Zug

Zug im neuen Gotthard-Basistunnel © SBB

Die Neat im Konflikt zwischen Tempo und Kapazität

Hanspeter Guggenbühl /  Je schneller Personen mit der Bahn durch die Neat in den Süden brausen, desto weniger Platz bleibt für Güter.

Red. Im Vorfeld der Einweihung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni dieses Jahres veröffentlichen wir in lockerer Folge mehrere Artikel zu verschiedenen Aspekten der Neat (3).

Auf einem Schienenstrang können sich die Züge im Zweiminuten-Takt folgen. Das ergäbe 30 Züge pro Stunde und Richtung. Zumindest theoretisch. Die Theorie setzt voraus, dass alle Züge im gleichen Tempo fahren. Die Praxis aber ist anders: Personenzüge verkehren in der Schweiz mit bis zu 200 km/h. Güterzüge hingegen bummeln mit 80 bis 100 km/h durchs Land. Damit die Personenzüge sie überholen können, müssen Güterzüge immer mal wieder auf Abstellgleise ausweichen oder werden – wie etwa zwischen Olten und Bern – auf langsamere Routen umgeleitet.
Personen- contra Güterverkehr
Dieses Problem akzentuiert sich bei der Neat. Theoretisch können die Personenzüge mit 250 km/h durch den neuen Gotthard-Basistunnel rasen; ihre Fahrzeit durch die 57 Kilometer lange Röhre betrüge damit nur 14 Minuten. Doch weil es in diesem längsten Eisenbahntunnel der Welt kein Abstellgleis gibt, bliebe wenig Platz für Güter. Denn die Güterzüge mit Tempo 100 benötigen für die Tunneldurchfahrt 34 Minuten.
Daraus lässt sich eine einfache Regel ableiten: Je grösser die Differenz der Geschwindigkeit auf einer Bahnstrecke ist, desto weniger Züge können darauf fahren und desto kleiner ist die Kapazität. Zwischen dem Wunsch, die Reisenden möglichst schnell durch die Alpen ins Tessin oder nach Mailand zu transportieren, und dem politischen Ziel, möglichst viele Güter von der Strasse auf die Schiene zu verlagern, besteht also ein Konflikt.
Das Fahrplan-Konzept der SBB
Um diesen Konflikt zu entschärfen, planen die SBB für die Gotthard-Basislinie folgendes Fahrplan- und Betriebskonzept:
● ANGEBOT Ab Ende 2016, wenn der Gotthard-Basistunnel in Betrieb geht, verkehren auf dieser neuen Linie pro Stunde und Richtung zwei Personen- plus vier Güterzüge. Ab Ende 2020, wenn zusätzlich der Ceneri-Basistunnel aufgeht und alle Zufahrtslinien auf vier Meter Eckhöhe (4-Meter-Korridor) ausgebaut sind, wird die Zahl der Güterzüge auf sechs pro Stunde und Richtung erhöht. Auf der Bergstrecke über Göschenen-Airolo bleibt pro Stunde weiterhin ein Interregio-Zug.
● TEMPO Die beiden Personenzüge (ein Intercity pro Stunde ins Tessin und ein Euro-City nach Mailand) fahren im Gotthard-Basistunnel mit 200 km/h; sie benötigen damit drei bis vier Minuten mehr Zeit als beim 250-Kilometer-Tempo. Die Güterzüge fahren mit 100 km/h. Noch langsamere Güterzüge werden auf die Zeit zwischen 24 und 06 Uhr verbannt, wenn der Personenverkehr ruht.
● BETRIEB Die drei Güterzüge halten vor dem Tunnel auf einem Abstellgleis und lassen sich dort vom jede halbe Stunde folgenden Personenzug überholen. Dann beschleunigen sie aus dem Stand auf 100 km/h und fahren mit wachsendem Abstand dem Personenzug nach, während von hinten der nächste Personenzug mit sinkendem Abstand folgt.
Dieses Betriebskonzept soll bei störungsfreiem Betrieb just aufgehen. Je nach Nachfrage lassen sich an Sonn- und Feiertagen zusätzliche Personen- und nachts zusätzliche Güterzüge durch den Gotthard leiten. Die SBB halten dazu auf Anfrage fest: «Die Kapazität im Güterverkehr wird sich pro Tag schrittweise von heute 180 auf 210 Trassen Ende 2016 und auf 260 Trassen Ende 2020 erhöhen. Das entspricht insgesamt einer Kapazitätszunahme von 44 Prozent.»
Poltische Vorgaben
«Mit der Neat kann der überwiegende Teil des Gütertransitverkehrs von der Strasse auf die Schiene verlagert werden», versprach der Bundesrat vor der Neat-Abstimmung im Jahr 1992. Die 1994 vom Volk angenommene Alpeninitiative verlangt ab 2004 eine hundertprozentige Verlagerung des alpenquerenden «Gütertransits von Grenze zu Grenze» auf die Schiene. Das daraus folgende Güterverkehr-Verlagerungsgesetz begrenzt die Zahl aller Lastwagenfahrten, welche die Schweizer Alpen durchqueren, ab 2018 auf 650’000 pro Jahr (heute sind es rund eine Million Lastwagenfahrten).
Theoretisch reicht die Kapazität von 260 Zügen (Trassen) pro Tag und Richtung, um alle Güter, die heute durch die Schweizer Alpen transportiert werden, mit der Bahn zu befördern. Ob aber die Neat langfristig hält, was die politischen Ankündigungen und Vorschriften versprechen, ist ungewiss. Denn erstens fehlt ein politisches Instrument wie zum Beispiel eine Kontingentierung mittels Alpentransitbörse, um den Gütertransport auf der Strasse verbindlich zu begrenzen.
Entwicklung der Nachfrage
Zweitens lässt sich schwer vorher sagen, wie sich die Nachfrage entwickeln wird. Eine Zunahme des Güterverkehrs durch die Schweizer Alpen ist dann zu erwarten, wenn die seit Jahren stagnierende Wirtschaft in Italien wieder wächst. Oder wenn die Meerhäfen in Italien besser ans italienische Bahnnetz angeschlossen werden. Oder wenn die italienische Regierung eine Verkehrswende vollzieht und den Gütertransport auf der Schiene wieder stärker fördert. Oder wenn die Transportintensität der Wirtschaft im Norden und Süden zunimmt, also pro Einheit Bruttoinlandprodukt mehr Güter hin und her befördert werden. Oder wenn die höhere Produktivität der Neat dazu führt, dass ein Teil der Güter von den Transitrouten in Frankreich und Österreich in die Schweiz verlagert werden.
Treffen einige oder alle diese Faktoren ein, verschärft sich der Konflikt zwischen Personen- und Güterverkehr. Um mehr Güterzüge durch den Gotthard-Basistunnel leiten zu können, müssten die SBB das Tempo der Personenzüge drosseln. Was zu verschmerzen wäre. Beispiel: Wenn Personenzüge statt mit 200 km/h mit 160 km/h durch die 57 Kilometer lange Röhre fahren und Platz für zwei zusätzliche Güterzüge pro Stunde schaffen, verlängert sich die Reisezeit von Zürich oder Basel nach Mailand um vier Minuten. Zum Vergleich: Der Reisezeitgewinn, den Neat und Ceneri-Basistunnel ab Ende 2020 bringen, beträgt gegenüber heute eine Stunde.


