Marc Chesney: «Ich bin wütend»
upg. Marc Chesney ist emeritierter Finanzprofessor der Universität Zürich. Diesen Sommer veröffentlichte er sein neues Buch «STOPP – gegen Kasino Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur».
Die nächsten Generationen haben – wie wir – das Recht, saubere Luft zu atmen und sauberes Wasser zu trinken. Diese Forderung ist weder extrem noch radikal.
Doch die heutige Wirtschaft wird vom Finanzcasino sowie von BigTech und Rüstungskonzernen beherrscht. Die nächsten Generationen haben das Nachsehen. Denn im Zentrum stehen gigantische unproduktive Wettgeschäfte sowie ein riesiger Berg von Schulden.
- Die öffentlichen und privaten Schulden haben rund 400 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts erreicht. Diese Schulden können niemals zurückbezahlt werden.
- Milliarden-Wetten auf Pleiten oder Ausfälle von Unternehmen und auf zahlungsunfähige Staaten dominieren das Finanzcasino. Es ist schlimmer als im Spielcasino. Dort trägt der Spekulant wenigstens seinen Verlust. Wenn aber bei Grossbanken oder gewisse Hedgefonds etwas schief geht, bezahlen wir als Steuerzahlende die Rechnung.
Das erlaubt einer kleinen Gruppe von Leuten, das weltweite Vermögen an sich zu reissen.
Schleichende Korruption in der Finanzwissenschaft
Professoren haben einen impliziten Vertrag mit den Steuerzahlenden: Das Gemeinwohl zu fördern. Deshalb sollten sie unabhängig bleiben und die Folgen der Finanzcasinowirtschaft für die Bürgerinnen und Bürger analysieren.
Seit vielen Jahren analysiere ich die Anbiederung der wirtschaftswissenschaftlichen Milieus an die Macht des Geldes. In meinem Bereich Ökonomie und Finanzen stelle ich fest, dass die Studierenden nicht lernen, kritisch zu denken. Die meisten Professoren unterrichten die Ideologie der freien Märkte. Diejenigen unter ihnen, die in der Schweiz, in Deutschland, weltweit zusätzlich zu ihrem Gehalt Geld von Finanzinstitutionen erhalten oder erhalten möchten, haben Anreize, «business as usual» zu machen und zu schweigen, wenn es sich um heikle Themen handelt.
Diese Gefälligkeit vieler Finanzprofessoren gegenüber dem Finanzsektor und die Sponsoring-Aktivitäten dieses Sektors für die Universitäten sind mit dem Funktionieren einer freien, unabhängigen und verantwortlichen Universität unvereinbar. Sie widersprechen diametral dem Geist der Universität eines Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Die Aufklärung wollte einen wissenschaftlichen Ansatz, der von wirtschaftlichen, ihrer eigentlichen Bestimmung zuwiderlaufenden Interessen unabhängig ist.
Vor zwei Jahren ging die Schweizer Credit Suisse praktisch bankrott. Doch für die meisten Finanzprofessoren war eine kritische Analyse der CS-Geschäfte, des CS-Managements, ihrer Boni und Löhne offensichtlich zu heikel.
In anderen Bereichen der Wissenschaft ist dies anders. Während der Covid-Pandemie beispielsweise nahmen Virologen, Immunologen und Epidemiologen an der öffentlichen Diskussion aktiv teil. Es gab verschiedene Meinungen und Analysen, etwa für oder wider eine Impfpflicht oder Schulschliessungen. Die Professoren trugen ihren Teil bei.
Zum Thema globale Erderwärmung gibt es den IPCC. Wissenschaftler analysieren die Entwicklung der Temperaturen und schreiben wissenschaftliche Berichte.
Als aber die zweitgrösste Bank der Schweiz bankrott ging, haben viele Finanzprofessoren geschwiegen oder die Systemrisiken bagatellisiert. Dieses Verhalten im Dienste der Credit Suisse und des Finanzsektors im allgemeinen ist nicht akzeptabel. Die Verantwortung der Finanz- und Wirtschaftswissenschaft und der ordentlichen Professoren in diesen Bereichen wäre gewesen, die Lage zu analysieren und zu erklären, was schief lief, sowie Lösungen vorzuschlagen, um die Systemrisiken des Finanzsektors in Zukunft zu reduzieren.
Als die Credit Suisse Ende der Achtzigerjahre die US-Bank First Boston gekauft hatte, waren die CS-Oberen stolz darauf, im Finanzcasino in den USA Finanzcasinowirtschaft mit ihren gross angelegten Wetten mitzuspielen. Sie ging immer grössere Risiken ein. Warum? Weil die Steuerzahlenden die Rechnung bezahlen, falls es schiefgeht.
