Höheweg Interlaken 17.04.2021

Der Interlakner Höheweg: Die touristische Hauptschlagader ist fast menschenleer (Aufnahme vom 17. April 2021). © jm

Touristischer Fixstern «mit voller Wucht» getroffen

Jürg Müller-Muralt /  Interlaken leidet stärker unter Corona als andere Touristenorte. Bei früheren Krisen war es gerade umgekehrt.

Interlaken ist «Adventure-Hauptstadt Europas», «zertifizierte Wellness-Destination», «Austragungsort zahlreicher Grossanlässe» und «lebt Traditionen und Brauchtum» – Interlaken «ist die ganze Schweiz an einem Ort»: Das alles kann man auf der Homepage der Tourismus-Organisation Interlaken (TOI) lesen. Aus der Luft gegriffen ist das Selbstlob nicht: Die Region Interlaken gehört zu den Fixsternen am helvetischen Tourismushimmel. Doch derzeit verdecken die dunklen Wolken der Pandemie diesen Himmel. Die Berner Oberländer Metropole leidet deutlich stärker als andere Touristenorte.

Mit Vollgas in die in die Krise

Schon seit mehr als einem Jahr wirkt der berühmte Höheweg, die Flaniermeile mit dem klassischen Ausblick auf die Jungfrau, meist wie ausgestorben. Wo sonst emsiges Treiben einer internationalen Gästeschar herrscht, wo sich vor Uhrengeschäften und Boutiquen grosse Menschentrauben tummeln, wo in den Gaststätten die Plätze rar sind – überall herrscht Leere und Stille. «Erstmals seit vielen Jahren trifft eine Krise den Tourismus in Interlaken mit voller Wucht», heisst es in der Medienmitteilung zum Jahresbericht 2020 der TOI vom April dieses Jahres.

Trendsetter mit gutem Riecher

Warum hat es Interlaken so stark erwischt? Schon immer war Interlaken einer der Trendsetter des helvetischen Tourismus. Die Welt wird asiatischer, und das hat man hier etwas früher gemerkt als anderswo. «Wir waren vor vielen Jahren die ersten in der Schweiz, die indische Reisegruppen beherbergt haben», sagt TOI-Präsident Erich Reuteler gegenüber Infosperber. Interlaken spiegelt diese Entwicklung so deutlich wie kaum eine andere Destination in der Schweiz wider. Die Mehrheit der ausländischen Gäste stammt heute aus China, Südkorea, Japan, Indien und dem arabischen Raum. Und es waren viele, die zum Sehnsuchtsort Interlaken strömten – bis die Corona-Pandemie ausbrach. Dieser Gästemix ist auch der Grund, weshalb der Oberländer Kurort so hart gelandet ist.

Asiatischer Totalausfall

Die Ferienregion Interlaken büsste im Corona-Jahr 2020 mehr als eine Million Logiernächte ein, d.h. es waren rund 40 Prozent weniger als im Vorjahr. Fast vollständig ausgeblieben sind die Gäste aus den genannten Fernmärkten. Die Golfstaaten halten mit einem Rückgang von knapp 96 Prozent den Rekord. Aber auch bei den Gästen aus China (minus 90 Prozent), Südkorea (minus 84 Prozent), Japan (minus 89 Prozent) und Indien (minus 94 Prozent) herrscht praktisch Totalausfall. Zudem waren bei fast allen europäischen Herkunftsländern Verluste zu verzeichnen. Mit einer Steigerung um 27 Prozent klar zugelegt hat bloss der Inlandtourismus.

Spendabelste Kundschaft bricht weg

Die Schweizerinnen und Schweizer reisen krisenbedingt also etwas mehr in die Region zwischen Thuner- und Brienzersee. Allerdings investieren sie in ihr Ferienvergnügen deutlich weniger als andere Gäste, nämlich durchschnittlich 140 Franken pro Person und Tag, zusätzlich zu den Beherbergungskosten. Die Verluste schlagen auch deshalb schmerzhaft zu Buche, weil ausgerechnet die ausgabenfreudigste Kundschaft ausgeblieben ist. Ein Gast aus den Golfstaaten gibt pro Tag durchschnittlich 420 Franken aus. Auch die Chinesinnen und Chinesen sind mit 380 Franken, die Inderinnen und Inder mit 310 Franken und die Japanerinnen und Japaner mit 300 Franken täglich sehr konsumfreudig. (Diese aktuell verfügbaren Zahlen von Schweiz Tourismus stammen aus dem Jahr 2017.)

