Jahre vor dem Kollaps von Wirecard wurde die Revisionsgesellschaft EY gewarnt. Vergeblich.

Jahre vor dem Kollaps von Wirecard wurde die Revisionsgesellschaft EY gewarnt. Vergeblich. © cc

Wie wenn Schüler für ihre Noten die Lehrer bezahlen würden

Urs P. Gasche /  Grosse Revisionskonzerne durchleuchten Banken, verteilen ihnen Noten – und lassen sich von den Banken fürstlich bezahlen. (Teil 4)

Unser Bankwesen sollte eigentlich das reibungslose Zahlungs- und Kreditgeschäft von Konteninhabern und Unternehmen gewährleisten und Vermögen verwalten. Doch die Finanzindustrie hat die Finanzwelt in ein gigantisches Casino verwandelt, wo Milliardengewinne locken. Man zockt und bereichert sich schamlos auf Kosten anderer – ohne Nutzen für die Volkswirtschaft. Wenn es schief geht: siehe Credit Suisse. 

Dieses ganze Wettgeschäft ist wenig transparent. Infosperber versucht, den Schleier etwas zu lüften. In einem ersten Teil deckten wir auf, dass die unregulierten Schattenbanken weltweit fast die Hälfte sämtlicher Finanzanlagen verwalten. Im zweiten Teil erklärten wir Wettgeschäfte mit Derivaten wie CDS, im dritten Teil die Wetten mit Fremdwährungen. Heute geht es um die Revisionskonzerne, welche vor den Pleiten Lehman Brothers, Wirecard oder Credit Suisse nicht rechtzeitig warnten.


«Systemimmanenter Interessenkonflikt»

Die Unsitte, sich von den Geprüften bezahlen zu lassen, sowie andere Interessenkonflikte der Revisionsgesellschaften sind eine seit langem bekannte Schwachstelle – und ein Risiko für das internationale Finanzsystem. 

Dass die Buchprüfkonzerne von den Geprüften bezahlt werden, nannte der damalige Chef der Eidgenössischen Bankenkommission, Daniel Zuberbühler, bereits 1998 einen «systemimmanenten Interessenkonflikt». Doch bis heute reagierte das Parlament nicht.

Die vier grössten und sogenannten «Big Four» sind DeloitteEY (vormals Ernst & Young), PricewaterhouseCoopers (PwC) und KPMG.

Lehman Brothers, Wirecard, Credit Suisse

«Wenig Grund zum Stolz hat die Revisionsstelle PriceWaterhouse. Noch in ihrem letzten Bericht war von Problemen keine Rede. Nur neun Monate später ist die Firma nur noch mit einem massiven Schuldenerlass zu retten. Wer, wenn nicht die Revisionsstelle, soll Leichen im Keller finden?»

Dieses Zitat aus der Zeitung «Cash» betraf weder die Credit Suisse noch Lehman Brothers, sondern vielmehr die Computer-Handels-Firma COS in Baden. Das war vor genau dreissig Jahren. Es zeigt, wie lange die Politik von dieser Schwachstelle weiss und viel zu wenig unternahm.

Deshalb konnte Lehman Brothers bis vor dem Kollaps von guten Noten der Buchprüfer profitieren. Ebenso der Finanzdienstleister Wirecard mit seinem gigantischen Schneeballsystem. Unzählige Kundinnen und Kunden verloren ihr Geld. Der Konzern EY prüfte die Bilanzen von Wirecard während zehn Jahren und hat sie bis 2019 stets für gut befunden. In Juni 2020 meldete Wirecard Insolvenz an, nachdem bekannt wurde, dass 1,9 Milliarden Euro «fehlten».

Revisionsgesellschaften sind von den Banken finanziell abhängig

Eigentlich sollten mächtige internationale Revisionsgesellschaften die Geschäftsabschlüsse von Grossbanken sorgfältig kontrollieren und deren Bonität einstufen. Eine schlechtere Bonitätsnote führt dazu, dass ein Unternehmen oder eine Bank für Kredite höhere Zinsen zahlen muss und grosse Kunden skeptisch werden. Eine herabgestufte Bank würde rasch seriöser arbeiten wollen, um wieder eine gute Bonitätsstufe zu erlangen.

