Dem Bauchgefühl auf der Spur
Red. – Dies ist ein Gastbeitrag von Professor Pietro Vernazza. Er war bis Sommer 2021 Chefarzt der Infektiologie/Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen.
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Jeder kennt es: das berühmte Bauchgefühl. Manche Entscheidungen trifft man einfach «aus dem Bauch heraus», ohne lange zu überlegen – und liegt damit erstaunlich oft richtig. Auch bei Bewerbungsgesprächen in meiner Zeit als Klinikleiter war dieses Bauchgefühl manchmal der entscheidende Impuls für eine gute Wahl.
Aber woher kommt dieses Gefühl eigentlich? Und wie genau hängt unser Darm – das sprichwörtliche Zentrum der Intuition – mit unserem Gehirn zusammen?
Eine aktuelle Studie aus Belgien, veröffentlicht in «Nature», bringt uns der Antwort ein Stück näher. Die Forschenden untersuchten bei Mäusen, wie der Darm über seine Schleimhaut mit dem Gehirn kommuniziert – und dabei ganz gezielt auf verschiedene Nährstoffe reagiert.
Der Darm – Kontaktorgan zur Umwelt
Kaum ein anderes Organ steht so intensiv mit der Aussenwelt in Kontakt wie unser Darm: Über die Nahrung gelangen täglich Tausende Moleküle auf seine Schleimhäute. Die neue Studie fragt: Wie erkennt der Darm, was wir essen – und wie leitet er diese Information weiter?
Die Forschenden untersuchten Stücke des Dünndarms von Mäusen unter dem Mikroskop und beobachteten, wie die Nervenzellen im Darm auf verschiedene Nährstoffe reagierten. Dazu nutzten sie moderne Bildgebung, mit der sich kleinste Kalzium-Signale sichtbar machen lassen – ein bewährter Trick, um Nervenzellen beim «Feuern» zuzuschauen.
Getestet wurden zum Beispiel Zucker (Glukose), Aminosäuren (wie Phenylalanin) und kurzkettige Fettsäuren (wie Acetat). Interessanterweise reagierten die Nervenzellen nicht direkt auf die Nährstoffe, sondern nur, wenn diese mit der obersten Schicht der Darmschleimhaut in Kontakt kamen. Gab man dieselben Stoffe direkt auf die Nervenzellen, blieb die Reaktion aus.
Serotonin als Botenstoff zwischen Darm und Nervensystem
Entscheidend war offenbar die erste Zellschicht: die Epithelzellen des Darms. Diese erkennen bestimmte Nährstoffe mithilfe spezieller Transporter und Rezeptoren – und geben dann ein klares Signal weiter: Serotonin.
Serotonin ist ein vielseitiger Botenstoff. Viele kennen ihn als «Glückshormon» im Gehirn, doch rund 90 Prozent unseres Serotonins werden im Darm gebildet. In dieser Studie zeigte sich: Sobald die Epithelzellen aktiviert wurden, schütteten sie Serotonin aus – und dieses aktivierte die Nervenzellen des Nervensystems im Verdauungstrakt, das sogenannte «Bauchgehirn».
Dieses System ist erstaunlich komplex. Es umfasst über 100 Millionen Nervenzellen – mehr als das Rückenmark – und ist eng mit dem Gehirn verbunden, vor allem über den Vagusnerv, die wichtigste Informationsautobahn zwischen Bauch und Kopf.
Je nach Nahrungsbestandteil entstand ein anderes Aktivitätsmuster im Netzwerk der Nervenzellen. Die Nahrung beeinflusste also nicht nur, ob ein Signal weitergeleitet wurde – sondern auch wie und wohin. Damit wurden unterschiedliche Reaktionen ausgelöst, sowohl im lokalen Darmbereich als auch potenziell im Gehirn.
Lokale Wirkung: Der Darm passt sich an
Ein besonders interessanter Punkt: Die Nervensignale hatten nicht nur Bedeutung für das Gehirn, sondern auch für die unmittelbare Steuerung des Darms selbst. Die Aktivierung bestimmter Nervenzellgruppen beeinflusste direkt die Bewegung der Darmmuskulatur – also die sogenannte Peristaltik.
Mit anderen Worten: Der Darm «fühlt» die Nahrung und reagiert sofort. So kann er je nach Zusammensetzung der Nahrung mehr oder weniger aktiv arbeiten, Sekrete ausschütten oder die Durchblutung anpassen – bevor überhaupt ein Signal das Gehirn erreicht.
Natürlich kann man nicht alle Erkenntnisse von Mäusen auf den Menschen übertragen. Aber die grundlegenden biologischen Prinzipien, wie Zellen und Organe miteinander kommunizieren, sind bei Säugetieren doch sehr gut vergleichbar.
Ein Netzwerk, das mehr kann als nur verdauen
Die Studie zeigt also eindrücklich: Der Mäusedarm erkennt gezielt, was die Tiere fressen, und schickt differenzierte Signale ans Gehirn. Je nach Nährstoff reagieren unterschiedliche Nervenzelltypen – ein Hinweis darauf, dass der Darm eine Art sensorisches Feintuning betreibt.
Das Ganze ist bisher nur ein kleiner Ausschnitt eines viel komplexeren Systems. Aber es bestätigt, was andere Studien längst andeuten:
- Schon länger wissen wir, dass emotionale Zustände wie Angst oder Stress über das enterische Nervensystem auch körperlich spürbar sind – etwa durch Bauchschmerzen oder Durchfall.
- Auch in der Depressionsforschung spielt der Darm zunehmend eine Rolle: Veränderungen im Mikrobiom und der Serotoninproduktion könnten die Psyche beeinflussen.
- Und sogar Entscheidungsverhalten wird in Experimenten verändert, wenn der Vagusnerv gereizt wird – ein Hinweis auf direkte Rückkopplungen zwischen Eingeweiden und Gedankenwelt.
Fazit: Der Bauch – mehr als nur Gefühl
Vielleicht ist unser sprichwörtliches «Bauchgefühl» also gar kein irrationaler Impuls, sondern das Ergebnis eines komplexen biologischen Zusammenspiels zwischen Darm, Nerven und Gehirn. Wenn der Bauch «spricht», spricht oft auch das Gehirn – nur eben aus einer ganz anderen Richtung.
Die belgische Studie bringt uns diesem Verständnis einen Schritt näher. Und sie lässt vermuten, dass Intuition manchmal tiefer sitzt, als wir denken.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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