Vierzig Jahre später war die Credit Suisse bankrott. Mit ernsten Mienen, aber vollen Taschen trat das Management der Credit Suisse vom Spieltisch des Finanzkasinos ab.
Auf diesen Konkurs der zweitgrössten Bank des Landes reagierte die ökonomische Zunft des Landes mit ohrenbetäubendem Schweigen oder einlullendem Geschwätz – aus Willfährigkeit gegenüber dem Finanzsystem.
Mit dem Kollaps der CS hat das Wettcasino nicht etwa aufgehört. Grossbanken und Akteure im Finanzkapitalismus dürfen ihrem schädlichen Treiben weiterhin nachgehen und nehmen dabei Steuerzahlende und Bürgerinnen und Bürger als Geisel.
Alle relevanten Warnlampen blinken rot: die Klimafrage, Kriege, soziale Probleme, Verlust der Artenvielfalt, die Schuldenwirtschaft sowie in vielen Ländern eine kaputt gehende Infrastruktur. Es ist eine lange Liste.
Politiker bleiben auffällig passiv
Wir stecken in einer Sackgasse. Aus diesem Grund heisst mein neues Buch «STOPP». Wenn man in eine Sackgasse gerät, muss man so schnell wie möglich die Richtung ändern.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Die meisten Politiker verlangen, dass wir die Fahrt in die gleiche Richtung noch beschleunigen: Noch mehr Arbeiten, noch mehr Wachstum, neue Märkte und so weiter. Das bedeutet noch mehr Finanzcasino, noch mehr Umweltzerstörung, noch mehr Schulden, Kriege und noch mehr weitere Probleme.
Ein Beispiel: Wenn sich die mittleren Temperaturen der Erde bis Ende des Jahrhunderts um drei oder vier Grad erhöhen, führt dies zu einer Katastrophe. Gemäss dem Pariser Abkommen sollten die Menschen nur noch ein bis zwei Tonnen CO2-Äquivalent pro Kopf und Jahr verursachen. Doch Superreiche bringen es auf rund 10’000 Tonnen CO2-Äquivalent – das 5000-Fache. Ihre Investitionen sind dabei nicht inbegriffen. Sobald man eine Superjacht besitzt oder einen Privatjet und so weiter, erreicht man schnell solche Zahlen.
Superjachten oder Privatjets sollten längst nicht mehr erlaubt sein. Das Fliegen sollte längst nicht mehr subventioniert sein. Das Fördern, der Transport und der Verbrauch von fossilen Brennstoffen sollte besteuert werden, anstatt mit Milliarden weiter subventioniert.
Wir müssen aus der Sackgasse heraus. Dann können wir neue Denkweisen entwickeln.
Waffen bringen noch mehr Gewinn
Heute pushen viele Regierungen in Richtung Krieg. Kriege sind ein Business, Blut bringt Dollars ein, Zerstörungen verschaffen Rendite.
Man müsste reagieren. Sollen die Nato-Länder in Europa etwa noch mehr Waffen aus den USA kaufen, um König Donald zu befriedigen? Sollen sie 5 Prozent ihres Bruttoinlandprodukte für die sogenannte Verteidigung ausgegeben?
In Deutschland wäre es viel wichtiger, in die Bahnen zu investieren.
Warum aber investiert man so viel Geld in Panzer – zur Freude des Rheinmetall-Konzerns – und nicht genügend in Züge? Ganz einfach, weil Waffen mehr Gewinn bringen.
Die Aktienkurse von Konzernen, die Waffen oder Teile davon herstellen, schnellen in die Höhe. Wenn man heute in der Börse eine grosse Rendite erzielen möchte, dann muss man in Waffen investieren.
Blackrock und die Bank JP Morgan beraten die ukrainische Regierung. Sie machen das nicht etwa gratis. Was gut ist für Blackrock, ist schlecht für die Bevölkerung. Sogar sehr schlecht. Die Finanzcasino-Wirtschaft will stets kurzfristige Renditen erzielen.
Bundeskanzler Friedrich Merz hatte früher im Finanzsektor gearbeitet, Präsident Emmanuel Macron und andere ebenfalls. Sie wechselten in die Politik. Später werden sie vielleicht wieder in den Finanzsektor zurückgehen. Revolving Doors.
Es sind nicht «unsere Schulden»
Die Finanzcasino-Wirtschaft führt zu gigantischen Schulden. Sollte man noch mehr arbeiten um diese Schulden zu bezahlen? Sicher nicht.
