Trockenwald

Trockenwald Rigi-Südflanke: Mitten in der Schweiz findet sich etwas abseits noch viel Vielfalt. © Noel Benson

Wald- und Welt-Visionen mit mehr Raum für Wildnis

Hans Steiger /  Zwei wunderbare Bücher über Wälder als zentrale Ökosysteme – kompetent, leidenschaftlich, liebevoll. Schwyz als unser Vorbild?

Es sind im doppelten Wortsinn gewichtige Werke, in denen es um weit mehr als Bäume oder «den Wald» geht. Eins stellt detailreich die vielfältigen Wälder im Kanton Schwyz vor. Beim andern ist der Ansatz geographisch wie inhaltlich globaler. Aber in beiden wird für mehr Wildnis zum Erhalt bedrohter und zunehmend wichtiger Ökosysteme plädiert.

Hier ist Schwyz wirklich reich

«Mehr als nur Bäume» wäre auch als Wanderanleitung zu empfehlen. Dank dem Hinweis, dass in der Umgebung eines schweizweit einmaligen Bergföhren-Fenchelwaldes «hoch über dem Vierwaldstättersee» gar Linden zu finden sind, machten wir uns im frischesten Frühling auf den kurzen Weg von Brunnen-Seeschlössli nach Gersau. Viel filigranes Grün, schöne Ausblicke, wenig Schweiss. Sie dürfte wohl von den fünf Exkursionen – jede führt in eine der sich markant unterscheidenden Waldregionen des Kantons Schwyz – zu allen Jahreszeiten die schönste sein. Doch die Info-Schilder im «Trockenwald Rigi-Südflanke» lassen erahnen: Hier könnte es an gewissen Tagen sehr heiss sein. Dann lieber an den oberen Zürichsee! Dort führt der teilweise vom Buechberg beschattete Uferweg in einen verwunschen verwilderten «Bach-Eschenwald mit Riesenschachtelhalm». Letzteres wusste ich noch nicht, als ich ihn im letzten Sommer mit einem Wanderfreund durchquerte. Aber eindrücklich zu sehen war, was Hans-Ulrich Frey als Bestimmung des kleinen Reservats so beschreibt: «Hier darf der urtümliche und vielfältige Wald seit 2007 wachsen und zerfallen, wie er will.»

Frey
Hans-Ulrich Frey: Mehr als nur Bäume.
Wald und Wälder im Kanton Schwyz.
Offizin Parnassia, Vättis 2022, 374 Seiten,
über 1200 Fotografien, Zeichnungen und Karten, ca. 58 Franken.

Für die hindernisreiche Passage am Buechberg sollte das Buch mit der Wegbeschreibung allerdings in den Rucksack. Es ist kein handlicher Wanderführer, sondern schwer wie Holz und derart liebevoll gestaltet, dass es nicht im Matsch landen sollte. Gesetzt, gedruckt und gebunden in der Schweiz, steht auf der letzten Seite, sowie «grosszügig unterstützt durch den Kanton Schwyz». Für einmal freut mich, dass sich der traditionell konservative Kanton sich nun als Steueroase solches leisten kann. Gemeint ist damit auch die jahrzehntelange Forschungs- und Beratungsarbeit des Autors, deren Resultate die Publikation präsentiert. Selbst der im regierungsrätlichen Geleitwort anklingende Stolz störte nicht. Dass nämlich «im Laufe der Jahrhunderte ein überreiches Mosaik von Waldbildern» entstand, wird nicht als Verdienst kluger Obrigkeiten vereinnahmt, sondern klimatischen oder geologischen Gegebenheiten sowie unterschiedlichsten Arten der Nutzung zugeschrieben. Nun möchte die kantonale Forstpolitik möglichst viele dieser Natur- und Kulturwälder für künftige Generationen bewahren, was auch umweltpolitisch eine Herausforderung ist.

Kernstück der nicht nur für Fachleute gedachten Bestandesaufnahme sind über sechzig Porträts teils verwandter und doch unterschiedlichster Ökosysteme, in denen zwar Bäume dominieren, aber der Untergrund nebst vielen weitere Faktoren den Charakter bestimmen. Meist sind darin reichlich typische Pflanzen und Tiere zu finden. All das wird nach knapp gehaltenen regionalen Übersichten auf jeweils drei Seiten pro Waldtyp sehr anschaulich dargestellt. Von den sich formal gleichenden Beispielen wollte ich bei der Lektüre zuerst nur Stichproben herauspflücken, doch die lebendige Art der Beschreibung brachte mich tatsächlich dazu, alle zu lesen – wohldosiert, wie eine Sammlung schöner Erzählungen. Dabei lernte ich viel, und jeder Lektion folgte ein «Übrigens» als Belohnung. Stets ein Bild plus wenige Zeilen. Manchmal ein Mini-Essay, eine feine Glosse, gar ein persönliches Bekenntnis des bestandenen Forstingenieurs. Als er vor gut einem halben Jahrhundert erstmals einen Sperlingskauz sah, in einem dieser «lückigen, mit Sümpfen und Riedern durchzogenen Schwyzer Nadelwälder nahe der Waldgrenze», einem für diese kleinste europäische Eulenart typischen Biotop, habe er sich in diesen seltenen Vogel verliebt, «sehr subjektiv, sehr unwissenschaftlich». Was wahrscheinlich – unausgesprochen – die Motivation bei seiner späteren beruflichen Tätigkeit miterklärt.

