Casino Roulette

Im Spielcasino tragen die Spielenden wenigstens das Risiko – im Gegensatz zum Finanzcasino. © Depositphotos

Gegen das gefährliche Finanzcasino können ein paar Sätze helfen

Marc Chesney /  Milliarden-Wetten gegen Unternehmen, Währungen und Staaten destabilisieren das Finanzsystem. Das Risiko tragen die Steuerzahlenden.

upg. Marc Chesney ist emeritierter Finanzprofessor der Universität Zürich. In einem ersten Beitrag erklärte er, warum ihn der Finanzkapitalismus wütend macht.


Die Finanzkapitalisten sind extrem und gefährlich – und sie haben die Macht. Wie radikal die Finanz-Jongleure handeln, zeigte die Finanzkrise von 2008. Damals häuften sie riesige Schulden im Immobiliensektor an. Viele Amerikaner konnten sich keine Wohnungen oder Häuser mehr leisten und brauchten Kredite. Die Banken lockten mit niedrigen Zinsen: «Nehmen Sie einen Kredit, alles wird gut. Die Preise der Häuser und Wohnungen steigen ohnehin und damit auch ihr Vermögen.»

Die Preise stiegen tatsächlich – bis das Schuldengebäude zusammenbrach. Kurz vor der Krise wandten sich Grossbanken sogar an sogenannte Ninja-Kunden. Ninja bedeutet «No income, no job, no asset». Das heisst, sie hatten nichts, doch die Banken gaben ihnen Kredite. 

Es brauchte keine Doktorarbeit in Ökonomie, um zu erkennen, dass dieses System kollabieren würde. Und es kollabierte. 


Wetten auf Bankrott und Niedergang

Die Finanzjongleure treiben ihr Spiel weiter. Sie wetten in einem kaum regulierten Finanzcasino auf den Bankrott von Unternehmen oder Staaten – mit sogenannten CDS-Produkten («Credit Default Swaps»). Sie betreiben Wettgeschäfte, die kaum reguliert sind und die Weltwirtschaft in eine Krise stürzen können. 

Ursprünglich sollten diese Papiere Risiken absichern, etwa wenn das Rückzahlen eines Kredits unsicher ist. 

Ein Beispiel: Eine Bank vergibt einem Kunden einen Kredit über 10 Millionen Franken. Fürchtet sie, der Kunde könne diese geliehene Summe nicht zurückzahlen, kauft die Bank ein CDS-Papier – quasi eine Versicherung. Kann der Kunde bei Fälligkeit nur 3 Millionen zurückzahlen, deckt die Versicherung die restlichen 7 Millionen. In diesem Fall erfüllt das CDS ihren Zweck. 

Das Problem: Die meisten CDS dienen längst nicht mehr einer Absicherung eigenere Risiken. Sie sind zu reinen Wetten auf Risiken von unbeteiligten Dritten geworden. Man kann auf den Ausfall eines Unternehmens wetten, ohne ihm je einen Kredit gegeben zu haben. Oder auf die Zahlungsunfähigkeit eines Staates, ohne dessen Staatsobligationen zu besitzen.

CDS gehören zu den Derivaten. Kaum ein Mensch versteht sie. Selbst Josef Ackermann, einst Chef der Deutschen Bank, gab zu, dass er die Konstruktion vieler Derivate nicht durchschaue: «Bei dieser Komplexität der Materie muss sich ein Bankchef auf die Fachkompetenz eines starken Teams verlassen können. Täglich entstehen neue Produkte.»

Hedge Funds und Grossbanken wetten mit Milliarden auf den Niedergang eines Unternehmens oder den Bankrott eines Staates.


Hier erlaubt, dort verboten

Diese Mega-Spekulanten versuchen, die Finanzmärkte zu manipulieren. Was ihnen erlaubt ist, ist dem Normalbürger selbstverständlich verboten. Wer kein finanzielles Risiko eingegangen ist, kann auch kein Risiko mit einer Versicherung abdecken. Wer beispielsweise kein Auto besitzt, kann keine Unfall- und Haftpflichtversicherung für den Fall eines Autounfalls abschliessen. Es wäre absurd, eine Police für das Auto des Nachbarn abzuschliessen – in der Hoffnung, er baue bald einen Unfall. 

Doch genau das ist im Finanzsektor erlaubt: Man wettet auf Risiken von Dritten und profitiert von deren Eintreten. 

Falls dies dem Normalbürger erlaubt wäre, könnte er beobachten, welche Nachbarn schlecht und unsicher autofahren. Dann würde es sich lohnen, nicht nur eine, sondern sogar hundert sogenannte Autoversicherungen auf deren Auto abzuschliessen. Verursacht der Nachbar tatsächlich einen Unfall, kann man für Schäden des Autos und für die Spitalkosten von Verletzten viel Geld kassieren, ohne dass man mit diesen Schäden und Verletzten irgendetwas etwas zu tun hat.

Man würde dann gleich auf Unfälle mehrerer Autos mit unsicheren Fahrerinnen oder Fahrer wetten. Die Gewinnchancen wären dann grösser.

