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Die EU - eingeklemmt zwischen Friedensnobelpreis und Identititätskrise. © medischcontact.artsennet.nl

EU-Laboratorium vor der Explosion

Jürg Müller-Muralt /  Die Europäische Union, Trägerin des diesjährigen Friedensnobelpreises, hat eine Festschrift wider Willen erhalten.

Als Geert Mak sein Buch über Europa schrieb, wusste er noch nicht, dass die EU am 12. Oktober den Friedensnobelpreis 2012 erhalten würde. Und doch hat der niederländische Publizist schon Ende September die perfekte Festschrift zur Preisverleihung verfasst. Der Titel: «Was, wenn Europa scheitert.» Es ist ein Buch, das wie kein zweites knapp, packend, kenntnisreich und auch furchterregend die derzeitig dramatische Situation auf den Punkt bringt. Ein Buch, das aufrüttelt und aufzeigt, wie aus dem grossen Projekt der europäischen Integration mit weltweiter Ausstrahlung eine Union wurde, die am Abgrund steht. Und immer noch wiegen wir uns in einer trügerischen Sicherheit, wie damals in der schläfrigen Sommerstimmung des Jahres 1914, als der Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Welt voller Sicherheiten jäh beendete. Der Autor vergleicht die beiden Stimmungslagen: Auch in der heutigen Situation entstand die Vorstellung, dass das europäische Gesellschaftsmodell in höchstem Masse stabil sei und weiter stabil bleiben werde. «Das ist ein grosser Irrtum», findet Geert Mak.

Ein intimer Kenner Europas

Zugegeben, die Vergleiche und die Sprache des Autors sind über weite Strecken alarmistisch. Aber er ist legitimiert dazu, eine drastische Sprache zu verwenden. Er gehört zu den besten Kennern Europas. 2005 hat er mit seinem fast tausendseitigen Wälzer «In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhunderts» Massstäbe gesetzt. Er hat alle wesentlichen Orte besucht, an denen im vergangenen Jahrhundert Geschichte geschrieben wurde, hat recherchiert, mit Zeitzeugen und Experten gesprochen. Entstanden ist ein Werk, das sich spannend wie eine Reportage liest und der Zeit zwischen 1900 und 1999 ein Gesicht mit fast sinnlich wahrnehmbaren Details verleiht.

Ökonomische Version der Kubakrise

Wer das soeben erschienene Buch liest, spürt erneut das breite Wissen und die Tiefenschärfe dieses Autors. Er schildert die bis vor kurzem enorme Anziehungskraft der Europäischen Union und ihrer «Soft Power». Die Art und die Qualität des Friedens habe Europa zu etwas Aussergewöhnlichem gemacht, «zu einem grossen Experiment, das in der Geschichte beispiellos ist». Doch nun scheint dieses «Laboratorium, in dem verschiedenste Arten der Zusammenarbeit getestet wurden», vor der Explosion zu stehen. Das Gefährlichste daran: Die durch die EU bisher ausgeglichene Machtverteilung gerät aus dem Gleichgewicht, es gilt wieder das Recht des Stärkeren. Die Eurokrise sei zu einem «lebensgefährlichen Prestigekampf geworden, zum Armdrücken zwischen den mächtigsten Euroländern, einer ökonomischen Version der Kubakrise von 1962».

Nur eine einzige Therapie erlaubt

Geert Mak deutet die Schuldenkrise auch als kulturellen Konflikt, in dem nationale Traditionen, Interessen und Erzählungen von Gut und Böse wieder hochkommen. Man denkt wieder in Kategorien von Schuld und Strafe. Auf Druck vor allem von Deutschland werde nur ein Heilmittel zugelassen, das zudem noch im Widerspruch zu allen Standarderkenntnissen der Makroökonomie steht: sparen, kürzen, bestrafen: «Es ist wie in einem Krankenhaus, in dem nur eine Behandlung angewandt werden darf. Ob der Patient an einer Erkrankung des Herzens leidet oder ein Bein gebrochen hat, nur der Aderlass ist erlaubt.»

Soft Power unwiderruflich beschädigt

Die Gründe für das europäische Debakel sieht Mak in der einseitigen Ausrichtung der Integrationspolitik auf die Ökonomie, und dabei speziell in der obsessiven Betonung von Markt und freiem Wettbewerb: «Jetzt, in diesen Monaten, werden wir mit den äussersten Konsequenzen dieses dogmatischen Marktdenkens konfrontiert, mit einem Kapitalismus in seiner bittersten Ausprägung, einer antidemokratischen Bewegung, die in der modernen Geschichte beispiellos ist.»

Der Euro sei zudem mit fatalen Konstruktionsfehlern geschaffen worden: ohne demokratische Legitimation, ohne Disziplin, ohne Kontrolle und ohne Exit-Strategie. Das einstige europäische Erfolgsmodell der Soft Power sei bereits unwiderruflich beschädigt, die zentrifugalen Kräfte nähmen zu. Und vor allem: «Die Legitimität des europäischen Projekts schwindet schnell, ausgerechnet jetzt, wo wir sie so dringend bräuchten. Wenn es ein europäisches Problem gibt, das noch grösser ist als der Euro, dann ist es das europäische Demokratiedefizit.»