So lautet die Theorie.

In der Praxis läuft es so, wie wenn Schülerinnen und Schüler den Lehrer für das Notengeben fürstlich bezahlen würden. Ist der Lehrer zu streng, suchen sie einen anderen Lehrer oder streichen ihm einige Schulstunden – bei den Revisionsgesellschaften sind es einige Beratungsaufträge.

The Big Four.CFO
The Big Four

Tatsächlich lassen es die Parlamente seit langem zu, dass sich die Buchprüfungskonzerne von den Banken, die sie überprüfen sollten, mit üppigen Honoraren entschädigen lassen. Es ist ein lukratives Geschäft. Die oben genannten vier Rating-Konzerne machen allein in Deutschland einen Jahresumsatz von acht Milliarden Euro. Weltweit erreichte der Umsatz der «Big Four» im Jahr 2021 zusammen 326 Milliarden Dollar.

Das Gleiche im Fall Lehman Brothers: Vor dem Bankrott schuldete Lehman Brothers ihren Kunden 1,2 Billionen Dollar. Doch im letzten Geschäftsbericht fanden sich Begriffe wie «Performance-Rekorde», «hervorragende Ergebnisse», «Exzellenz» oder «Fokus auf Risiko-Management». Ein Jahr vor dem Bankrott brüstete sich Lehman Brothers, die «Nummer eins» im Algorithmus-Trading zu sein und 42 «best in class»-Auszeichnungen erhalten zu haben. «Rückwirkend erscheint dieser Jahresbericht als reine Propaganda», sagte Marc Chesney, Finanzprofessor an der Universität Zürich. 

Doch die Buchhaltungskontrolleure segneten den Geschäftsbericht ab und gaben Lehman Brothers noch wenige Tage vor dem Bankrott sehr gute Noten (mindestens A). Dazu Marc Chesney: «Es hätten die Alarmglocken läuten müssen angesichts der dubiosen Geschäfte und der komplexen derivativen Produkte. Letztere wiesen eine unverhältnismässige Höhe von 35 Billionen Dollar auf. Das heisst, ihr Nominalwert entsprach 50-mal der Bilanzsumme und etwa 1500-mal dem Eigenkapital der Lehman Brothers. Die Rating-Konzerne und Finanzanalysten hielten dies offensichtlich nicht für relevant. In ihren Berichten machten sie weder die enormen Schulden noch die gigantischen Derivategeschäfte zum Thema.» 

Wahrscheinlich betrachteten die Buchprüfer nur die Netto-Risiken der Derivate («Netto-Exposures» oder Differenz zwischen den Long-Positionen eines Hedgefonds und seinen Short-Positionen). Nur diese Netto-Risiken müssen Banken mit Eigenmitteln unterlegen. Wenn jedoch eine Bank ins Schleudern kommt, sind auch die ausstehenden Nominalbeträge oder Brutto-Exposures relevant. Das hat der Fall Lehman Brothers eindrücklich gezeigt. 

Trotzdem hat die Politik aus dem Fall Lehman Brothers bei weitem nicht genug Konsequenzen gezogen. Siehe mögliche Massnahmen weiter unten.

Schönfärberische Revisionsberichte und Ratings können dazu führen, dass unzählige Kunden Verluste erleiden. Doch selbst bei offensichtlichen Pflichtverletzungen haben Buchprüfungskonzerne angesichts ihrer Milliardengewinne keine abschreckenden Sanktionen zu befürchten – wenn es überhaupt einmal zu Sanktionen kommt. Am 31. März 2023 verhängte die deutsche Aufsichtsbehörde Apas der EY wegen Pflichtverletzungen eine Geldbusse von 500’000 Euro. Zudem darf die EY zwei Jahre lang keine neuen Mandate grösserer Unternehmen annehmen. Die bisherigen Mandate kann sie weiterführen.

