Sprachlupe: Wenn die Alp ruft «klasse.heirat.kinn»

Daniel Goldstein /  Werden Wörter zusammengewürfelt, dann ist entweder Werbung oder Poesie am Werk. Oder neuerdings das Ortungssystem «what3words».

«presse süsses getränke»: Wenn Deutschlernende diese Inschrift an einem hellblauen Häuschen sehen, freuen sie sich darauf, dass dort jemand für sie ein süsses Getränk presst oder dass sie das sogar selber tun dürfen. Das e am Schluss, so wissen sie vielleicht schon, ist poetisch. Aber sie werden bitter enttäuscht: Die vermeintliche Einladung, durch werbetechnische Kleinschreibung verfremdet, entpuppt sich als Sortimentsliste des Kiosks. Und die Getränke, süss oder nicht, kommen allesamt aus der Abfüllerei.
Immerhin: Die drei Wörter taugen als Blickfang, und sie führen einen auf den richtigen Weg, wenn man nicht allzu wählerisch ist. Was aber soll man mit «klasse.heirat.kinn» anfangen? Sofort hinlaufen, weil eine klasse Heirat winkt, Kinn inbegriffen? Wer es versucht, gerät ordentlich ins Schwitzen und braucht eine enorme Portion Glück, um die Liebe seines Lebens zu finden. Denn hinter den drei Wörtern verbirgt sich ein Ortungssystem, das in diesem Fall auf eine Alp im Tessin führt. Es reicht, die drei Wörter samt Punkten dazwischen ins Suchfenster der Online-Landeskarte (map.geo.admin.ch) einzugeben, und schon wird der Punkt auf der Karte eingeblendet.
Weltweite Wörter
Was geht hier vor? Es kommt noch besser: Gleich neben dem Punkt steht die Kartensignatur für einen «abgelegenen Gasthof», und klickt man sie mit der rechten Maustaste an, so tut sich ein Fensterchen auf mit vielen, vielen Zahlen und «auffallen.koch.bedeutenden». Doch wer sich schon wieder auf Erlabung freut, wird noch bitterer enttäuscht: Es gibt da keinerlei Bewirtung, jedenfalls schon lange nicht mehr, und erst recht keine Gault-Millau-Punkte. Dafür gleich daneben «hochhaus.tanzbar.pilotprojekt» – das hat dort gerade noch gefehlt! Einen Schritt weiter: «dauerhafter.konsequenzen.gefälscht» – ist das Projekt gemeint?
Neben den Wörtern steht im Kartenfenster des Rätsels Lösung: what3words.com. Das ist eine geniale Website, die jedem Punkt auf dem Globus eine Kombination dreier Wörter zuweist. Genauer gesagt: jedem Quadrat von drei mal drei Metern. Das ist präzis genug, dass es mit dem Rendez-vous klappen sollte – oder auch mit der Notrettung. Denn what3words gibt’s als App fürs Mobiltelefon ebenfalls, und wer das mit knapper Not noch bedienen kann, wird anstelle langer Koordinatenzahlen lieber drei Wörter durchgeben. Das System «spricht» derzeit 15 Sprachen mit je eigenen Kombinationen, nicht etwa Übersetzungen. «klasse.heirat.kinn» heisst auf Italienisch: «bussato.alato.stufo». Die Fortsetzung des Rendez-vous ist also «geklopft.beflügelt.gelangweilt». Wer das wiederum auf Deutsch sucht, wird u. a. nach «geknüpft.beflügelt.langweilig» in Kroatien verwiesen.
Kopfreisen leicht gemacht
Passend dazu gibt’s auf der Alp auch den Punkt «schilderung.auswandern.knoten». Wer doch noch bleiben möchte, kann sich über «wundervoll.fehlenden.reichende» freuen, Picknick statt Bewirtung. Und dazu «blaumeise.hübsch.überhaupt». Was will man mehr? Es ist zwar schade, während einer Wanderung auf dem Handy herumzuklicken, und vielleicht ist der Akku zur Strafe gerade dann leer, wenn man auf what3words angewiesen wäre. Aber es beflügelt die Fantasie ungemein, sich die drei Wörter eines Fleckens Erde anzeigen zu lassen und sich dazu eine Geschichte auszudenken. Man kann es ja auch später im stillen Kämmerlein tun.
Ein Wort sagt hier mehr als viele Zahlen, statt drei Wörtern braucht man für einen Punkt mindestens ein Dutzend Ziffern. Und nebenbei wird einem auf wundersame Weise klar, dass Wörter ganz verschiedene Bedeutungen haben können, je nach dem Zusammenhang, in dem sie auftreten. Wer von der Redaktion meines Leibblatts redet, denkt vielleicht an hartnäckige Recherchen, gestresste Berufsleute oder gepflegte Zeitungssprache. Aber in der Kartenwelt gilt: «allein.melodien.sterne». Das muss wohl auf dem Dach sein.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Kürzlich hat er auf seiner Website Sprachhäppchen als E-Buch publiziert.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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