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Flavio Pelli im FDP-Werbefilm © fdp

Die Krise des Freisinns ist nicht neuern Datums

Hans Ulrich Jost /  Der Freisinn steckt in einem Formtief. Ein neues Phänomen? Der Historiker Hans-Ulrich Jost blickt zurück und zieht Bilanz.

Kürzlich beklagte die NZZ in einem mit «Ohne liberalen Fokus» betitelten Artikel das triste Schicksal der «schrumpfenden freisinnigen Familie» und stellte die, durchaus berechtigte, Frage : «…wird die Partei, die seit 160 Jahren an den Schalthebeln der Macht sitzt, sukzessive zur marginalen Kraft degadiert ?» Die Partei habe sich, wird treffend beigefügt, «programmatisch verheddert».

Der Abstieg des Freisinn ist allerdings nicht, wie viele Kommentatoren der aktuellen Krise anzunehmen pflegen, jüngeren Datums. Wer die Geschichte dieser Partei überfliegt, muss vielmehr feststellen, dass die Erosion freisinniger Vorherrschaft vor über einem Jahrhundert eingesetzt hat. Es zeigt sich insbesondere, dass der Freisinn aus Gründen purer Machterhaltung immer wieder von seinen Grundprinzipien abwich und damit beim Wahlvolk zunehmend an Glaubwürdigkeit verlor.

Dem Fortschritt verpflichtete Elite

Die Sternstunde des Freisinns war zweifelsohne die Gründung und die Durchsetzung des Bundesstaates von 1848. Zurecht berief sich dann die offiziell 1893 gegründete Partei immer wieder auf diese Tat. Der Freisinn dieser Zeit verstand sich als moralisch und intellektuell aufgeklärte, dem Fortschritt verpflichtete Elite. Seine Grundfeste und Garant der Zukunft war der Bundesstaat. Doch Ende der 1970er Jahre nahm die Partei den verhängnisvollen Wahlspruch «Weniger Staat – mehr Freiheit» in ihr Programm auf und erweckte damit den Eindruck, sich von jenem Staat zu verabschieden, den sie 130 Jahre zuvor geschaffen hatte. Dieser rhetorische Tiefschlag ist nur eines der vielen Beispiele, die den Deutungsverlust der zu Beginn beinahe utopischen freisinnigen Perspektive signalisieren.

Beginnen wir, um die Wendepunkte der freisinnigen Entwicklung zu verstehen, mit der «sozialen Frage». Einer der «Väter» des Bundesstaates von 1848, Bundesrat Jakob Stämpfli, hatte noch dafür plädiert, dass der neue Staat in erster Linie für die auch in den Zweckartikeln der Bundesverfassung aufgenommene «Wohlfahrt» zu sorgen habe. Tatsächlich kam beispielsweise 1877 unter freisinniger Führung, allerdings schon getrübt durch einen massiven Widerstand von Seiten der Unternehmer – darunter nicht wenige Freisinnige –, ein relativ fortschrittliches Fabrikgesetz zustande. 23 Jahre später fiel jedoch ein weiteres soziales Projekt, die obligatorische Kranken- und Unfallversicherung (KUVG), durch. Für diesen Misserfolg waren nicht allein die konservative und föderalistische Opposition, sondern ebensosehr die «liberalen» Vertreter der privaten Kassen, viele Unternehmer und nicht zuletzt die Banken verantwortlich. Stämpflis Utopie der «Wohlfahrt für alle» war im Freisinn nicht mehr mehrheitsfähig. Immerhin konnte wenigstens mit der SUVA ein kleiner Teil des ursprünglichen Konzepts gerettet werden.

Gegen die erste AHV-Initiative

Noch krasser kam die Erosion der sozialpolitischen Kompetenz bei der Altersfürsorge zu Tage. Als 1919 der Basler Freisinnige Christian Rothenberger mit Erfolg eine AHV-Initiative lancierte, wurde er im Schlussgang von der eigenen Partei, ähnlich wie beim KUVG, im Stich gelassen. Anzufügen wäre allerdings, dass es 1947 Bundesrat Walther Stampfli, einem der letzten willensstarken freisinnigen Führer, gelang, die AHV durchzusetzen. Doch schon kurz nach der Abstimmung sammelten sich dann jene Kräfte, die in den 1970er Jahren mit der zweiten Säule die Altersvorsorge in den für die Banken und die Börse lukrativen privaten Sektor zurückholten. Eine Tat, die bestens zum Wahlspruch «weniger Staat» passte.

Die zunehmenden Schwierigkeiten, politisch mehrheitsfähig zu bleiben, brachte den Freisinn in ein schiefes Licht. Er beanspruchte zwar die intellektuelle und staatliche Deutungshoheit, konnte diese aber selbst im Innern der Partei nicht mehr durchsetzen. So festigte sich auch seit dem KUVG und der Rothenberger-Initiative der Eindruck, die Partei sei unfähig, sozialpolitische Projekte mit den Zielvorstellungen seiner Wirtschaftselite zu versöhnen. Dieser Zwiespalt hatte schon in den 1880er Jahren zur Abwanderung ihres sozialpolitischen Flügels zur SPS geführt. Und in der sozialen Krise am Ende des Ersten Weltkrieges spalteten sich dann für einige Jahre die bernischen Beamten von der Mutterpartei, weil sie ihre sozialen und wirtschaftlichen Interessen vernachlässigt sahen. In denselben Jahren gingen auch die Bauern, ursprünglich ein wichtiger Kerntrupp des Freisinns, ihre eigenen Wege und gründeten die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei BGB, die heute unter dem Namen SVP dem Freisinn den Spruch vom «Weniger Staat – mehr Freiheit» abgenommen hat.

