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Schlagzeilen zur Wahl in Ungarn, bevor die Ergebnisse vorlagen © Hp. Guggenbühl

Wenn Journalisten vor Redaktionsschluss pokern – und verlieren

Hanspeter Guggenbühl /  «Der Aufstand der Orban-Gegner», titelten viele Schweizer Zeitungen am Tag, nachdem Orban die Wahl gewonnen hatte. Ein Lehrstück.

Am Sonntagabend kurz nach 23 Uhr war alles klar: Viktor Orban gewann die Parlamentswahl in Ungarn. Rund 49 Prozent aller Stimmen entfielen auf seine nationalistische Fidesz-Partei, fünf Prozent mehr als vor vier Jahren. Dank Majorzsystem verfügt die Fidesz damit über mindestens 133 Mandate im 199 Sitze umfassenden ungarischen Parlament. Mit dieser Zweidrittels-Mehrheit sichert sich Orban noch mehr Macht, als er bisher schon hatte. Seine Gegner erlitten trotz hoher Wahlbeteiligung eine verheerende Niederlage.

Das Dilemma vor Redaktionsschluss

Leider wurde dieses klare Ergebnis am Sonntagabend erst nach Redaktionsschluss der meisten Zeitungen publiziert. Die Medienschaffenden gerieten damit ins Dilemma: Sollen sie ihren Leserinnen und Lesern in einer kurzen Meldung kundtun, dass sie das Ergebnis bei Druckbeginn noch nicht kannten – und damit das Feld am Montag den Radio- und TV-Stationen sowie den Online-Medien überlassen? Oder sollen sie pokern und berichten, was sie aufgrund der spärlichen Informationen erwarten – mit dem Risiko, sich gegenüber ihren Abonnentinnen und Abonnenten zu blamieren?

Einer, der hoch pokerte, war der Journalist Rudolf Gruber, langjähriger Osteuropa-Korrespondent von mehreren Zeitungen in der Schweiz und in Deutschland mit Sitz in Wien. Am Sonntagabend um 19 Uhr teilte er den Redaktionen in der Schweiz zwar mit, die Ergebnisse über die Wahl in Ungarn verzögerten sich. Trotzdem beschloss er eine Stunde später, zu liefern, was er erwartete. Um 20.40 Uhr übermittelte Gruber seinen Artikel und um 21.20 Uhr zusätzlich einen Kommentar zu den Wahlen in Ungarn.

Die diensthabende Redaktion in Luzern, die den Auslandteil sowohl für die Luzerner Zeitung als auch für das St.Galler Tagblatt samt mehr als einem Dutzend Kopfblätter produziert, pokerte nach Vorgabe ihres Korrespondenten mit: Sie setzte seinen Bericht und den Kommentar kurz vor Redaktionsschluss um 22 Uhr ins Blatt, obwohl noch kein Resultat vorlag. Auch die Südostschweiz und deren Kopfblätter zwischen Graubünden und Zürcher Obersee publizierten den Artikel, nicht aber den später gelieferten Kommentar.

Was Lesende von Sarnen bis Rorschach erfuhren

Das Resultat dieses Pokers erfuhren Leserinnen und Leser von Poschiavo über Chur bis Uznach und von Sarnen über Luzern und St. Gallen bis Rorschach, als sie am Montagmorgen ihr abonniertes Leibblatt aus dem Briefkasten fischten. Im Auslandteil lasen sie auf der Titelzeile unisono: «Aufstand der Orban-Gegner». Und im Vorspann erfuhren sie: «Mit dieser Überraschung hat niemand gerechnet: Noch nie seit 1989 haben sich so viele Ungarn an Wahlen beteiligt wie diesmal. Premier Viktor Orban kann von dem Rekord nicht profitieren.»

Also muss er verloren haben, mutmassten die Abonnentinnen und Abonnenten der erwähnten Zeitungen. Der zusätzliche Kommentar unter dem Titel «Schicksalstage für Orban» bestätigte diesen Eindruck. Zitat daraus: «Nun scheint die Zivilgesellschaft erwacht zu sein, den Allmachtsfantasien ihres Premiers eine Absage zu erteilen. Orban kann nach dieser Wahl weiterregieren, aber mit schmälerer Mehrheit schwerlich weitermachen wie bisher.» Sowohl im Bericht als auch im Kommentar war offensichtlich die Hoffnung der Vater von Grubers Gedanken.

Was alle-Leserinnen und Leser in der Zentral-, Ost- und Südostschweiz am Montagmorgen irritieren musste, waren die Nachrichten der Radiosender und der Online-Medien. So meldete Radio SRF am frühen Montagmorgen – dank floatendem Redaktionsschluss richtigerweise: «Viktor Orban hat in Ungarn zum dritten Mal in Serie einen glänzenden Wahlsieg errungen.» Diese aktuelle Meldung machte die Informationen in ihren regionalen Zeitungen («Orban kann nicht profitieren», «schmalere Mehrheit», etc. ) zu Altpapier, bevor sie fertig gelesen waren.

