Kommentar
Strategie: Gericht lahmlegen – Recht ausbremsen
Red. – Dies ist ein Gastbeitrag, der zuerst im «Offroad Reports Blog» erschien. Gabriela Neuhaus ist freischaffende Journalistin und Filmemacherin.
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Diese Woche tagt in Den Haag die alljährliche Assembly of States Parties ASP, das oberste Entscheidungsorgan des Internationalen Strafgerichtshofs ICC. Eine wichtige Veranstaltung, würde man denken – schliesslich geht es um nichts weniger als den Schutz der Menschenrechte und die Beurteilung von schweren Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen.
Wir erinnern uns: Bald sind es zwei Jahre, dass Südafrika an ebendiesem Gerichtshof eine Klage gegen Israel eingereicht hatte, wegen mutmasslichen Verstössen gegen die Völkermordkonvention in Gaza. Und im November 2024 erliess ICC-Chefankläger Karim Khan internationale Haftbefehle gegen den israelischen Premier Benjamin Netanjahu und den damaligen israelischen Verteidigungsminister Joav Gallant sowie den mittlerweile durch Israel ermordeten obersten Befehlshaber der Qassam-Brigaden Mohammed Deif. Begründung: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
125 Mitgliedstaaten, die den ICC stützen sollten …
Zwei weitere Haftbefehle gegen die beiden rechtsextremen israelischen Minister Ben-Gvir und Smotrich, welche die Vertreibung und den Völkermord an den Palästinenser:innen offen befeuern und zelebrieren, sind auf Eis gelegt. Nicht, weil dem Gericht zu wenig Beweise für deren Verbrechen vorliegen würden – die offen rassistische und völkerrechtswidrige Agitation der beiden Minister lässt keine Zweifel an der Begründbarkeit einer Anklage gegen sie.
Das müsste eigentlich auch den 125 Mitgliedstaaten des Internationalen Gerichtshofs klar sein, die sich mit ihrer Unterschrift unter das Römer Statut dazu verpflichtet haben, «der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen.» Das gilt insbesondere auch für die Schweiz, die «aufgrund ihrer humanitären Tradition und ihrer Rolle als Depositarstaat der Genfer Konvention die Errichtung eines starken und unabhängigen Gerichtshofs massgeblich unterstützt» hat, wie der Website des Bundesamts für Justiz zu entnehmen ist.
… und 2 Nicht-Mitgliedsstaaten, die ihn erfolgreich blockieren
Was aber nützt ein Gericht, dessen Urteile und Haftbefehle einfach in den Wind geschlagen und missachtet werden können, nicht zuletzt weil Nichtmitgliedstaaten wie die USA oder Israel die Autorität des ICC schlichtweg ablehnen? Mehr noch: In Bezug auf Israel haben sie den Internationalen Strafgerichtshof buchstäblich lahmgelegt. So hatte dessen Chefankläger Karim Khan zum Beispiel Anfang Jahr plötzlich keinen Zugriff mehr auf seinen dienstlichen Microsoft-Account, weil die US-Regierung nach Belieben unliebsame Ankläger und Richter:innen des ICC mit Sanktionen belegt.
Am 20. August 2025 hat das US-Aussenministerium dann noch einmal nachgelegt und neue Sanktionen gegen vier weitere ICC-Beamte verhängt, weil sie – so die Begründung der Trump-Regierung – gegen US-Amerikaner und Israelis ermittelt hätten. Die Folge ist eine massive Beeinträchtigung der so wichtigen und dringend notwendigen Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs.
Doch damit nicht genug: Schon als bekannt wurde, dass der ICC unter der Leitung von Karim Khan Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant in Betracht ziehe, wurde der Chefankläger von verschiedenen Seiten massiv bedroht und unter Druck gesetzt. Ohne Wirkung: Das Gericht blieb seiner Verpflichtung treu und erliess, basierend auf handfesten Klagen, die Haftbefehle gegen die mutmasslichen Täter.

Chefankläger liess sich vorerst suspendieren
Also mussten andere Mittel und Wege gefunden werden, um die lästigen Ermittlungen und die daraus resultierenden Anklagen des ICC in Sachen Israel zu stoppen. Nachdem alle anderen Warnungen nichts gefruchtet hatten, tauchte plötzlich – wie aus dem Nichts – eine Geschichte über sexuelle Belästigung Khans gegenüber einer Mitarbeiterin in den Medien auf. Obschon dieser die Beschuldigungen von Anfang an klar zurückgewiesen hat, musste er schliesslich dem Druck nachgeben. Im Mai 2025 liess er sich für die Dauer einer externen Untersuchung suspendieren, will aber seine Arbeit danach wieder fortsetzen.
Israel hat seither Tausende weiterer Menschen ermordet, einen Grossteil des Gazastreifens zu einem Trümmerfeld zerstört und setzt, mit Unterstützung der USA und seiner westlichen Vasallen, die Vertreibung und Eliminierung der Palästinenser:innen nach dem Motto «From the River to the Sea» weiter fort.
Warten auf den Untersuchungsbericht
Mittlerweile ist es über ein halbes Jahr, seit der ICC-Chefankläger sein Amt suspendieren musste. Doch der ursprünglich auf Ende Oktober 2025 versprochene Untersuchungsbericht rund um die Affäre Khan lässt weiterhin auf sich warten. In der Agenda der aktuell stattfindenden Mitgliederversammlung in Den Haag sucht man denn auch vergebens nach einem entsprechenden Traktandum – weder die auf unbestimmte Zeit anhaltende Suspendierung ihres Chefanklägers noch deren Folgen für den Gerichtshof scheinen die Delegierten zu kümmern.
«Was die tatsächlichen Vorgänge anbelangt, werden das Gericht, die Staatsanwaltschaft und die breite Öffentlichkeit weiterhin im Ungewissen gelassen», zitiert die unabhängige News-Plattform Middle East Eye den holländischen ICC-Experten und Professor für Internationales Recht Sergey Vasiliev. Dabei bräuchte es dringend konkrete Schritte, um das Gericht aus seiner gegenwärtigen Starre zu befreien.
Wo kein Kläger, da kein Richter
Ein Zustand, der eigentlich gar nie hätte eintreten dürfen: Die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs darf nicht von einzelnen Chefanklägern oder Richter:innen abhängen. Die Institution müsste so robust aufgestellt sein, dass sie ihre Arbeit, allen Druckversuchen und Diffamierungskampagnen zum Trotz, auch unter schwierigsten Bedingungen weiterführen und dem Recht auf internationaler Ebene Geltung verschaffen kann.
Ein Gerichtshof, dessen laufende Verfahren durch US-Sanktionen und langwierige Untersuchungen gegen einzelne seiner Mitglieder lahmgelegt werden kann, wie wir dies gerade in Bezug auf Israel besonders krass erleben, droht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Dies verhindern können nur die Mitgliedstaaten selber. Voraussetzung dazu wäre aber, dass diese das Problem erkennen, und entsprechende Massnahmen und Umstrukturierungen in die Wege leitet.
Alles andere ist Augenwischerei. Die momentane Situation bestätigt das alte deutsche Sprichwort «Wo kein Kläger, da kein Richter». Israel und die USA haben erreicht, was sie wollten: Seit der Suspension des ICC-Chefanklägers hat sich in Sachen Durchsetzung des Völkerrechts in Bezug auf Israel und Palästina nichts mehr bewegt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.










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