Versöhnung mit Hintergedanken

Doch die wohl folgenreichste strategische Neuausrichtung der Partei erfolgte 1891 mit der Aufnahme eines Vertreters der katholisch-konservativen Opposition in den Bundesrat. Gemäss einer oft vorgebrachten, ziemlich blauäugigen Erklärung, soll dieser Schritt erfolgt sein, um dem ehemaligen Erbfeind des Bundesstaates von 1848 die Hand zur Versöhnung zu reichen. Der eigentliche Grund war allerdings viel handfester. Es ging einerseits darum, die permanente und erfolgreiche Referendumsopposition der Rechten im Keime zu ersticken, und, anderseits, die aufkommende sozialistische Linke abzublocken. Die Spekulation, die Katholisch-Konservativen würden ihre antiliberale Ideologie aufgeben, erfüllte sich hingegen nicht. So musste sich der Freisinn mit der permanenten Obstruktion ihres «Partners» herumschlagen, eine Übung, die dem «liberalen Fokus» oft sehr abträglich war. Die Lage ist heute kaum besser, wie das aktuelle, eher gehässige Zwiegespräch der beiden Parteien zeigt.

Eine weitere schwere Hypothek nahm der Freisinn auf sich, als er relatif unkritisch ins Kielwasser des Vororts, des 1870 gegründeten Handels- und Industrievereins (heute «economiesuisse»), einschwenkte. Gewiss, als wirtschaftsgläubige Fortschrittspartei lag es nahe, sich eng an die Wirtschaftselite zu binden. Der Vorort sass allerdings dank der ihm für Referendumskämpfe zur Verfügung stehenden Mittel politisch am längern Hebel. Dies beeinträchtigte die Bewegungsfreiheit der Freisinnigen und schuf den Eindruck, die Partei hänge eher hilflos an den Rockschössen der Wirtschaft. Insgesamt gesehen hat wohl die Hilfe des Vororts dem Image der Partei mehr geschadet als genützt. Hinzu kam, dass die beinahe unvermeidliche Implikation der freisinnige Elite in Wirtschaftsskandale, schon im 19. Jahrhundert und nicht erst seit dem Swissair-Grounding ein Problem, das Image der Partei immer wieder belastete.

Die SVP als Erbe des «Mythos Schweiz»

Die wirtschaftliche Globalisierung hat dem Freisinn nun noch einen weiteren Zielkonflikt präpariert. In einer globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt wird bekanntlich dem einzelnen Staat nur mehr wenig Gewicht beigemessen. Dies verdammt den Freisinn zu einem kaum machbaren Spagat : Er sollte sowohl dem ökonomischen Trend der Globalisierung folgen, wie auch das Erbe «seines» Bundesstaates verwalten, eines Erbgutes, das heute im wirtschaftlichen Fokus als Auslaufmodell abqualifiziert wird. Gleichzeitig wird ein Teil seines Erbes, der historische Mythos Schweiz, in pervertierter Form und jeden freisinnigen Gedankengutes bar, von der rechtspopulistischen SVP als Schlachtruf in Beschlag genommen.

Andere Parteien haben selbstverständlich ebenfalls vergleichbare Leidensgeschichten, doch jene des Freisinns ist in besonderem Masse mit dem Schicksal des Bundesstaates verbunden. Wenn nun also nach einem neuen «liberalen Fokus» gerufen wird, so sollte Klarheit darüber herrschen, wem diese Neuausrichtung zu dienen hätte. Der Freisinn, dessen Name seit der Fusion von 2009 mit der Liberalen Partei «FDP.Die Liberalen» lautet, wird aber immer noch an seinen Leistungen von 1848, an seiner Vision bezüglich des Bundesstaates gemessen. Ob jedoch die heute vorherrschende «liberale» Ökonomie eine tragfähige Basis für eine glaubwürdige Anknüpfung an das historische Erbe der Bundesstaatsgründer abgibt, ist eine andere Frage. Gelingt ihr diese Überführung nicht, so wird die «FDP.Die Liberalen» eine simple wirtschaftliche Interessenvertretung, deren Zukunft in keiner Weise gesichert ist.

Keine neue Glaubwürdigkeit ohne grosses Projekt

Der «liberale Fokus», mit Ausnahme der Linken von praktisch allen Parteien in Anspruch genommen, wird nicht reichen, um den Freisinn zu retten. Dieser müsste sich vielmehr, mit Blick auf sein historisches Erbe, glaubwürdig in Bezug auf den Bundesstaat neu positionieren. Dazu wäre ein grosses Projekt, wie jenes von 1848, vonnöten. Ein solches ist jedoch nicht in Sicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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