Kommentar

Krieg in der Ukraine: Das Undenkbare denken?

Marc Chesney © zvg

Marc Chesney /  Das Finanzieren von Massenvernichtungswaffen wie auch die Lieferung von schweren Waffen muss sofort eingestellt werden.

Red. Marc Chesney ist Finanzprofessor an der Universität Zürich. Er fordert von Grossbanken und anderen Finanzkonzernen schon lange, dass sie kein Geld mehr geben an Konzerne, welche Atom- und andere schwere Waffen produzieren, sondern mit nachhaltigen Kreditvergaben dazu beitragen, das Wohl unseres Planeten zu fördern.

Die Aggression der russischen Armee in der Ukraine hat bereits zu zu vielen Toten und getrennten Familien geführt – zu einem schrecklichen, erschütternden, unerträglichen Leiden. Zwar sind seit 1945 weltweit und kontinuierlich Kriege ausgebrochen, vor über zwanzig Jahren auch im ehemaligen Jugoslawien. Dennoch schien Europa immer glimpflich davongekommen zu sein. Nun wird dieser Kontinent, wo die beiden Weltkriege ihren Ursprung nahmen, wieder mit dem Gespenst des Krieges konfrontiert. 

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Der Schrei, Edvard Munch,1895

Die von Wladimir Putin ausgesprochenen nuklearen Drohungen betreffen uns alle. Wir sehen uns gezwungen, das Undenkbare zu denken, das Unsagbare zu sagen: einen Atomkrieg für möglich zu halten, was ein jeder Mensch auf Anhieb ausschliessen sollte; ein Krieg, der potenziell alles Leben auf der Erde auslöschen könnte. Und doch ist der Schrei des Grauens, der uns Menschen innerlich durchdringt und uns selbst taumeln lassen müsste, in der Gesellschaft kaum zu hören. Es ist unverantwortlich, diese Bedrohungen auf die leichte Schulter zunehmen. Es handelt sich nicht um Videospiele, sondern um die Zukunft der Menschheit. 

Wie konnte es so weit kommen, dass ebendiese Gesellschaft auf dem Höhepunkt ihrer produktiven und destruktiven Fähigkeiten steht und dabei ihre Mitglieder Gefahr laufen, von einer Maschine zermalmt zu werden, deren funktionierende Rädchen sie einst waren? Dass ein System so räuberisch wird, dass es in grossem Massstab Leben angreift. Ein System, das doch täglich (fehl-)funktioniert? Ein System, das stolz auf seine Technologien wie die künstliche Intelligenz ist und gleichzeitig sowohl durch seine tragische Geistesarmut als auch seinen mordlüsternen Grössenwahn glänzt. 

Welche Zukunft bietet eine «Zivilisation», deren Überleben auf einem Gleichgewicht des Terrors beruht? Ein zwangsläufig instabiles Gleichgewicht, das vom guten Willen einer Clique abhängt, welche die Macht hat, auf einen Knopf (oder mehrere…) zu drücken und dem Ganzen ein Ende zu setzen? 

Reicht jener Gesellschaft die Hoffnung, dass hier Fehleinschätzungen und Missverständnisse für immer vermieden werden? Der Eindruck, die Brandstifter und Kriegstreiber sässen nur in Moskau, ist irreführend. Die Kriegstreiber und die Totengräber aller Art sind in vielen Ländern zu finden. Die Produzenten von Massenvernichtungswaffen rekrutieren international zahlreiche Wissenschaftler, um ihre Geschäfte zu betreiben. Sie werden von Grossbanken finanziert, die ihre Geschäftspolitik als nachhaltig und ethisch vertretbar darstellen. Der Zynismus kennt keine Grenzen…

