
Der Bergsturz am Piz Cengalo ist für die juristische Frage der Verantwortung sekundär
Weiterhin viel Nebel und Staub am Piz Cengalo
Noch immer gibt es kein unabhängiges Gutachten der Bündner Justiz zum Murgang von Bondo. Stattdessen ein weiterer Partei-Bericht.
Am 23. August jährte sich der Murgang von Bondo, der acht Menschenleben forderte. Und noch immer hat die Bündner Justiz kein juristisches Gutachten bei unabhängigen Experten in Auftrag gegeben. Das bestätigt der Bündner Staatsanwalt Bruno Ulmi auf Anfrage von Infosperber: «Im September 2018 sind weitere Einvernahmen geplant. Erst anschliessend will die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob sie ein eigenes juristisches Gutachten in Auftrag geben wird.»
Der Partei-Bericht
Auf Nachfrage von Infosperber stellte sich jedoch heraus, dass die Staatsanwaltschaft Graubünden einen Bericht in Auftrag gab. Bereits am 28. August 2017 hat sie die Kantonspolizei Graubünden beauftragt, einen Bericht beim Bündner «Amt für Wald und Naturgefahren» (AWN) einzuholen. Dazu Staatsanwalt Ulmi:
Das «Amt für Wald und Naturgefahren» (AWN) lieferte den 85-seitigen Bericht plus Beilagen am 19. Januar 2018 der Kantonspolizei ab.
Statt einem unabhängigen Gutachten liegt nun auf dem Pult der Staatsanwaltschaft ein Partei-Bericht des AWN, dessen Beamten in dieser Sache befangen sind, weil sie zusammen mit externen Experten für die Gefahrenabschätzung im Bondasca-Tal in der Zeit vor dem verheerenden Murgang zuständig waren.
Es ist also möglich, dass die Staatsanwaltschaft gegen einzelne von ihnen ein Strafverfahren wegen der Verletzung der Sorgfaltspflicht einleiten wird. Mit der Frage der Befangenheit der AWN-Beamten konfrontiert, antwortete Staatsanwalt Ulmi: «Das ist Ihre Interpretation.»
Die Fatalitäts-These
Es ist nicht der einzige Bericht zur Nachbearbeitung des Bergsturzes und des Murgangs von Bondo. Ende August 2017 gab auch die Bündner Regierung einen Bericht in Auftrag, dessen Resultate im Dezember 2017 veröffentlicht wurden.
Die Federführung für diesen kantonalen Expertenbericht hatte – dreimal darf man raten – ebenfalls das «Amt für Wald und Naturgefahren». Zudem sassen in der Expertengruppe auch Experten, die vor dem Bergsturz und dem Murgang für die Einschätzung der Gefahrenlage am Piz Cengalo und im Bondasca-Tal zuständig waren.
Als Infosperber im Dezember 2017 die Unabhängigkeit der Mitglieder der kantonalen Expertengruppe in Frage stellte, nahm Regierungsrat Mario Cavigelli dazu im «Bündner Tagblatt» Stellung und erklärte, die Befangenheit – die er nicht bestritt – sei kein Problem, weil es sich nicht um eine rechtliche Einschätzung zur Frage der Sorgfaltspflicht handle, sondern um eine rein fachliche Bestandesaufnahme.
Doch obwohl der Expertenbericht wissenschaftlich daherkam, zielte er auch auf die juristische Ebene. Denn der Bericht und die Experten betonten auffällig oft, dass ein Bergsturz mit anschliessendem Murgang eine «extreme Prozessverkettung» sei, die «weltweit als sehr selten» gelte.
Die NZZ gab diese juristische Stossrichtung des Expertenberichts treffend wieder: Der Bergsturz war «fatal» und folglich «nicht vorhersehbar». Die Logik dahinter: Was fatal und unvorhersehbar ist – also schicksalhaft – kann juristisch auch nicht belangt werden.
Teil dieser Fatalitäts-These, die das Denken vernebelt, war auch die Hypothese der kantonalen Expertengruppe, der Gletscher habe sich unter dem Druck des Bergsturzes verflüssigt, was ein völlig neues Phänomen sei, mit dem man nicht rechnen konnte. Groteskerweise haben die Experten verzweifelt nach dem Wasser gesucht, das für einen Murgang nötig ist. Nota bene in einem Tal, wo das Wasser an allen Ecken und Enden hervorquillt.
Inzwischen hat sich die Gletscher-These selbst verflüssigt und die kantonale Expertengruppe hat das reichlich vorhandene Wasser im Bondasca-Tal wieder entdeckt, wie das SRF-Magazin «Einstein» vor einer Woche berichtete.
