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Je besser Abstandsregeln eingehalten werden, desto weniger kann sich Sars-CoV-2 ausbreiten. © rfi

Statistiker: «Lockerung nicht nur von R-Zahl abhängig machen»

Urs P. Gasche /  Die Zahl der durchschnittlichen Ansteckungen pro Infizierter wird aufgrund unsicherer Zahlen geschätzt, sagen deutsche Statistiker.

Ebenso fragwürdig wie das ständige Aufaddieren der insgesamt positiv auf Sars-CoV-2 getesteten «Fälle» und der bisherigen Zahl der Todesfälle sei das Starren auf die tägliche Entwicklung der Reproduktionszahl R. Das schreiben Statistiker des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung in ihrer «Unstatistik vom 30.4.2020».*

Was die Zahl R aussagt

Ist die Reproduktionszahl R = 2, dann verdoppelt sich die Anzahl der Neuinfektionen innerhalb der sogenannten Generationszeit: Dies ist die durchschnittliche Zeitspanne zwischen der Infektion einer Person und der Infektion der von ihr angesteckten Personen. Es kommt zu einem exponentiellen Wachstum der Infektionen mit der Folge, dass das Gesundheitssystem innerhalb weniger Wochen an seine Grenzen stossen wird.
Auf Basis der bisherigen Erfahrung mit der Pandemie geht das Robert Koch-Institut von einer Generationszeit von vier Tagen aus.
Ist R = 1, kommt es zu einer gleichbleibenden Anzahl von Neuinfektionen und somit zu einem linearen Anstieg der Fallzahl. Ist R hingegen kleiner als 1, verringert sich die Anzahl der Neuinfektionen im Zeitverlauf. Solange R ≤ 1 ist, wird das Gesundheitssystem funktionstüchtig bleiben. Bei einem R = 0,5 halbiert sich die Anzahl der Neuinfektionen innerhalb einer Generationszeit und bereits nach wenigen Generationszeiten erfolgen praktisch keine Ansteckungen mehr.

Die Reproduktionszahl hat einen erheblichen Schätzfehler

Das Robert Koch-Institut verwendet für die Berechnungen des Faktors R nicht nur die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen, sondern die aus den gemeldeten Neuinfektionen in einem vorgelagerten Schritt geschätzten Neuerkrankungen. Für diese Schätzung wird ein statistisches Verfahren eingesetzt (ein sogenanntes Nowcasting), um mögliche Verzögerungen bei der Diagnose, der Meldung und der Übermittlung der Anzahl der Neuerkrankungen zu berücksichtigen. Der Nowcast für den 1. April beispielsweise schwankte zwischen rund 3’000 und fast 6’000 neuen Fällen – je nachdem, zu welchem Zeitpunkt er ermittelt wurde.
Deshalb handelt es sich bei der Reproduktionszahl um eine Schätzung mit einem nicht unerheblichen Schätzfehler, der bei der Bewertung der aktuellen Lage immer berücksichtigt werden muss. Daran erinnern die Statistiker. So sei in der öffentlichen Diskussion weitgehend unberücksichtigt geblieben, dass das Robert Koch-Institut am 9. April angegeben hat, dass das 95%-Konfidenzintervall der Reproduktionsrate den Bereich von 0,8 bis 1,1 umfasste.

Vorschnelle Meldung, R sei wieder auf 1 gestiegen

Am 28. April verbreitete «Zeit online» warnend, die Reproduktionszahl sei in Deutschland wieder auf 1 gestiegen. Viele Medien verbreiteten diese Meldung ohne Einordnung weiter, was jeweils zu einer knackigen Schlagzeile führte. Doch die wieder «gestiegene» Zahl R sei «kein Grund zur Besorgnis», sagen die Statistiker: «Denn es kann sich bei diesem Anstieg durchaus um eine Schwankung innerhalb des Schätzfehlers handeln. Es ist sogar durchaus möglich, dass die wahre Reproduktionsrate konstant geblieben oder gar leicht gefallen ist.»
Viele der Probleme der ständig verbreiteten Infektions- und Sterbequoten würden auch für die Reproduktionszahl gelten. So wird insbesondere angenommen, dass die Dunkelziffer der nicht erfassten Infektionen über die Zeit hinweg konstant bleibt. Wird jedoch die Zahl der Tests erhöht, erhöht sich auch die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen. Anders gesagt: Die Dunkelziffer verringert sich. Fazit der Statistiker: «Damit wird jedoch wiederum das geschätzte R tendenziell ansteigen, ohne dass sich in der Realität der Infektionsverlauf geändert hat.» Kleine Verringerungen oder Erhöhungen von R um Differenzwerte von 0,1 bis 0,2 lägen im Bereich des Schätzfehlers und seien keine Schlagzeile wert.

Schweizer «Science Task Force»: Die R-Zahl fiel am 22. März unter den Schwellenwert 1

Seit dem 22. März ist der effektive R-Wert signifikant unter 1 gefallen. Die «Science Task Force» stützt ihre Angaben auf die Fallzahlen und die täglichen Hospitalisierungen. Die Schätzung basierend auf Todesfällen sei unsicher. Die Task-Force weist darauf hin, dass der R-Wert basierend auf den Fallzahlen ab dem 12. April überschätzt sein könnte. Der Grund sei eine am 22. März neu eingeführte Teststrategie.