Diffuses Unbehagen

Dabei sorgt dieser Gästemix in Interlaken schon länger für angeregte Diskussionen. Die stark ansteigenden Touristenströme sind ebenso ein Thema wie einzelne Herkunftsgebiete. Der einheimischen Bevölkerung ist einerseits die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus für die Region fast seit Jahrhunderten bewusst. Immer wieder musste man sich unterschiedlichen Gästen und ihren Bedürfnissen anpassen – von den verglichen mit hiesiegen Gepflogenheiten kapriziösen Briten im 19. Jahrhundert bis zu den Nikab-tragenden Araberinnen der Gegenwart. Irgendwie arrangierte man sich immer. Doch manchmal macht sich anderseits eben doch ein diffuses Unbehagen breit, einige fühlen sich fremd im eigenen Dorf, einigen ist die touristische Entwicklung zu dynamisch und auch zu einseitig. An einer Podiumsveranstaltung im Oktober 2018 konstatierte gemäss Jungfrau-Zeitung auch Daniel Sulzer, Direktor von Interlaken Tourismus: «Ich bemerke persönlich einen latenten Unmut in der Bevölkerung» (siehe auch den Beitrag auf Infosperber von 2019).

«Rassistische Reaktionen»

Das Problem ist in jüngster Zeit nicht kleiner geworden. Davon zeugt auch die Medienmitteilung der Tourismus-Organisation, wo es gleich im ersten Satz heisst: «Hat Interlaken zu sehr auf diese oder jene Gäste gesetzt? Diese Frage wurde der TOI im vergangenen Jahr immer wieder gestellt. Teils wurde sie wesentlich ketzerischer, um nicht zu schreiben xenophober, formuliert.» Christoph Leibundgut, TOI-Kommunikationschef, präzisiert gegenüber Infosperber: «Wir waren mit vielen heftigen, manchmal hochgradig rassistischen Reaktionen konfrontiert.» Im Fokus stehen offenbar in erster Linie arabische Gäste. Teilweise herrschte eine «gewisse Schadenfreude, dass es uns jetzt erwischt hat», sagte Leibundgut.

Konstanter Aufschwung seit 20 Jahren

Viele Leute hätten komplett ausgeblendet, dass die breite, internationale Ausrichtung ein über Jahrzehnte bewährtes Erfolgsmodell sei. Während viele Schweizer Tourismus-Regionen die Folgen der Finanzkrise, der Euro-Krise und der Aufhebung des Euro-Mindestkurses 2015 mit voller Wucht zu spüren bekamen, stiegen in Interlaken die Logiernächte stetig an. Wenn ein Markt schwächelte, konnte dank der Internationalität jeweils flexibel auf andere Märkte ausgewichen werden. Der Interlakner Tourismus hat sich laut Leibundgut in den vergangenen zwanzig Jahren konstant nach oben bewegt.

Europa wieder stärker im Fokus

Der Vorwurf, man habe den Markt zu einseitig ausgerichtet, sei nicht zutreffend. Zudem stelle sich die TOI immer wieder «selbstkritisch die Frage, ob sie auf die richtigen Märkte und Segmente setzt. So analysierte sie bereits vor Corona laufend die touristische Lage und entschied beispielsweise im Herbst 2019, wieder stärker auf Europa und damit auch auf die Schweiz zu fokussieren. Corona hat das Seine dazugetan, um diese Bestrebungen stark zu intensivieren. Die TOI betrachtet die aktuelle Krise ohnehin als idealen Zeitpunkt, um Interlaken breit abgestützt für die Zukunft fitzumachen.»

