Sprachlupe: Misstöne, «wenn der Sprecher nicht mitdenkt»

Daniel Goldstein /  Kochen Sie das Wasser erst nach Gebrauch? Dann ist die Radiowarnung für Sie, wenn einmal gemahnt wird, das VOR Gebrauch zu tun.

«Es gab vor dem Gotthardportal keinen Stau.» In dieser Radiomeldung war «vor» betont – als hätte sich der Osterverkehr stattdessen heuer hinter dem Portal gestaut. Der Lapsus des Sprechers hatte kaum etwas mit dem Coronastress zu tun: Wer gut hinhörte, wurde schon früher immer wieder mit seltsamen Betonungen bedient. Ich bemerke sie vor allem bei Nachrichtensendungen am Schweizer Radio, aber das liegt wohl an meinen Gewohnheiten; ich will die Radioleute nicht herauspicken.
Eine kleine Sammlung aus verschiedenen früheren Sendungen, auch am Fernsehen: «Initiative für Vaterschaftsurlaub» – nicht etwa dagegen, wie jetzt immerhin beim Sammeln für ein Referendum. «Die Behörden mahnen, das Wasser vor Gebrauch zu kochen» – sonst tut man es ja erst nachher. «Nach dem Match warf er einen Schachtdeckel» – ein rechter Hooligan erledigt das doch spätestens während des Matchs. «Unmittelbar nach seinem Tod wurde die Staatstrauer ausgerufen» – wenigstens hat man gewartet, bis der Monarch gestorben war.

Beide einigen sich – mit wem?

Es sind aber nicht nur Präpositionen, wie in diesen Beispielen, die anscheinend zur falschen Betonung einladen. Auch das unscheinbare «und» kann sich dank erhobener Stimme wichtig machen: «Gewerkschaften und Regierung haben sich geeinigt.» Hätte nur eine der Seiten «sich geeinigt», so lohnte sich eine Meldung kaum. Und nur wenig mehr, wenn jetzt zwar jede Seite für sich einig wäre, aber nicht mit der andern. Besonders hübsch ist das betonte «und», wenn es in der obligaten Geschlechter­aufzählung ertönt; für einmal ein fiktives Beispiel: «Fussgänger und Fussgängerinnen rutschten auf dem Eis aus.»

Eine Radioredaktorin, der ich meine Beobachtungen mitteilte, antwortete so: «Sie legen den Finger auf einen wunden Punkt, der nicht heilen will … Anders gesagt: unser Sprechausbildner/Sprechtrainer macht stundenweise genau das: uns alle sensibilisieren, welche Marotten wir uns aneignen. Persönlich habe ich den Eindruck, dass solche Falschbetonungen zustande kommen, wenn der Sprecher nicht mitdenkt.» Wie mir eine andere Redaktorin bestätigte, ist es aber üblich, dass die Radioleute auf vorbereiteten Texten Akzente notieren.

Könnte es sein, dass auch sinnwidrige Betonungen so vorbereitet werden? Auf eine mögliche Spur führt eine besonders häufig zu hörende Falschbetonung: Da wird ein Musikstück angesagt, samt Komponist und Orchester «unter der Leitung von …». Nun soll es ja Orchester geben, die neben oder gar entgegen den Bemühungen des Dirigenten musizieren. Aber das dürfte nicht der Grund dafür sein, «unter» hervorzuheben; die Betonung hat sich eher aus einer vorgeschalteten Atempause ergeben. Etwa so, als erklänge ein Vers aus einem klassischen Epos: «Unter dem Taktstock des kraftvoll waltenden Meisters Abbado».