Konflikt zwischen Tatsachen und Tempo

Der konkrete Fall, den ich hier rapportiere, ist das Resultat eines generellen Dilemmas, dem alle Zeitungsredaktionen unterliegen: dem alltäglichen Konflikt zwischen gesicherter Information und publizistischem Tempo. Patrick Nigg, Auslandredaktor der beroffenen Südostschweiz, formuliert das Dilemma auf Anfrage wie folgt: «Spätabends vor Redaktionsschluss muss sich jede Zeitungsredaktion fragen: Ist unser Artikel in acht Stunden noch gültig? Die Antwort darauf ist zwangsläufig unsicher.»

Diesem Dilemma seien die Redaktionen im Wettbewerb mit elektronischen Medien schon ausgesetzt gewesen, bevor Online-Medien das Tempo zusätzlich verschärften, betont Nigg. Das mag sein. Doch Fehlleistungen haben heute mehr Breitenwirkung, weil immer weniger Redaktionen immer mehr Zeitungen und Kopfblätter mit einem einheitlichen Mantel beliefern. Im NZZ-Regionalmedienverbund zum Beispiel publizieren heute mehr als ein Dutzend Kopfblätter, was eine Mantelredaktionen in Luzern (Auslandteil) oder St.Gallen (Inlandteil) produziert.

Tamedia vorsichtig, NZZ knapp daneben

Im konkreten Fall der Wahl in Ungarn gab es immerhin Unterschiede zwischen Risikobereitschaft und Vorsicht. Die Redaktionen von Luzerner Zeitung und St.Galler Tagblatt sowie die Redaktion der Südostschweiz entschieden sich wie gezeigt für das Risiko, indem sie den auf Prognosen und Wunschdenken basierenden Artikel ihres Osteuropa-Korrespondenten am Montagmorgen als Abstimmungs-Information ins Blatt setzten.

Vorsichtiger blieb der Tamedia-Verbund: «Nervöses Warten auf die Sieger» lautete der Titel in der Montagsausgabe des Landboten und der angeschlossenen Zürcher Landzeitungen, «Nervöses Warten» jener im Zürcher Tages-Anzeiger und der Berner Zeitung.

Zwischen Risiko und Vorsicht bewegte sich die NZZ-Stammzeitung, die bei Redaktionsschluss das Ergebnis ebenfalls nicht kannte und im Titel mutmasste: «Orban verpasst wohl ‹Supermehrheit› – Rekordhohe Wahlbeteiligung könnte Ungarns Regierungspartei Verluste bringen» (was sich nicht bewahrheitete), sowie die Basler Zeitung (BaZ) mit dem ebenfalls noch ungesicherten aber zutreffenden Titel «Viktor, der Sieger». Offensichtlich hatte der in Budapest stationierte BaZ-Korrespondent die bessere Nase als der im fernen Wien sitzende Rudolf Gruber, der die NZZ-Regionalmedien und die Südostschweiz versorgte.

Südostschweiz legt ihren Irrtum offen

Bleibt die Frage, wie der NZZ-Medienverbund und die Südostschweiz ihre Fehlleistung den Leserinnen und Lesern erklären (um diese Frage zu beantworten, gibt Infosperber der Information Vorzug gegenüber dem Tempo und veröffentlicht diesen Text darum erst heute). Unter dem Titel «Triumph statt Denkzettel: Orban bleibt Alleinherrscher» legte die Südostschweiz in ihrer Dienstagsausgabe ihren Irrtum offen mit den Worten: «Von wegen ‹Aufstand der Orbán-Gegner› – Viktor Orbán hat bei den ungarischen Parlamentswahlen nicht etwa Terrain verloren – wie unter anderen die ‹Südostschweiz› am Sonntagabend glaubte. Orbán hat im Gegenteil die Opposition nahezu restlos zertrümmert und wurde als Alleinherrscher bestätigt.»

Im weiteren Text streute sich dann Rudolf Gruber selber Asche aufs Haupt, indem er schreibt: «So wurde der ‹Aufstand der Orbán-Gegner› in dieser Zeitung zum Titel, weil sämtliche Analysen die höhere Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2014 als Nachteil für Fidesz und als Vorteil der Opposition deuteten … bis dann am späten Abend erste konkrete Zahlen vorlagen.»

NZZ-Regionalmedien: «Unschärfen beseitigt»

Die Luzerner Zeitung hingegen und mit ihr die übrigen NZZ-Regionalblätter informierten ihre Leserschaft am Dienstag über die definitiven Resultate so, wie wenn es ihre gegenteilige Einschätzung am Vortag nie gegeben hätte. Als Autor zeichnet diesmal nicht mehr Rudolf Gruber aus Wien, sondern ein Korrespondent aus Warschau.

