Grundeinkommen_Demo

Bedingungsloses Grundeinkommen: «Die Würde des Lebens ist unantastbar» © cc

Grundeinkommen: 1 Million Unterschriften gesucht

Jürg Müller-Muralt /  In 15 EU-Staaten machen jetzt die Bürgerinnen und Bürger Druck für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens.

Geld für alle, unabhängig davon, ob man arbeitet oder nicht: Das ist das Ziel des bedingungslosen Grundeinkommens. Was in vielen Ohren utopisch tönt oder gar schädlich ist, ist für andere der Schlüssel für eine gerechtere Gesellschaft und ein Weg hinaus aus den unübersichtlichen Sozialversicherungssystemen (Infosperber hat schon mehrfach darüber berichtet, Links siehe unten). Nun ist das Grundeinkommen auch offiziell ein Thema in der Europäischen Union geworden. Bereits Mitte Januar 2013 ist eine Europäische Bürgerinitiative von der EU-Kommission registriert worden, Mitte März erfolgte mit einer Veranstaltung in Wien der Startschuss zur Kampagne. Bis in einem Jahr müssen eine Million Unterschriften gesammelt werden. In der Schweiz läuft noch bis Oktober 2013 eine Volksinitiative zu diesem Thema; nach Angaben der Initianten sind derzeit deutlich über 80 000 von 100 000 notwendigen Unterschriften beisammen.

Erster Versuch zurückgewiesen

Die Europäische Bürgerinitiative ist ein noch junges Instrument der direkten Demokratie in der EU. Formell eingeführt wurde das EU-Volksbegehren auf den 1. April des vergangenen Jahres. Es ist nicht vergleichbar mit der schweizerischen Volksinitiative, seine Durchschlagskraft ist bescheiden. Eine Europäische Bürgerinitiative ist lediglich eine Aufforderung an die Europäische Kommission, eine rechtliche Regelung in Bereichen vorzuschlagen, in denen die EU zuständig ist. Weil sich die EU-Kommission eben als nicht zuständig erklärte, ist letztes Jahr ein erster Versuch einer Initiative für ein Grundeinkommen nicht zugelassen worden.

Initianten finden einen Ausweg

Nun haben die Initianten einen Ausweg gefunden: Sie nennen ihre Initiative «Bedingungsloses Grundeinkommen: Erforschung eines Weges zu emanzipatorischen sozialstaatlichen Rahmenbedingungen in der EU» (Link siehe unten). Damit wird nicht mehr, wie beim ersten Versuch, direkt ein EU-Rechtsakt zur Einführung des Grundeinkommens verlangt. Brüssel soll lediglich beauftragt werden, Pilotstudien zu fördern und unterschiedliche Modelle auf ihre Machbarkeit zu prüfen. Die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsstaaten soll gefördert werden, mit dem Ziel, das Grundeinkommen als Mittel zur Verbesserung der nationalen Sozialsysteme zu prüfen. Denn Brüssel hat direkt nichts zu den Sozialsystemen zu sagen, weil dafür die einzelnen Mitgliedstaaten zuständig sind.

Zentral für Grundrechte

Die Initiantinnen und Initianten der Bürgerinitiative stammen aus 15 EU-Mitgliedstaaten (Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Slowakei, Slowenien und Spanien) sowie verschiedenen politischen Lagern mit unterschiedlichem kulturellem und weltanschaulichem Hintergrund. Was sie alle eint, ist die Überzeugung, dass das Grundeinkommen zentral ist, «um die Grundrechte zu garantieren, vor allem ein Leben in Würde, wie es in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dargelegt wird.» Soziale Spaltungen würden gelindert und «es wird auch unnötige, teure, repressive und exklusive Kontrollen sowie die damit verbundene Bürokratie überwinden», wie die Initianten schreiben.

Altbekannte Fronten wackeln

Die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen ist deshalb so bemerkenswert, weil sie altbekannte Fronten durcheinanderbringt. Unterschiedlichste Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft können der Idee einiges abgewinnen. Der luxemburgische Premierminister und zwischen 2005 und 2013 Euro-Gruppenchef, antwortete beispielsweise bereits 2006 auf die Frage der «Frankfurter Rundschau», welche Mindeststandards in der EU unerlässlich seien: «Ein Grundeinkommen. Das heisst: Jeder, der in einem EU-Mitgliedsland wohnt, hat Anspruch auf ein Mindesteinkommen. Dieses muss natürlich nicht überall gleich sein. Brüssel kann nicht die Höhe festlegen, sollte aber prinzipielle Regeln für eine soziale Grundsicherung formulieren.»