Nicht nur im Deutschen

Störende Betonungen hat die niederländische Zeitschrift «Onze Taal» (Unsere Sprache) ebenfalls wahrgenommen, nicht nur in den Medien, sondern auch in vorgefertigten Ansagen von Telefon- und Verkehrsdiensten. Es sind im Niederländischen zum einen Akzentverschiebungen innerhalb eines Wortes, wie sie auch im Deutschen vorkommen, etwa bei «óffiziell» statt «offiziéll». Dann aber sind auch ganze Substantive betroffen, die eine unverdiente Betonung bekommen, so in einer Natursendung: «Zuerst kam das grosse Pferd zum Vorschein und erst nach ein paar Stunden endlich das kleine Pferd» – statt «das kleine Pferd».
Der niederländische Autor sinniert über den Grund für die absonderlichen Betonungen: «Ich denke an die Verflachung unseres Gesprächstons. Um nicht ganz wie ein Roboter zu klingen, muss gegen Ende doch noch ein Zwick hinein – das ist wohl der unbewusste Gedanke (dahinter).» Welche Ironie: Robotern hört man ja oft an der Stimme an, dass sie nicht verstehen, was sie da sagen – und nun sollen sich Menschen dadurch unterscheiden, dass sie es verstehen, aber falsch.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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5 Meinungen

  • am 30.05.2020 um 12:23 Uhr
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    So witzig – so wahr. Vielen Dank für diesen Aufsteller!

  • am 30.05.2020 um 20:41 Uhr
    Permalink

    Ein hübsch-hässliches Beispiel von sinnverzerrender falscher Betonung ist auch, wenn davon berichtet wird, dass gegen Asylsuchende eine «Weeegweisung» verfügt wird – so, als ob diesen Menschen gewissermassen ein gangbarer Weg aufgezeigt würde.
    Dass man ihnen aber in Tat u. Wahrheit ganz grob sagt: «Gang äwäg!!» – das wollen (oder können?) manche Nachrichten-Sprechende wohl nicht wahrhaben.

  • am 2.06.2020 um 13:19 Uhr
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    Auch dann, «wenn der Sprecher nicht mitdenkt», oder viele Denkpausen macht, – ä – vermutet der in Orthografie geschulte Bürger eine Bildungsschwäche. Selbst in einfachsten Satzkonstruktionen erschallt dieser quietschende „–ää–“ Umlaut mehrfach. Leider ist diese Denkpause gerade im medialen Bildungsbereich zur Volkskrankheit ausgewachsen. Ich bemühe dann die „Off“-Taste und strecke den Mittelfinger. Man, manche Gassenjungen sprechen flüssiger, als solche scheinbar hochgebildeten Redner und Interviewpartner in Rundfunk und Fernsehen. Vermutlich wird hier schon in den ersten Schuljahren der Bildungsauftrag nicht erfüllt. Wie sonst wären diese Denkschwächen zu erklären? Und warum hebt man diese Pause noch hervor? Ä – sind das etwa Pandemie-Symptome? Denkpausen sind gut und notwendig, aber bitte leise, in Ruhe denken. Und prüfen sie vor einen Interview die Denkleistung eines Partners und deren Qualifikation zum Thema, denn wer nach Worten sucht, ist auch schlecht vorbereitet.

  • am 4.06.2020 um 22:08 Uhr
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    @Rainer Fabel
    Heutzutage scheinen die diversen Sprachverwachsungen Konjunktur zu haben. Nach dem altbekannten «äh» macht ich zumindest in Deutschland das zusammenhanglose «genau» immer breiter.

    Frage: «Wie stellen Sie sich den weiteren Fortgang des Verfahrens vor?"
    Antwort: «Genau. Wir planen ab nächste Woche …"

    Das wird auch gerne mal zwischen zwei Sätzen, die durch eine kurze Pause getrennt sind, eingeschoben.

    Womöglich hat die sprechende Person gerade im Kopf zusammengesammelt, was sie nun sagen will, und wenn sie’s dann endlich hat … genau!
    Sorry, aber solche Menschen bekommen bei mir unwillkürlich einige Glaubwürdigkeitspunkte abgezogen. Wer nicht einmal seine Sprache im Griff hat…

  • am 7.06.2020 um 18:10 Uhr
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    @Paul Sommer
    Genau!
    Über solche Sprachentwicklungen (besser Entartung) könnte jeder locker einen 100-seitigen Aufsatz schreiben. Auch Deutsch, die Sprache der Dichter und Denker, wird immer mehr entstellt, unterwandert und verkompliziert. Dieses Kulturgut ist auch ein nicht reparabler Artenverlust, dessen Folgen auch eine Teilung und Trennung von Alt und Jung darstellt. Journalisten und alle Publizisten haben hier einen Bildungsauftrag für eine schöne, ausdrucksstarke und auswahlreiche Sprache zu leisten. Tun sie es?

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