Pascal Hollenstein, Chef der NZZ-Regionalmedien, hatte dieses Vorgehen am Montag gegenüber Infosperber bereits angekündigt und wie folgt begründet: «Über die weiteren Entwicklungen nach dem Redaktionsschluss im Print haben wir auch auf unseren Markenportalen (Online-Medien, d.V.) berichtet. Unschärfen, die zur Zeit des Redaktionsschlusses im Print noch bestanden haben mögen, und die sich in der gedruckten Zeitung niedergeschlagen haben, sind damit beseitigt.» Man kann das auch kürzer formulieren: Was kümmert mich meine Information von gestern?


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5 Meinungen

  • am 10.04.2018 um 11:59 Uhr
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    Wenn Korrespondenten und Redaktoren im oben dargestellten Mass nicht unterscheiden können zwischen Tempo und Wahrheit, sind diese am Ende ihres Gebrauchswertes angelangt. Und mit ihnen des Blatt, das Kopfblatt und die einst gute Regionalzeitung.

  • am 10.04.2018 um 14:03 Uhr
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    Ich sitze seit Tagen vor der Flut von qualitativ fragwürdigen Artikeln im Tagesanzeiger, wenn es um internationale Berichterstattung geht. Recherche, vor allem vor Ort, scheint bei allen diesen Zeitungen ein Fremdwort geworden zu sein.

    Das überzeugende Wahlresultat von Orban ist nicht weiter verwunderlich, denn die Menschen wählen nicht notwendigerweise diese Person aus Überzeugung, sondern weil die Gegner eine unakzeptable Zukunft versprechen. Also nimmt man halt auch die Person Orban in Kauf. Dasselbe lässt sich über Trump sagen, er siegte nicht, weil er Trump ist, sondern weil die Menschen eine unakzeptable Zukunft unter Clinton verhindern wollten.

  • Helmut_Scheben_310
    am 10.04.2018 um 16:23 Uhr
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    Man muss nicht Paul Virilio gelesen haben, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass kontinuierlich kürzere Produktionszeiten den Journalismus kaputt machen. An irgendeinem Punkt wird Geschwindigkeit zu Ignoranz. Quod erat demonstrandum

  • am 11.04.2018 um 13:33 Uhr
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    Die allermeisten Voraussagen zur Ungarn-Wahl, lagen falsch. Die ungarischen Wähler ticken halt auf ihre eigene Weise und nicht so, wie es ausländische Reporter und Redaktionen, nach ihren eigenen Vorstellungen gern hätten.

    Einer der wenigen, fast vollständig zur Ungarnwahl zutreffenden Artikel, erschien am 26.2.2018 hier:

    http://www.textatelier.com/index.php?id=996&blognr=6261

    Doch hatte selbst dieser Autor, nicht an die Fortsetzung von Orbans Zweidrittel-Mehrheit geglaubt. Dafür aber ein paar Details zum «Soros-Zank» nüchtern und sachlich detailliert berichtet.

    Wer selbst Menschen in Ungarn persönlich kennt und ihre alltäglichen Sorgen und Probleme, der wundert sich schön öfters mal über die recht «grobgestrickte» Berichterstattung in den meisten schweizer und deutschen Zeitungen. Als der Bayerische Rundfunk vor einiger Zeit im Rahmen einer Sendung von positiven Beispielen der beruflichen Beschäftigung Behinderter, in der Bekleidungsindustrie in Süd-Ungarn berichtete, wurde den Journalisten sogar vorgeworfen, sie würden mit sowas nur «Orban unterstützen» und schlimmer. Etwas mehr Sachlichkeit wäre daher insgesamt besser.

  • am 11.04.2018 um 19:55 Uhr
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    Ja. Und? Journaille halt, schon lange resigniert, in Trott und Selbsthass versunken, wissend um das nicht über den Tag hinausreichende Erinnerungsvermögen ihrer Leserschaft. Der Zynischste wird Chef. Wichtig ist ja sowieso nichts ausser den Interessen der Nato. Aber darüber wird schon deswegen kaum berichtet, weil gar keiner etwas darüber weiss. Falls doch mal Fragen auftauchen sollten, haben die Spindoctors den Boden gut vorbereitet, auf dass alles schnell untergepflügt werden kann. Und der famose Herr Gruber zumal: ein Schlafpantoffelschlurfer und Hotelhallenrechercheur erster Güte.
    Ad Orbán: Ist eigentlich niemandem aufgefallen, dass die Schweizer Bevölkerung, die die EU mit gerade noch etwas über 20% befürwortet, der Mehrheit der Ungarn bedeutend näher steht als dem europäischen politischen und publizistischen Mainstream?

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