Potenzierter Interessenkonflikt

An einen zusätzlichen Interessenkonflikt erinnerte Michael Rasch, Börsenredaktor der NZZ, im August 2020: «Die ‹Big Four› verdienen immer noch häufig mit der Beratung viel mehr Geld als mit der Buchprüfung […] Pingeliges Nachhaken bei den zu Prüfenden birgt die Gefahr, das Mandat und die daran hängenden lukrativen Beratungsaufträge zu verlieren.»

Tatsächlich kam beispielsweise vor zwanzig Jahren dank der Liquidation der Swissair ans Licht, dass die Revisionsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) ihr Honorar als Revisionsstelle mit Beratungen der SAirGroupe massiv aufbesserte. Der Berner «Bund» kommentierte: 

«Warum wohl haben die Revisoren nicht rechtzeitig die rote Karte gezeigt? Warum haben die Buchprüfer nicht eingegriffen, als noch Arbeitsplätze zu retten gewesen wären? Ein Buchprüfer muss erkennen, ob eine Bilanz verschönert wurde, auch wenn dies legal geschah […] Die Motorfahrzeugkontrolle findet hierzulande unter staatlicher Aufsicht statt, die Kontrolle der Konzerne nicht. Selbstregulierung eben.»

Im Fall Enron war ans Tageslicht gekommen, dass der Wirtschaftsprüfungskonzern Arthur Andersen neben 25 Millionen Dollar für eine Revision zusätzliche 27 Millionen Dollar für Beratungen kassierte. Ähnliche Zahlen wurden für KPMG bei Nestlé, sowie für PwC bei Novartis und Roche bekannt.

Die Politik bleibt passiv

Gegen die massiven Interessenkonflikte der Buchprüfer geht die Politik nur in homöopathischen Dosen vor. Am 18. Dezember 2013 titelte die NZZ: «EU strafft Leine für Buchprüfer – ein bisschen». Der Ministerrat und das EU-Parlament hätten den Vorschlag der EU-Kommission abgeschwächt. Aktionäre oder Obligationenbesitzende können Rating-Konzerne nur haftpflichtig machen, wenn sie Grobfahrlässigkeit oder Fahrlässigkeit nachweisen können. Vergeblich hatte der EU-Kommissar eine strengere Haftpflicht vorgeschlagen. Und Rating-Konzerne dürfen von geprüften Firmen weiterhin Beratungsaufträge entgegennehmen, nur nicht mehr in allen Bereichen.

Interessenkonflikte bei den Revisionsgesellschaften sollten ein absolutes Tabu sein. Denn Grossbanken haben ein enormes finanzielles Interesse daran, von ihren Buchprüfungskonzernen gute Noten zu erhalten. Nach dem Archegos-Verlust von fünf Milliarden Dollar musste die Credit Suisse selber im Juni 2022 auf Folgendes aufmerksam machen:

«Jede Herabstufung der Ratings der CS könnte ihre Kreditkosten erhöhen, ihren Zugang zu den Kapitalmärkten einschränken, ihre Kapitalkosten erhöhen und die Fähigkeit ihrer Geschäftsbereiche beeinträchtigen, ihre Produkte zu verkaufen oder zu vermarkten, Geschäftstransaktionen, insbesondere Finanzierungs- und Derivatetransaktionen, durchzuführen und ihre Kunden zu binden.»