Vakuum statt Signal der Hoffnung

Mak ist vorsichtig mit Prognosen. Doch er weist darauf hin, dass mit dem Wegfall der Integrationskraft der EU nicht einmal der Frieden für alle Zeit garantiert sei, dass also bisher verborgene Konflikte leicht wieder an die Oberfläche gelangen könnten. Ein leiser Vorgeschmack darauf bieten allein schon die deutschen und die griechischen Boulevard-Blätter, wenn sie von «Pleite-Griechen» schreiben oder Bundeskanzlerin Merkel anlässlich ihres Besuchs in Athen mit Hitler-Schnauz zeigen. Wenn sich die Lage weiter verschärft, dann liegt es auf der Hand: «Statt eines Zeichens der Hoffnung, das Europa einst war, statt eines Beispiels für internationale Ordnung, wird es dann ein Vakuum werden.»

Drei Wege

Trotz rabenschwarzem Pessimismus sieht Geert Mak drei mögliche Überlebensszenarien Europas, wenn sich der Pulverdampf einst verzogen haben wird: Neugruppierung Europas in zwangsloserer Weise und in kleinräumigeren Strukturen, oder gestärkte EU dank forciertem Vereinigungsprozess, oder aber eine Union mit bescheidenerer Rolle in einem lockeren Verbund europäischer Staaten.

Das Wichtigste sei aber, dass die Politik und die Demokratie wieder in den Mittelpunkt gerückt würden, dass sich die Politik nicht mehr als Erfüllungsgehilfin der Märkte und des Kapitals verstehe. Dazu müssten aber die Bürgerinnen und Bürger selbst etwas wollen – «und das ist zugleich ein Teil des Problems, weil wir das nämlich verlernt haben. Die Finanzmärkte haben uns die Vorstellung vermittelt, dass wir nichts mehr zu wollen haben. Sie konnten uns regieren, weil wir Europäer es geschehen liessen.»

Immer tiefer im Dreck

Sie ist eine bedrückende Lektüre, diese Festschrift wider Willen. Vor allem, weil der Autor schonungslos und faktenreich aufzeigt, wie der Karren immer tiefer im Dreck steckt, wie nicht nur die Politik versagt, sondern auch wie die Banken zocken, «wie jedem unverantwortlichen Kreditnehmer ein unverantwortlicher Kreditgeber gegenüberstand». Trotz der düsteren Lage gelingt es uns immer noch sehr gut, die gigantischen Probleme zu verdrängen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass historische Umbrüche von den meisten Leuten nicht als solche wahrgenommen werden. Geert Mak findet das auch nachvollziehbar, «denn ohne die Ruhe unserer alltäglichen Beschäftigungen würden wir alle vor Sorgen und Nervosität wahnsinnig werden».

So richtig beruhigend wirkt diese Feststellung nicht.

Geert Mak: Was, wenn Europa scheitert. Pantheon Verlag München 2012, 144 Seiten, CHF 14.90

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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3 Meinungen

  • am 18.10.2012 um 14:26 Uhr
    Permalink

    Grossanalytiker wie Geert Mak muss man zur Kenntnis nehmen, aber man muss ihnen nicht alles glauben. Das grundsätzliche Missverständnis der meister dieser Grossanalysen: die EU als fertigen Zustand zu betrachten (wie es z.B. heute die USA sind) und nicht als das, was sie tatsächlich ist – ein historischer Prozess, der sich dauernd weiter entwickelt, ohne dass das Endziel bekannt wäre.

    Vieles läuft schief, vieles aber auch richtig. Entscheidend ist, ob die grundsätzliche Richtung stimmt: die europäische Integration, welche Endform sie immer haben wird. Keine Fehlentwicklungen mehr in Richtung aggressiver Diktatur (keine Selbstverständlichkeit!), kein wirtschaftliches Absacken grosser Regionen, die zum Brandherd werden könnten, offene Grenzen, funktionierender Binnenmarkt.

    Das (behebbare) Demokratiedefizit gibt es im Überbau, aber die EU besteht doch nicht aus Diktaturen, im Gegenteil, sie hat Diktaturen den Übergang zu annehmbaren Demokratien erst ermöglicht. Dazu hat die Schweiz übrigens nichts, aber auch gar nichts beigetragen.

    Die Grossanalytiker muss man auch immer fragen: Was zum Teufel wäre dann die Alternative? Ein bisschen Integration? Ein wenig Jekami-Europa wo› s grad gefällt? Ein bisschen lieb sein zu einander?

    Und der Euro? Beim Auseinanderfallen des Euro-Systems hiesse der neue Euro ohne den geringsten Zweifel: DM. Das würde Europa erst recht sprengen. Diesen Fragen müssten sich Grossanalytiker fairerweise stellen. Aber die umschiffen sie lieber weiträumig.

    Die Erinnerung der Völker (in fast allen Analysen ein völlig unterschätzter, aber entscheidender Faktor) ist sehr viel langfristiger nachwirkend als tagesaktuelle Entwicklungen erkennen lassen. Soll heissen: In keinem einzigen europäischen Staat ist eine qualifizierte Mehrheit, weder in der Bevölkerung noch in den Eliten, erkennbar für einen Austritt oder eine Preisgabe der EU.

    Die geschichtlichen Erinnerungen der europäischen Völker wurzeln sehr, sehr tief. Sie wollen diese nicht mehr aufleben lassen.

    Darum wird die EU nicht auseinanderbrechen. Unter jeder Garantie nicht.

  • am 18.10.2012 um 21:05 Uhr
    Permalink

    Sieht unser ultrarechtes Staatsgewissen wirklich so aus wie auf dem Foto? Ist das echt?

  • am 18.10.2012 um 21:08 Uhr
    Permalink

    Sorry, da ist was verrutscht : Die Frage zum «Staatsgewissen» gehört eigentlich zum Beitrag über Roger Köppel.

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