«Billige» Jobs werden teuer

Ulrich Beck, einer der bekanntesten deutschen Soziologen und Gastprofessor an der London School of Economics, legt sich ebenfalls für das Grundeinkommen ins Zeug. Auf die Frage des «Tagesspiegels», wer denn nach der Einführung eines Grundeinkommens überhaupt noch arbeiten wolle, meinte er: «Gerade dann werden viele erst arbeiten wollen, weil sie sich endlich den Lohn nicht mehr vom Arbeitgeber vorschreiben lassen müssen, sondern selbstständig über eine gerechte Vergütung verhandeln können. Sie riskieren dabei nichts, weil sie ja ihr Grundeinkommen haben.» Und was passiert mit den Jobs, die niemand machen will? «Die werden richtig teuer werden, gerade weil sie gemacht werden müssen und weil man dann niemanden mehr einfach mit einem Hungerlohn abspeisen kann. Das ist ja das Besondere am Grundeinkommen, dass es auch den Arbeitnehmer zum Unternehmer macht, und zwar gerade den Arbeitnehmer, der besonders schwere und unschöne Arbeit leistet.»

Marxisten und Neoliberale gemeinsam

Von marxistischer Seite herkommend ist Claus Offe, früherer Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin, ein vehementer Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens. Er ist wissenschaftlicher Beirat des deutschen Netzwerks Grundeinkommen, das die Europäische Bürgerinitiative mitträgt. Der Schweizer Thomas Straubhaar dagegen ist ein neoliberaler Ökonom und Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts. Er hat zusammen mit dem ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten Thüringens, Dieter Althaus, das Konzept des Solidarischen Bürgergelds entwickelt. Straubhaar will mit dem bedingungslosen Grundeinkommen die bisherigen Sozialversicherungssysteme ersetzen und die staatlichen Transferleistungen zusammenführen.

Top-Unternehmer macht Druck

Auch einzelne Unternehmer stehen für das bedingungslose Grundeinkommen ein. Götz W. Werner, Gründer des dm-Drogeriemarkts und einer der bekanntesten deutschen Unternehmer, setzt sich vehement für das Grundeigentum ein, wie aus seiner Homepage hervorgeht: «Götz Werner gibt der Grundeinkommensbewegung Gewicht durch seine gesellschaftliche Stellung. Von einem erfolgreichen Unternehmer nimmt man an, dass er einen besonderen Realitätssinn habe und gerade deswegen eher nicht für eine so utopisch klingende Idee wie die des Grundeinkommens sei. Doch das Gegenteil ist der Fall. Und zwar nicht aus einem bloßen Ideal, sondern aus Erkenntnissen und Erfahrungen in einem großen Konzern, der gerade aufgrund von Transparenz, Selbstführung der Mitarbeiter und Zutrauen zu allen Beteiligten besonders erfolgreich ist. Ein Unternehmen, das auch hinsichtlich des Verständnisses von Wirtschaft über sich hinaus weist.»

Ein Thema, das Menschen bewegt

Was das grundsätzliche Bekenntnis zu einem wie auch immer gearteten Grundeinkommen von so unterschiedlichen Richtungen allerdings auch erahnen lässt: Das Ringen um Detailkonzepte, Finanzierung und Mechanismen eines derart massiven Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft wäre gigantisch. Ganz abgesehen davon, dass die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen der verschiedenen Befürworter eines Grundeinkommens einigermassen inkompatibel sind. Doch wie auch immer: Die Tatsache, dass sowohl in der EU wie in der Schweiz gleichzeitig Initiativen mit gleicher Stossrichtung laufen, ist bemerkenswert. Es zeigt, dass es ein Thema ist, das viele Menschen bewegt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Banknoten

Bedingungsloses Grundeinkommen

Es kommt zur Abstimmung: Ein Grundeinkommen für alle statt diverse Sozialleistungen?

Bildschirmfoto20180909um13_36_58

Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.