Medien als Vertreterinnen der Öffentlichkeit nahmen ihre Funktion kaum wahr. Im Parlament und bei der Regierung blieben mögliche Massnahmen in den Schubladen:

  • Casinomässige komplexe Wettgeschäfte, die der Realwirtschaft keinen Nutzen bringen, sollten mit Steuern oder einer Regulierung stark eingeschränkt werden. Die Buchprüfung wird dadurch vereinfacht.
  • Die Buchprüfer sollten die nominalen Werte von Derivaten kontrollieren und ausweisen müssen.
  • Die Buchprüfer sollten nicht nur prüfen, ob die Rechnungsführung gesetzeskonform erfolgte, sondern auch auf versteckte Risiken hinweisen müssen.
  • Eine verschärfte Pflicht für Revisionsgesellschaften, versteckte Risiken den Bankenaufsichtsbehörden zu melden.
  • Nicht mehr Generalversammlungen der Aktionäre sollen die externen Revisionsgesellschaft wählen können, sondern beispielsweise die Börsenaufsicht.
  • Die Unternehmen sollten ihre Wirtschaftsprüfer alle paar Jahre wechseln müssen (in Deutschland gelten für Banken und Versicherungen zehn Jahre).
  • Eine staatliche Behörde sollte bei börsenkotierten Unternehmen stichprobenweise eine Nachprüfung vornehmen.
  • Rating-Konzerne sollten von Firmen, deren Buchführung sie prüfen, keine Beratungsaufträge entgegennehmen dürfen.
  • Bei leichter Fahrlässigkeit soll die Haftungshöchstgrenze stark werden.
  • Die Revisionsgesellschaften sollten ihrerseits eine öffentliche Bewertung erhalten.


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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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3 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 10.04.2023 um 14:18 Uhr
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    Das ist alles sehr schön. Was wäre aber, wenn eine solche Überprüfungsgesellschaft wirklich über buchhalterische Korrektheit hinaus kommentieren würde ? Der gesetzliche Rahmen fördert eine solche «vernünftige» Haltung kaum. Im Gegenteil.

    Ich habe an der Wahl einer solchen Überprüfungsgeselscchaft teil genommen und auf das Angebot «ökonomischer Zusatzanalysen» positiv geantwortet. In der Praxis ergab sich nichts, was wir nicht selbst in unserer kommissionsinternen Analyse bereits erarbeitet hätten.

    Der «neutrale Revisor» fürchtete sich offensichtlich über Minimalvorschriften hinauszugehen.

    Aber die gesetzlichen Vorgaben waren erfüllt.

  • am 10.04.2023 um 17:28 Uhr
    Permalink

    Leider musste ich dies bei Julius Baer Bank, Cayman als Chief Operating Officer selbst erleben, dass die Revisionsgesellschaft tut, was die Bank befehlt. Der Partner von PWC, Cayman und ich entschieden, dass eine klare Verletzung der International Accounting Standards in der Jahresrechnung vorliegt und wir, er als Revisionsstelle und ich als COO, die Bilanz und Erfolgsrechnung nicht vorbehaltslos unterzeichnen. Der PWC-Partner musste nach PWC-Zürich, die ihm erklärten, dass er so oder so unterzeichnen muss, was mich nicht überraschte, denn das Julius-Bär-Gruppen-Mandat war CHF 2 Mio. ca.. Er tat es + ich weigerte mich, denn diese Dokumente haben Urkundencharakter und ich wollte kein Urkundenfälscher sein! Das war ein weiterer Grund, weshalb ich dann von der Bank erfahren musste, dass man mich draussen haben wollte, was dann mit einem manipulierten Lügendetektorentest durch das Bär-Anwaltsbüro Maples & Calder, Cayman auch gelang! Auch viele Buchhalter sind sich dessen nicht bewusst!

  • am 15.04.2023 um 14:39 Uhr
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    Als Management- und Technologie-Berater mussten wir einige Male für kreditgebende Banken strauchelnde Unternehmen auf letzte Rettungsmöglichkeiten untersuchen. Dabei war immer erschütternd, wie viel die, im Schnitt ein Jahr zu späte, Revision den Unternehmern geholfen hatte, die Geldgeber UND SICH SELBER zu «beruhigen = betrügen».
    Der eindrücklichste Fall war das «Geständnis» eines Junior-Revisors bei PWC, der im Begleitschreiben zum Testat für die Swissair auch die Farbe des Porsche für seinen Senior-Partner spezifizieren musste.

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