Doch es sind längst nicht immer «unsere» Schulden». Niemand hat uns gefragt, ob wir damit einverstanden sind, dass das sogenannte Verteidigungsbudget so stark steigt. Die Profiteure des Krieges sind zynisch und gefährlich.
Bereits zweimal in der Geschichte wurde Deutschland ein bedeutender Teil der Schulden erlassen: nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Wenn es zu viele Schulden gibt, kommt es zum grossen Abschreiber.
Gegenwärtig erreichen alle öffentlichen und privaten Schulden zusammen rund das Vierfache des Bruttoinlandprodukts aller Länder. Es wird unmöglich sein, alle Schulden zurückzuzahlen.
Die Staaten geben immer mehr Schuldscheine in Form von Staatsanleihen heraus. Die Käufer sind insbesondere Grossbanken oder namhafte Investoren, die so viel Geld haben, dass sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Es gibt Leute, die mehr als hunderte Milliarden Dollar besitzen wie Jeff Bezos oder Elon Musk.
Mit 200 oder 300 Millionen Dollar kann man ein Schloss kaufen, vielleicht zwei oder zehn. Man kann sich Superjachten oder sogar ein U-Boot anschaffen. Aber irgendwann muss man in die Finanzmärkte investieren. Finanzmärkte erlauben Superreichen, riesige Mengen Geld schnell zu investieren.
Sie investieren in Staatsanleihen, Kryptowährungen, reguläre Währungen, Aktien, strukturierte Produkte, Optionen, alles Mögliche. Auch in Kunst. Ein Teil der Milliarden landet im Sektor der Schattenbanken. Die kaum bekannten Schattenbanken beherrschen etwa die Hälfte des weltweiten Finanzsektors.
Bei den Schattenbanken handelt es sich um Finanzinstitutionen ohne eine Banklizenz. Sie sind praktisch nicht reguliert. Sie machen, was sie wollen. Es sind die Blackrocks oder Vanguards, die keine Banken sind. Es sind die Hedgefonds und so weiter. Superreiche, die in diese Schattenbanken und Hedgefonds investieren, wollen einfach noch reicher werden.
Diese Institutionen haben keinen volkswirtschaftlichen Nutzen. Doch die Leute, die für Hedgefonds arbeiten, haben oft ein Diplom in Finanzwissenschaft, Informatik oder in angewandter Mathematik einer öffentlichen Universität. Das heisst, wir Steuerzahler zahlen für die Ausbildung dieser Leute, die danach für eine kleine Gruppe von superreichen Leuten tätig sind, damit diese noch reicher werden.
In dieses Schattenbankensystem sowie in Kryptowährungen sind Billionen Dollar geflüchtet, um die wenigen Regulierungen zu umgehen, welche die Grossbanken nach der Krise von 2008 in Kauf nehmen mussten. Die Finanzcasinowirtschaft mokiert sich über die Regulierungen von Grossbanken.
Es sind Elon Musk und seinesgleichen. Trump hat mit seiner Familie sogar seine eigene Kryptowährung entwickelt. Das löst keine Probleme, sondern schafft neue. Es ist ein Krebsgeschwür, mit dem man eines Tages fertig werden muss.
Man muss irgendwann damit aufhören. Deshalb sage ich: Stopp.
——————————-
Obiger Artikel sind Auszüge aus einem langen Interview, das Marc Chesney dem Journalisten Patrik Baab am 18. November im Overton Magazin gewährte. Den hier redigierten Text hat Marc Chesney autorisiert.
Lesen Sie demnächst:
Die Finanzcasinowirtschaft mit einem einzigen Satz regulieren

Marc Chesney: «STOPP – gegen Kasino Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur»
Westend-Verlag, 2025, 20 Euro, 24.80 CHF
Aus dem Verlagstext: «Für alle lebenswichtigen Bereiche blinken die Warnleuchten rot: Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Umweltverschmutzung im grossen Stil, unerträgliche soziale Ungerechtigkeiten, ständige Kriege und die stetig steigende Gefahr eines Weltkriegs. Die Wirtschaftswissenschaft braucht dringend neue Paradigmen und Konzepte gegen die zynische Finanzkasinowirtschafts-Oligarchie, um das Gemeinwohl wirklich zu fördern, sagt Marc Chesney. »
«STOP – Alarme contre la finance casino et la marchandisation du vivant»
Editions d’en bas, 2025, 16 Euro, 16 CHF
«Stop: Alarma contra la mercantilizacion y destrucción de lo vivo»
Ediciones Carena 14 Euro
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.











Ihre Meinung
Lade Eingabefeld...