Dabei ist der Anreiz, kriminell zu werden, nicht zu unterschätzen. Denn es lockt viel Geld. Man könnte eines Nachts das Auto dieses Nachbarn manipulieren, damit das «Unfall-Ereignis» schneller eintritt. 

Deshalb ist es Privaten aus guten Grund verboten, solche Wetten auf Risiken von unbeteiligten Dritten einzugehen. Doch im Finanzsektor ist dies erlaubt. Dort geht nicht um Unfälle, sondern um finanzielle Verluste. Man darf wetten auf den Zahlungsausfall eines Unternehmens, den Bankrott eines Landes und so weiter. 

Das ist die Finanz-Casino-Wirtschaft. 

Die Anreize sind fatal. Wer auf Zahlungsausfall eines Unternehmens wettet, hat ein Interesse daran, dessen Ruf zu ruinieren. Oft streuen die Spekulanten gezielt negative Informationen. Wetten sie auf den Wertverlust von Staatsanleihen, malen sie die Wirtschaftslage des Landes in düsteren Farben.


Ein erster Satz zur Regulierung

Diese riskante Wetterei hat keinen volkswirtschaftlichen Nutzen. Um sie zu stoppen, bräuchte es keine tausend Seiten Regulierungen, sondern nur einen einzigen Satz: 

«Credit-Ausfallversicherungen (CDS) sind nur erlaubt, um seine eigenen Risiken abzusichern.»

Doch dieser Satz fehlt. Stattdessen wuchern komplexe und umgehbare Regulierungen. Trump lockert die Regulierungen, aber im Interesse des Finanzcasinos.


Versteckte Risiken

Die eingegangenen Risiken und die Nominalwerte der Derivate sind gigantisch, doch in den Bankbilanzen tauchen sie nicht wirklich auf. Meistens laufen sie «ausserbilanziell» oder es werden nur Nettopositionen angegeben. Bei der Pleite der Bank Lehman Brothers 2007 war das Volumen der Nominalwerte der ausserbilanziellen Derivate etwa 50-mal grösser als die ausgewiesenen Bilanzsummen.

Medien und Wissenschaft schweigen weitgehend dazu. Es gibt Experten für Bankbilanzen, aber viel weniger für die ausserbilanziellen Geschäfte. Dabei wäre eine gründliche Analyse dringend nötig.


Derivate: Spekulation statt Absicherung

Es ist zwischen Futures und Optionsgeschäften zu unterscheiden.

Beispiel für ein Futures-Geschäft: Ein Unternehmen möchte am 28. Februar Waren aus Deutschland importieren, die es auch erst dann in Euro bezahlen muss. Um kein Risiko einzugehen für den Fall, dass der Kurs des Euro bis Ende Februar steigt, kann das Unternehmen die Euros bei seiner Bank auf Termin per Ende Februar kaufen – zu einem bereits jetzt vereinbarten Wechselkurs («Futures»-Preis). 

Falls der Euro bis Ende Februar mehr wert ist als der vereinbarte Preis, dann hat sich das Termingeschäft gelohnt. 

Falls der Euro Ende Februar günstiger ist, muss man trotzdem den vereinbarten höheren Preis zahlen. Aber das Unternehmen hat Planungssicherheit und kann das Geschäft zum einkalkulierten Währungskurs abwickeln.

Noch mehr Flexibilität bieten Optionen: Mit einem Options-Geschäft schützt sich das Unternehmen ebenfalls vor einer Abwertung des Euro, also davor, Ende Februar mehr für den Euro zahlen zu müssen. Aber anders als bei einem Futures-Geschäft kann es von einer Abwertung profitieren: Wird der Euro bis Ende Februar günstiger, kauft das Unternehmen ihn einfach zum niedrigeren Marktpreis. Es trägt lediglich die bezahlten Kosten für das Optionspapier sowie Bankspesen.

Solche Termingeschäfte machen im genannten Beispiel Sinn: Ein Schweizer Unternehmen, das Waren aus Deutschland importiert, sichert sich gegen eine mögliche Steigerung des Eurokurses ab. So weiss das Unternehmen genau, was die Importe kosten, falls sich der Wechselkurs zu seinem Nachteil ändert.

Das Problem: Wie im besonderen Fall der CDS dienen die Derivate im Allgemeinen nicht der Absicherung realer Geschäfte. Es handelt sich um reine Wetten oder Manipulationsversuche auf Änderungen der Wechselkurse. 

Über die fast unvorstellbaren Volumina solcher Wetten informieren Medien selten.


Superrendite dank Hebeleffekt

Eine Super-Rendite winkt, wenn man die Wetten mit einem Hebeleffekt («leverage») versieht: Statt 5000 Franken einzusetzen, um 100 Aktien zu kaufen, ermöglicht beispielsweise ein 200-facher Hebel – mit denselben 5000 Franken Aktien im Wert von 1’000’000 Franken zu erwerben – also 20’000 Stück. Die Schattenbank gewährt dafür einen Kredit in Höhe von 995’000 Franken und begnügt sich mit den erhaltenen 5000 Franken als Sicherheit. Sie verdient an den Börsengebühren, Dividenden und Zinsen. 