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2 Meinungen

  • am 26.05.2016 um 17:00 Uhr
    Permalink

    Es kommt nicht nur auf die Anzahl und die Geschwindigkeit der Reisezüge an, sondern auch auf die Verteilung über die Stunde. Mit dem Anspruch auf den Halbstundentakt (auch mit nur 200 / 160km/h) gehen viel mehr Gütertrassen verloren als mit je einem EC + IC pro Stunde mit 250km/h + 200km/h wenn diese gebündelt fahren würden. Alternative wäre also auch: je ein IC / EC von Basel – Luzern und von Zürich mit Verknüpfung in Arth-Goldau und zweistündlichem Wechsel nach Bellinzona – Lugano – Milano und Bellinzona – Locarno. Dazu um eine halbe Stunde verschoben im Stundentakt ein IR ab Zürich, der alle bisherigen IR-Halte bedient und über den Berg bis Chiasso verkehrt (Fahrzeit 1 Std länger und damit auch in Bellinzona wieder im Halbstundentakt passend). Von Luzern her bieten Voralpenexpress und S3 die Direktverbindungen bis Arth-Goldau bzw. Brunnen mit Unterwegshalten.

    Falls man unbedingt den Halbstundentakt gewollt hätte, wäre dieser mit 160km/h problemlos zwischen den Güterzügen möglich – dafür hätte man den GBT aber nicht auf 250km/h auslegen müssen und das Zugsicherungssystem ETCS Level 2, das für den Güterverkehr eine zusätzliche Hürde darstellt, wäre auch nicht nötig…

  • am 30.05.2016 um 22:07 Uhr
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    Wer hat die Hochgeschwindigkeitszüge geliefert? Die SBB haben doch überhaupt keine Erfahrung mit diesen Geschwindigkeiten. Am meisten traue ich den Franzosen, die seit über 40 Jahren den TGV betreiben und bauen. Möglicherweise sind die Japaner auch up-to-date… aber die SBB?

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