Zwei Projekte für die Zukunft

Zu diesem Zweck soll eine neue Strategie erarbeitet werden: 15 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Gewerbe, Politik und allen touristischen Bereichen erarbeiten zusammen unter der Leitung der TOI den Mehrpunkteplan «Interlaken 2030». Moderiert wird der Prozess von Professor Pietro Beritelli, Tourismus- und Regionalentwickler der Universität St. Gallen. Gleichzeitig hat die Universität Bern den Auftrag erhalten, eine Studie zur Zukunft des Geschäftstourismus zu erarbeiten.

Will sich Interlaken also neu erfinden? «Nein, das ist gar nicht möglich», sagt TOI-Präsident Erich Reuteler gegenüber Infosperber. «Es ist eine falsche Vorstellung zu glauben, man könne den Tourismus auf dem Reissbrett gestalten.» Interlaken werde immer international bleiben. Im Übrigen bilden Schweizerinnen und Schweizer konstant die grösste einzelne Gästegruppe. Im Vergleich zu allen weiteren Nationen und im Vergleich zu anderen Schweizer Destinationen ist der Anteil der Schweizer Gäste mit 20 Prozent allerdings eher bescheiden.

Kreativer Hotelier

Eine generelle Aussage zur Lage der Interlakner Hotellerie in der Pandemie ist nicht möglich, zu unterschiedlich sind die einzelnen Betriebe. Viele grössere Häuser haben ihren Betrieb aus Rentabilitätsgründen teilweise vollständig eingestellt und Renovationen durchgeführt. Davon haben laut Bernard Müller, Präsident des Hotelier-Vereins Interlaken und Umgebung, kleinere Hotels profitiert.

Einzelne Betriebe haben rasch reagiert und teilweise die Unternehmensstrategie umgestellt und neue Ideen entwickelt, wie eine Studie des Geographischen Instituts der Universität Bern mit dem Titel «Tourismus in Interlaken während der Covid-19-Pandemie» zeigt. Ein Hotel hat unter anderem einen Mahlzeiten-Service für ältere Leute angeboten oder Home-Office im Hotelzimmer. Zudem erledigte das Hotelpersonal im Auftrag der Spitex Reinigungsarbeiten in Privathaushalten.

«Kein schlechter Winter»

Wohin die Reise geht, an welchen Stellschrauben im Gefolge der noch ausstehenden strategischen Studien gedreht werden soll, ist noch unklar. Bernard Müller macht sich keine Illusionen: «Aus Richtung Asien erwarte ich vor 2022 praktisch keine Gäste.» Das Reiseverhalten werde sich nur sehr zögerlich wieder ändern. Er selbst, der das Hotel Bären im südlich von Interlaken gelegenen Wilderswil führt, hat «keinen schlechten Winter hinter sich», auch dank Schweizer Gästen. Müller glaubt, dass auch im laufenden Jahr Schweizerinnen und Schweizer vermehrt ins Berner Oberland kommen werden, weil sie weniger ins Ausland reisen können.

Verhüllungsverbot kein grosses Thema

Etwas Stirnrunzeln hat in Interlakner Tourismuskreisen das Ja des Schweizer Stimmvolkes zum Verhüllungsverbot («Burka-Initiative») vom 7. März 2021 ausgelöst, als ob man derzeit nicht schon genug Sorgen hätte. Also eine Krise in der Krise? Das wohl nicht, auch wenn es nicht gerade ein willkommenes Signal gegenüber den arabischen Gästen sei, heisst es. TOI-Sprecher Christoph Leibundgut sagt, man könne die Auswirkungen noch nicht abschätzen, da auch noch nicht klar sei, wie die konkrete Umsetzung aussehe. «Unser Verkaufsleiter besuchte kürzlich die Golfstaaten. Das Verhüllungsverbot wurde dort durchaus registriert und war auch ein Thema, aber kein zentrales», sagt Leibundgut.

Die Fremdenverkehrs-Verantwortlichen können sich immerhin damit trösten, dass die drei touristischen Kerngemeinden Interlaken, Matten und Unterseen die Verhüllungsinitiative entgegen dem regionalen Resultat im Berner Oberland mit durchschnittlich 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt haben. Man darf dieses Resultat vorsichtig so interpretieren, dass die Mehrheit der Stimmenden weiss, was sie an ihren arabischen Gästen hat.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor lebt in der Interlakner Nachbargemeinde Unterseen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

2 Meinungen

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...