Steigt der Aktienkurs wie spekuliert bis zum vereinbarten Datum um zum Beispiel 2 Prozent, ergibt sich bis zum Fälligkeitsdatum ein Gewinn von 400 Prozent – in diesem Beispiel 25’000 Franken (Aktienwert 1’020’000 abzüglich Kredit von 995’000 Franken, ohne Berücksichtigung allfälliger Zinsen und Dividenden). 

Doch die Risiken für den Spekulanten sind offensichtlich: Fällt der Kurs um 2 Prozent, gibt es einen Verlust von brutto 15’000 Franken. Da die Schattenbank nur 5000 Franken als Sicherheit verlangt hat, muss sie die fehlenden 15’000 Franken vom Spekulanten eintreiben – in der Hoffnung, dass dieser solvent ist. 

Der Spekulant selbst erleidet auf dem Kurswert der Aktien einen Verlust von 15’000 Franken (allfällige Zinsen auf dem Kredit und Dividenden der Aktien ausgeklammert). Sein Einsatz von 5000 Franken führt so in kurzer Zeit also zu eine negative Rendite  von 400 Prozent. 

Die tatsächlichen Summen sind jedoch um ein Vielfaches höher. Denn Schattenbanken setzen bei ihren Wetten nicht 5000 Franken ein, sondern Hunderte von Millionen – oft mit einem Hebel von bis zu 500. 

Ihr Vorteil gegenüber den Grossbanken: Sie sind kaum reguliert.

Um die Spekulationsgewinne weiter zu steigern, gibt es sogar Optionen auf Futures oder auf Optionen. Diese extreme Form von Spekulation nennt man auch «Derivate auf Derivate».


Ein zweiter Satz zur Regulierung

Diese Wetterei mit Derivaten hat keinen volkswirtschaftlichen Nutzen. Um sie zu stoppen, bräuchte es keine tausend Seiten Regulierungen, sondern wiederum nur einen einzigen Satz: 

«Derivate sind nur erlaubt, um seine eigenen Geschäfte abzusichern.»

Doch dieser Satz fehlt. 


Nominalwert: 10’000 bis 62’000-faches Schweizer BIP

Die Schweizer Börse (SIX-Gruppe) veröffentlicht wöchentlich das nominale Volumen der laufenden, noch nicht abgeschlossenen Derivate-Termingeschäfte. Je nach Zeitpunkt erreicht das Volumen der «Equiity Derivatives» (Derivate auf Aktien) die unfassbare Summe zwischen rund dem 1’000-fachen und dem 260’000-fachen des Schweizer Bruttoinlandprodukts. 

Als Finanzprofessor fragte ich bei der Börse nach, wie dieses gigantische Volumen zustande kommt. Die Börse bestätigte die Zahlen, blieb jedoch eine Erklärung schuldig. 

Es bleibt eine Blackbox. Weder Bürger noch Steuerzahler erfahren, welche Risiken hier eingegangen werden.

Falls wir doch einmal informiert werden, ist es zu spät. Zuerst werden die Grossbanken die Nationalbanken um Hilfe bitten. Diese versuchen dann, das wankende System zu stabilisieren. Am Ende zahlen die Steuerzahlenden.

Die Credit Suisse verstrickte sich in Skandale mit Hedgefonds, machte Verluste und zahlte trotzdem Boni und Dividenden. Sie häufte Schulden über Schulden an, bis alles zusammenbrach.

Wir erleben ein gefährliches Wettcasino, das der Finanzindustrie und den Superreichen Gewinne beschert. Statt Abermilliarden für Wetten zu verbrennen, brauchen wir Investitionen in Umwelt, Gesundheit, Infrastruktur, Bildung und Kultur. 

Marc Chesney: «STOPP – gegen Kasino Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur»
Westend-Verlag, 2025, 
20 Euro24.80 CHF

Buch-Cover Chesney

Aus dem Verlagstext: «Für alle lebenswichtigen Bereiche blinken die Warnleuchten rot: Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Umweltverschmutzung im grossen Stil, unerträgliche soziale Ungerechtigkeiten, ständige Kriege und die stetig steigende Gefahr eines Weltkriegs. Die Wirtschaftswissenschaft braucht dringend neue Paradigmen und Konzepte gegen die zynische Finanzkasinowirtschafts-Oligarchie, um das Gemeinwohl wirklich zu fördern, sagt Marc Chesney. »

«STOP – Alarme contre la finance casino et la marchandisation du vivant»
Editions d’en bas, 2025, 
16 Euro16 CHF

«Stop: Alarma contra la mercantilizacion y destrucción de lo vivo»
Ediciones Carena 
14 Euro


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.

Mit Twint oder Bank-App auch gleich hier:



_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Bildschirmfoto20160522um11_33_36

Finanzcasino bedroht Weltwirtschaft

Mit unvorstellbaren Summen darf gewettet werden, dass grosse Unternehmen und Staaten pleite gehen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...