Die entscheidende Frage
Es ist zwar verständlich, dass die Verantwortlichen die Fatalitäts-These ins Feld führen, um ihre Haut zu retten, aber dieses Manöver lenkt bloss von der zentralen Fragestellung in Bezug auf die Verletzung der Sorgfaltspflicht ab. Denn dafür spielt der Bergsturz nur eine sekundäre Rolle. Die entscheidende Frage lautet:
Die Antwort lautet: Ja, die Verantwortlichen mussten auf Grund der Fakten und ihres Wissens mit einem Murgang bis nach Bondo rechnen, und zwar auch ohne unmittelbar vorausgehenden Bergsturz. Denn schon im Sommer 2012 hatte es insgesamt vier Murgänge gegeben, einer davon bis nach Bondo. Im Bondasca-Tal waren die beiden Zutaten für einen Murgang im Überfluss vorhanden: Material und Wasser.
Doch die Verantwortlichen mussten nicht nur mit einem Murgang rechnen, sondern haben tatsächlich mit einem Murgang bis nach Bondo gerechnet, denn dafür wurde das Rückhaltebecken vor Bondo gebaut.
Trotz dieser eindeutigen Faktenlage war das Bondasca-Tal bis zur Hälfte nicht gesperrt. Die zwei Warntafeln beim Parkplatz am Ende der Forststrasse warnten nur vor dem Risiko eines Bergsturzes und blendeten das Risiko eines Murgangs aus. Es ist nun die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Frage zu klären, wer die Verantwortung für diesen Fehlentscheid trug.
Das «Mattmark-Syndrom»
Eigentlich scheint die Sachlage einfach und klar, trotzdem ist sie heikel, weil die Staatsanwaltschaft dem Gravitationsfeld der Beamten und Experten ausgesetzt ist, die mit der Fatalitäts-These hausieren, um – bewusst oder unbewusst – von ihrer Verantwortung abzulenken.
Konkret: Es droht die Gefahr eines juristischen Fehlschlusses, den man auch als das «Mattmark-Syndrom» bezeichnen könnte: Einen Tag nach der Mattmark-Katastrophe (1965), die 88 Menschenleben forderte, präsentierten der damalige Walliser Bundesrat und vormalige Mattmark-Ingenieur Roger Bonvin sowie der ETH-Experte Gerold Schnitter im Brustton der Überzeugung in den Medien die Schutzbehauptung, niemand habe mit einer solchen Katastrophe gerechnet beziehungsweise rechnen müssen. Folglich sei sie «nicht vorhersehbar» gewesen (Mattmark-Prozess (1972): Ein Fehlurteil mit Ansage).
Dieses Vorurteil bestimmte in der Folge den Mattmark-Prozess und führte 1973 zu einem der skandalösesten Fehlurteile in der Geschichte der Schweizer Justiz. Alle 17 Angeklagten wurden freigesprochen. Das Vorurteil hielt sich hartnäckig ein halbes Jahrhundert lang, bis im Jahr 2015 die Recherchen von Infosperber und ein SRF-Dok-Film die Wende brachten (Mattmark: Metamorphose der medialen Wahrnehmung).
Fazit: Solange die Bündner Staatsanwaltschaft einseitig den befangenen Experten Gehör schenkt und sich dagegen sträubt, ein unabhängiges juristisches Gutachten einzuholen, droht Nebel und Staub nicht nur am Piz Cengalo, sondern auch vor den Augen der Bündner Justiz.
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keine
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4 Meinungen
http://www.umweltatlas.bayern.de/mapapps/resources/apps/lfu_angewandte_geologie_ftz/index.html?lang=de
SO titelt: «Diese Bilder werden nicht so schnell in Vergessenheit geraten"
Ja, weder bei Touristen noch Einheimischen wie mir.
Deshalb schon damals mein Rat:
Statt viel Geld und Dieselabgase (!) in Aufräumarbeiten, hätte ich das Gebiet verlassen und zu einem Naturparadies werden lassen - Für Chlorophyllmaxima - wie die Tschernobyl-Region, eine Filmdoku (auch auf Youtube) zeigt faszinierende Flora/Fauna dort - für Zivilisationssozialisiertedegenerierte quasi unfassbar.
Das fände ich Win-Win im Bergell-Sottoporta statt wie jetzt eher das Gegenteil.
Dann kommt irgendwann die Feststellung, daß sowas eine Kette von unvorhersehbaren Ereignissen war, die man in diesem Ausmaß nicht einschätzen konnte.
Wir fuhren selbst mit dem Auto im Juli 2016 in das hintere Bondasca Tal bis zum Parkplatz, dort sahen wir das Schild mit der Warnung – und waren erstaunt über die akute Gefahrenlage.
Diese war zwar umfassend von Geologen dargestellt, aber weder die Zufahrt, noch die Wanderwege oder Hütten wurden als gesperrt markiert.
Als wir ein Stahlseil über dem Fluss mit einem runden Granitstein am Ende über dem Wasser sahen, dachten wir noch an eine normale `Installation` , konnten es als Warngeber für Bondo im Falle eines Felssturzes nicht deuten.
Letztlich überließ man es dem Besucher, darüber zu entscheiden, ob er die Gefahr ignoriert und in das ausgewiesene Gefahrengebiet weiter aufsteigt.
Normalerweise hätte bei dieser akuten Gefahrenlage die Zufahrt, sowie die Wanderwege und Hütten im gefährdeten Gebiet bis auf weiteres gesperrt werden müssen.
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