Die Atombomben der Nato sind nicht weniger apokalyptisch als die russischen. Ein Atomkrieg würde nur Verlierer kennen. Die nationalistische Propaganda auf beiden Seiten des brennenden Vorhangs hat bereits begonnen, die Geister zu mobilisieren und die Bevölkerung auf künftige Opfer vorzubereiten. Diese wird überall von zunehmend extremistischen Politikern, die eine Kriegslogik anstelle einer Friedenslogik fördern und immer mehr schwere Waffen einsetzen, als Geisel genommen. In einer Demokratie sollten im Prinzip diejenigen die direkt geopfert werden, d. h. die Bevölkerung, entscheiden, ob sie Krieg oder Frieden wollen. Komischerweise, ist dies nicht der Fall. Diejenigen, die eine solche Entscheidung treffen, verfügen sicher über riesige Luftschutzbunker… 

Der Schriftsteller Roger Martin du Gard schrieb in seinem Buch Les Thibault über den Ersten Weltkrieg: «Nie zuvor haben die Machthaber den Verstand in so harte Fesseln gelegt.» und «Nie zuvor ist die Menschheit so tief erniedrigt, ihre Intelligenz so rücksichtslos unterdrückt worden.» 

Scharen von unterwürfigen Lakaien versuchen, ein korruptes und sterbendes System über Wasser zu halten, das Lügen im Namen der Wahrheit fördert, Knechtschaft im Namen der Freiheit organisiert und uns im Namen des Lebens den Tod aufzwingen könnte. In Die letzten Tage der Menschheit, das 1918 veröffentlicht wurde, spielte Karl Kraus bereits auf jene «Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten» an. Mehr als ein Jahrhundert später ist dieser Satz immer noch aktuell. Zahlreich sind die Politiker, die von den Ereignissen überfordert sind, die sie mit herbeiführten. 

Heute haben nicht mehr die Aufklärer die Oberhand, sondern die Verklärer. Vor 20 Jahren haben sie das Ende der Geschichte mit dem Fall der Berliner Mauer verbunden und daraus den endgültigen Sieg der vermeintlichen Marktwirtschaft und den daraus resultierenden Frieden abgeleitet. 

Heute treiben sie ihr Unwesen weiter und behaupten, dass der internationale Handel und die Globalisierung der Wirtschaft den Frieden bewahren. Die Geschichte beweist uns das Gegenteil. Gerade als die Wirtschaft ihre erste Globalisierung erlebte, brach der Erste Weltkrieg aus. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Freihandelsabkommen vervielfacht, wobei der Welthandel, auch der von Waffen und Angst, stark zunahm. Echter Frieden sieht anders aus. 

Inwieweit werden die Wirtschaftssanktionen, die jetzt gegen Russland verhängt wurden und die von der hiesigen sowie der dortigen Bevölkerung ertragen werden, das Regime wirklich schwächen? Warum sollten sie wirksamer sein als jene Sanktionen, die damals gegen den Irak oder Libyen verhängt wurden? Diese Fragen wurden von westlichen Politikern offensichtlich kaum gestellt. 

Es ist kriminell, die Menschheit auf dem Altar der Nation und für Interessen zu opfern, die nicht ihre eigenen sind. Die rund 200 Millionen Menschen, die seit 1914 durch mehrere Kriege ihr Leben verloren und ihre Familien verlangen Rechenschaft. Karl Kraus sagt: 

«Zu Hilfe, ihr Ermordeten! Steht mir bei, dass ich nicht zwischen Menschen leben muss, die aus Ehrsucht oder Selbsterhaltungstrieb Befehl gaben, dass Herzen zu schlagen aufhören und Mütter weisse Haare bekommen! So wahr ein Gott lebt – dies Schicksal wird nur durch ein Wunder heil! Kehret zurück! Fragt sie, was sie mit euch getan haben! Was sie getan haben, als ihr durch sie littet, bevor ihr durch sie starbt! […] Wehrhafte Leichname, Protagonisten Habsburgischen Todlebens, schliesst eure Reihen und erscheint ihnen im Schlaf! Erwacht aus dieser Erstarrung! Tretet vor! Tritt hervor, du lieber Bekenner des Geistes und verlange deinen teuren Kopf von ihnen! […] Tritt vor, ihnen zu sagen, wo du bist und wie es dort ist, und dass du dich nie mehr dazu gebrauchen lassen wolltest!

K. Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, München, Kösel, 1974, S.679-680

Damit das Unfassbare nicht geschieht, damit Massenvernichtungswaffen niemals eingesetzt werden, müssen Physiker und Informatiker, die an ihrer Entwicklung und möglichen Aktivierung beteiligt sind, alle Aktivitäten in diesem Bereich einstellen. Dies ist ihre moralische Verantwortung gegenüber der Menschheit. Die grossen Finanzinstitute, unter anderem aus der Schweiz, die in die Produktion von Massenvernichtungswaffen investieren, müssen sofort identifiziert und ihre kriminellen Aktivitäten unterbunden werden. Ausserdem ist das Liefern von schweren Waffen unverantwortlich und hoch gefährlich. Sie muss sofort eingestellt werden. 

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Eine erste Fassung dieses Artikels wurde in Le Temps am 1. April 2022 publiziert. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

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Der Kalte Krieg bricht wieder aus

Die Grossmächte setzen bei ihrer Machtpolitik vermehrt wieder aufs Militär und gegenseitige Verleumdungen.

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Die Macht der Grossbanken

Statt Konkurs zu gehen, erhalten sie Staatshilfe. Sie finanzieren Parteien und geben die Schuld der Politik.

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Die Ukraine zwischen Ost und West: Jetzt von Russland angegriffen

Die Ukraine wird Opfer geopolitischer Interessen. Die Nato wollte näher an Russland. Seit dem 24.2.2022 führt Russland einen Angriffskrieg.

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9 Meinungen

  • am 12.05.2022 um 14:39 Uhr
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    AMEN.

    • am 13.05.2022 um 10:12 Uhr
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      Obwohl im Prinzip pazifistisch eingestellt, kann ich mit den Ausführungen von Marc Chesney hier nicht viel anfangen. Seine Ausführungen sind mir zu einseitig. Man schaue doh einfach einmal in die Geschichte. Es sind bisher immer noch die Stärkeren die die Schwächeren überfallen, unterdrücken und knechten. Das zu verstehen muss nicht erst in einem Studium erlernt werden.

      Richard Wrangham, ein bekannter Anthropologe beschreibt in seinem Buch „Die Zähmung des Menschen; warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat: eine neue Geschichte der Menschwerdung“ (ISBN 978-3-421-o4753-3). Wenn sich die Schwächeren zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, können sie zusammen wieder stark werden und dann weiterbestehen. Was das für die Ukraine bedeutet, und auch für uns Schweizer, ist so betrachtet wohl klar. Putin hat mit seinem abscheulichen Vorgehen das Gegenteil erreicht: statt einer Spaltung der Nato, hat Er sie nun gestärkt.

  • am 12.05.2022 um 15:16 Uhr
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    Ob ich an einer konventionellen oder Atombombe sterbe ist mir erstmal egal, für die Nachkommen ist es natürlich ein Unterschied.
    Mit Krieg lässt sich viel Geld verdienen. Solange wir das Geld entscheiden lassen wird es darum Krieg wählen. Irgendwann ist es dann halt der Atomkrieg.
    Sogar Einzeller lernten vor ca. 4 Mia Jahren zusammenzuarbeiten. Falls dies der Mensch nicht bald schafft ist die Kugel eh kaum mehr zu retten, Atomkrieg hin oder her.
    Politiker, die eine Gesellschaft durch Lügen in einen Krieg führen, müssten sofort abgesetzt anstatt nochmals gewählt werden. Andernfalls lernen es diese gierigen Versager nicht, bevor es für immer dunkel bleibt.