Die effektive Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Die waagrechten Linien unten geben die Anfangsdaten und die Dauer der verschiedenen Lockdown-Massnahmen an. *Letzte mögliche Schätzung wegen Verzögerungen zwischen Infektion und Beobachtung. Quelle «Science Task Force». Grössere Auflösung der Grafik hier. Ständig aktualisierte Grafik der Task Force hier.

Repräsentative Panelstichproben wären nötig

Die zeitliche Entwicklung der Reproduktionszahl, erklären die Statistiker des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung, eigne wegen der nach wie vor mangelhaften Datengrundlage nicht als zentrale oder gar einzige Entscheidungsgrundlage für die schwierige Frage, ob die derzeitigen Kontaktbeschränkungen gelockert werden können oder nicht. Nur eine «hinreichend gross angelegte repräsentative Panelstichprobe» von Personen, die sich regelmässig in kurzer Frequenz einem Test unterziehen, könne «das zentrale Problem der mangelnden Kenntnis der Dunkelziffer und damit der wahren Ansteckungsgefahr lösen».
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*Mit der «Unstatistik des Monats» hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen.
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4 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 11.05.2020 um 15:16 Uhr
    Permalink

    Wenigstens bei der R-Zahl des Bevölkerungswachstums gibt es dieses Problem nicht, da die Anzahl der Frauen und die Anzahl der Kinder diskrete und effektiv messbare Grössen sind.

    Die R-Zahl im Confid-Kontext ist eine statistische Grösse ohne reale Basis, da weder die Anzahl infizierter noch die effektive Anzahl der Neuinfektionen direkt gemessen werden (können). Das ist reine Mystifikation bzw. statistische Tautologie : wenn das Ding wächst (grösser als 1), dann wächst es. Die Antwort liegt in der Prämisse.

    Wenn man für solche Wissenschaft Steuergelder verschleudert, sollte mann sich über den Realitätssinn der Auftraggeber seriös Gedanken machen.

    Woher weiss der Virus, dass er der R-Kurve folgen muss ?

  • am 11.05.2020 um 15:22 Uhr
    Permalink

    Natürlich ist dieser R-Wert eine äusserst grobe Schätzung, die man in keiner Weise seriös erheben kann, und wenn, wären die möglichen Konsequenzen noch einmal eine Geschichte für sich.
    Die völlig überdrehten anti-Corona-«Massnahmen» waren eine Art Staats-Streich gegen die Freiheit der Gesellschaft!

  • am 11.05.2020 um 18:22 Uhr
    Permalink

    Zentrale Aussagen des Beitrags:
    1. Seit 22. März ist der offuzielle R – Wert unter 1 gefallen
    2. Aufgrund der häufigeren Testung in der neueren Zeit ist es höchstwahrscheinlich, dass der effektive R Wert schon früher unter 1 gefallen ist und heute noch tiefer liegt als angegeben.

    Die Massnahmen kosten uns bisher rund 100 Milliarden sFr direkte Steuergelder ohne weitere Kosten zB wegen Defizite des ÖV’s. Dazu kommen unschätzbare Folgekosten für den Steuerzahler und direkte wie indirekte Kosten für Privatwirtschaft und Private. Die 100 Milliarden ergeben schon grob 25000.- sFr pro Haushalt. Mit den anderen erwähnten Kosten dürfen es gegen 100 000 pro Haushalt sein. Wieviele Lebensjahre hätte man damit wohl retten können?
    Aber lieber alle Wochen weitere unzählige Millionen wegen den Massnahmen ausgeben.
    Zum Vergleich in der Schweiz: Die Anzahl sicherer Suizidtote entspricht etwa der Anzahl Toten MIT Corona. Mit noch 2 wesentlichen Unterschieden: Die Suizide passierten alle Jahre und werden es weiterhin tun. Das Durchschnittsalter ist dabei wesentlich kleiner als die 84 Jahre, die etwas der Lebenserwartung entspricht) der MIT Corona verstorbenen. Wieviele Milliarden geben wir dagegen aus?

  • am 12.05.2020 um 00:55 Uhr
    Permalink

    Danke für den Artikel.

    Ich bin ein weiteres mal „Paff“ … über die Art und Weise der Modellierung der Epidemiologen.
    Die Epidemiologischen Formeln als solches sind ja publiziert.

    Warum sind das Schätzungen der Reproduktionszahlen.
    Aufgrund der Vorhandenen Historischen Daten.
    Datum, Testmengen, Positiv, Negativen … ja selbst mit den Wohnorten
    der jeweils Positiv getesteten.
    Lässt sich nicht nur eine exakte Reproduktionszahl ermitteln,
    sondern es wären mit Mandelbrot auch „Cluster“ zu Modelieren.

    Hätte zur Folge … zb

    Achtung :
    Region Stadt Aarau Stufe 1 – wird in Quarantäne gesetzt :–)
    Region Seeland Stufe 4
    usw.

    Es scheint also nicht so Wild zu sein.
    Es geht nicht um Leben und Tod.

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