liegen auf der Hand: CO2- Emission würde reduziert, Attraktivität des ÖV gesteigert, keine Kosten für Automaten und deren Wartung, keine Kosten für Kontrollen.

  • am 2.03.2020 um 10:17 Uhr
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    In der Schweiz ist es unmöglich, gute Ideen auch nur ansatzweise zu verwirklichen. Die pervertierte Neidkultur wird hier ja schon den Schülern eingetrichtert. Die Angst, für den den Andern etwas bezahlen zu müssen, von dem man selber nicht profitiert, verhindert jeden Fortschritt. Es braucht nur wenig Logik um einzusehen, dass von einem Gratis OeV praktisch jeder profitieren würde. Auch wer auf das Auto angewiesen ist, hätte den Vorteil von weniger Stau und besserer Luft. Eine merkbare Entlastung wäre es auch für Eltern. Schüler, Studenten und Lehrlinge bezahlen in der Schweiz extrem viel für Schul- und Arbeitsweg.

  • am 2.03.2020 um 10:27 Uhr
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    Nicht nur grosse Städte haben ein Problem.
    Auf dem Land ist oft zu beobachten, dass mehrere Leute einer Familie je im eigenen Auto täglich weit zur Arbeit fahren und zurück. Für Touristen ist das Postauto mit Gästekarte gratis, für Einheimische teuer.

  • am 3.03.2020 um 12:03 Uhr
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    Wenn der ÖV gratis wäre, würde das nicht nur zum Umsteigen, sondern auch zu zusätzlichem Verkehr führen. Das erste wäre ökologisch erwünscht, das zweite hingegen nicht günstig, und zu den kritischen Zeiten wäre der Mehrverkehr auch schwierig zu bewältigen.
    In den Städten könnte der Gesamteffekt positiv sein. Da haben ja schon heute viele Fahrgäste eine Jahreskarte und könnten ohne zusätzliche Kosten noch viel mehr fahren, wenn sie wollten. Touristisches Umherfahren mit Tram und Bus ist aber, zumindest für Einheimische, nicht sehr attraktiv, und wird wohl kaum in grossem Stil praktiziert.
    Für längere Strecken überwiegen in meinen Augen eher die Probleme. Das Langdistanzpendeln könnte weiter zunehmen, wenn es nichts kostet. Vor allem könnten viel mehr Leute in der Freizeit mal kurz ins Tessin oder ins Wallis oder sonstwo hin fahren. Der Mehrverkehr würde an Orten und zu Zeiten erfolgen, wo die Bahnen schon heute an ihre Grenzen stossen.
    Auf langen Strecken müsste die Entwicklung eher in eine andere Richtung gehen: Ersatz des GA durch eine Alternative, die in der Benutzung (fast) genauso bequem sein müsste, bei welcher aber die tatsächlich gefahrenen Kilometer am Schluss abgerechnet werden könnten.

  • am 3.03.2020 um 18:07 Uhr
    Permalink

    Bei Gratis-ÖV würde der Riesenbürokratie-Budgetposten Billet-Schalter/Automaten/Software sowie Billet-Kontrolle (Personal und Software) wegfallen: Reduce to the Max.

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