  • am 12.05.2022 um 19:41 Uhr
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    Bravo!
    Dem kann man absolut nichts hinzufügen, hoffentlich wird auch von der Masse der Menschen mal verstanden was da gerade abgeht und hoffentlich wachen auch alle mal auf bevor es zu spät ist.
    Böse Zungen behaupten allerdings das ein globaler Krieg viele Probleme der Menschheit und der Natur lösen könnte. Wenn das allerdings der Weg zueiner saubereren Welt sein soll und einer neuen sozialeren Marktwirtschaft, weiss ich nicht ob der Preis angemessen ist. Scheinbar will man ihn aber wohl bezahlen?

  • am 13.05.2022 um 09:35 Uhr
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    Was erschreckt, ist die Lebensmüdigkeit. Anders kann ich mir diese Haltung nicht erklären. Was ist in 50 Jahren geschehen, daß keiner mehr bereit ist, sich bedingungslos für den Frieden zu entscheiden? Ich denke es ist der Zustand der Medien, die nichts mehr preisgeben, sondern nur noch predigen. Wehret den falschen Propheten dieser Zunft.

    • am 14.05.2022 um 18:24 Uhr
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      Fast alle würden sich doch für den Frieden entscheiden wenn sie könnten.
      Aber wenn einer einfach angreift, hilft das nichts.
      Oder meinen sie dass jedes angegriffene Land einfach kapitulieren sollte?

  • am 13.05.2022 um 09:44 Uhr
    Permalink

    Ich stimme zu.
    Wir brauchen eine friedliche Umwälzung, bei der alle betroffenen Menschen gegen Krieg ein Vetorecht haben und die Macht-Clique entmachtet wird.
    Eigentlich ist es ganz einfach: In der heutigen Zeit ist Krieg ein No-Go.
    Krieg muss aus der Liste der politischen Optionen gestrichen werden.
    Ebenso Kriegs-Propaganda.
    https://friedenskraft.ch/blog

  • am 13.05.2022 um 20:10 Uhr
    Permalink

    Marc Chesney: «Die grossen Finanzinstitute, unter anderem aus der Schweiz, die in die Produktion von Massenvernichtungswaffen investieren, müssen sofort identifiziert und ihre kriminellen Aktivitäten unterbunden werden.»
    Seit der Revision des Kriegsmaterialgesetzes vom 1. Januar 2013 gibt es ein gesetzliches Finanzierungsverbot von verbotenen Waffen. Darunter fallen auch Atomwaffen. Weil das Finanzierungsverbot «erhebliche Gesetzeslücken», aufweisen soll, wird es Schweizer Geldhäusern weiter erlaubt, der UBS, die CS usw. in Unternehmen zu investieren die Atombomben herstellen.
    Nationalrätin Evi Allemann forderte schon vor neun Jahren, 2013 in einer Motion, dass diese «Schlupflöcher» geschlossen werden.
    Seit 1973 gibt es ein klares Verbot kriegführenden Staaten Kriegsmaterial zu liefern,. Hier ist das «Schlupfloch» die Aufrechterhaltung der Kapazität der einheimischen Rüstungsindustrie. Deshalb verbietet Bern nicht den kriegführenden Nato und anderen Staaten Waffen zu liefern.

  • am 14.05.2022 um 17:11 Uhr
    Permalink

    Diese Leser haben die Marschroute angezeigt:

    Felix Speiser: „Wenn sich die Schwächeren zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, können sie zusammen wieder stark werden“. Christian Friedli:“ Solange wir das Geld entscheiden lassen wird es darum Krieg führen… Politiker, die eine Gesellschaft durch Lügen in einen Krieg führen, müssten sofort abgesetzt werden“. Werner Kleefeld: „ Wehrt den falschen Propheten (die Medien)“ Paul Steinmann: „Krieg muss aus der Liste der politischen Optionen gestrichen werden. Ebenso die Kriegspropaganda.“

    Welche Organisation könnte diese Massnahmen umsetzen?

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