Möglichst wenig unternehmen

Die kurzen Empfehlungen, welche der in Zürich an der ETH ausgebildete Frey jeweils zur Waldpflege beisteuert, dürften im Forstdienst kaum allen gefallen. Häufig rät er, gar nicht oder so wenig wie möglich in das natürliche Geschehen einzugreifen. Denn in gebirgigen Wäldern ist eine schonende, «einzelstammweise» Nutzung ökonomisch selten lohnend und grössere Schläge könnten die Wuchsbedingungen auf diversen Kleinstandorten erheblich verschlechtern. Diese zu erhalten, bringt ökologisch Gewinn. In dem Sinn sollte das Buch dazu beitragen, die vorhandenen Wälder «als kostbares Gut noch besser kennenzulernen und zu schätzen». Wer vermutete etwa Arven im Wägital? Auch die rutschigen Hänge und Tobel ob Rothenthurm und Sattel, welche ich ein halbes Leben lang zu allen Jahreszeiten durchstreifte, fand ich detailreich gespiegelt. Samt den Baumgruppen, die im Flyschgebiet auf nassem Grund langsam rutschen, dann stürzen. Von den damals noch mit Schafen beweideten Hunds-Chotten, in die nun der Wald «zurückkehren» darf, finden sich alte Schwarz-Weiss-Aufnahmen. Danke.

Exemplarisch werden auch Waldnutzungen beleuchtet. So erinnert ein dazu beigezogener Experte für Forstgeschichte an frühe Verträge für Holzlieferungen nach Zürich, in denen anstelle der im Mittelland üblichen Kahlschlagpraxis bereits eine Art von Plänterwirtschaft vorgesehen war. Aus dem Ibrig-Gebiet sollte anno 1592 nur abtransportiert werden, «wie der Wald es giebt». Trotzdem wurden immer grössere Mengen von Stämmen sihlabwärts geflösst. Die einstigen Urwälder verschwanden, neues Weideland entstand. Und mit einer Bildreportage setzt der Verleger des Buches und Lebenspartner des Hauptautors sogar einen musikalischen Akzent. «Klang aus dem Wald: der Muotathaler Büchel» ist ihr Titel. Danach wird der von mir als kleines Gesamtkunstwerk empfundene Band mit dem Motto «Jeder Wald hat(te) eine Zukunft» mosaikartig beendet. Ein kleines Bild ohne Legende liefert auf der letzten Seite die perfekte Pointe. Aufrecht stehen zwei abgenagte Tannzapfen auf ihrem Zweig.

Ein hochkomplexes Ökosystem

Kaum weniger Leidenschaft steckt im zweiten, trocken mit «Waldwissen» betitelten Buch. Der penetrant rote Kleber, welcher den alphabetwidrig zuerst genannten Wohlleben als «Spiegel Bestseller-Autor ausweist, lässt sich zum Glück leicht entfernen, und danach ist auch dieses Werk rundum erfreulich. Bereits beim ersten Blättern erweisen sich zumal viele von den Verfassern selbst beigesteuerte Farbfotos als Augenweiden, wobei hier Ibisch der Vorrang gebührt.

waldwissen
Peter Wohlleben und Pierre L. Ibisch: Waldwissen. Ludwig Verlag, München 2023, 383 Seiten, Grossformat-Paperback mit vielen Farbfotos und anderen Abbildungen, ca. 40 Franken

Es war eine gute Idee, dass sich der deutsche Botaniker und Biologe, der auch Erfahrungen aus einschlägiger Entwicklungszusammenarbeit einbringt, für dieses Projekt mit dem Gründer einer Waldakademie zusammentat, dank der «Das geheime Leben der Bäume» über seinen spektakulären Bucherfolg hinaus im Gespräch blieb. Die zwei ergänzen sich ideal. Und sie haben sich viel vorgenommen. Untertitel: «Vom Wald her die Welt verstehen. Erstaunliche Erkenntnisse über den Wald, den Menschen und unsere Zukunft.» Das gemeinsam konzipierte Werk will «umfassend wie nie» auch die Geheimnisse des Waldes als hochkomplexes Ökosystem beleuchten, das intensive Zusammenspiel von Pflanzen, Tieren, Mikroben, Viren und Pilzen – als «eine Welt, in der kein Element ohne das andere existieren kann». Insbesondere die jüngsten Erkenntnisse zum vernetzten Leben in den Böden, wo Pilze die Hauptrolle spielen, werden intensiv beleuchtet.

Wissen, um besser zu handeln

Wichtig ist jedoch nicht nur das vermittelte Wissen über die Wälder als je eigene Lebensräume und Basis für erträgliche Lebensbedingungen überall. Auch um offene Fragen geht es, um unser Nochnichtwissen. Wo sich Zyklen nicht nur über Jahre oder Jahrzehnte, sondern über Jahrhunderte hinziehen, sich – oder wir! – Voraussetzungen fortlaufend verändern, ist bei Prognosen und eingreifendem Handeln besonders viel Vorsicht gefragt. Das ist schwer auszuhalten: «Die aktuellen Schlagzeilen scheinen sich überbieten zu wollen.» Rekordhitze, Dürren auf mehreren Kontinenten, versiegende Flüsse, ausfallende Ernten; lauter Krisen, die sich nicht mehr leugnen lassen und alle überfordern, «die Verantwortung haben, aber keine Lösungen finden». Noch versorgt die gewaltige, «vom Menschen entfesselte Megamaschine» zwar die meisten, aber sie hat uns abhängig gemacht, die «Finanz- und Wirtschaftssysteme haben sich verselbständigt und vom Fundament unserer Existenz, der Biospähre, entkoppelt». Um diese Grundlagen geht es jetzt. Für deren Erhalt sind Wälder entscheidende Faktoren. Wenn jetzt technokratisch versucht wird, sie rasch «anzupassen», zu manipulieren, in Plantagen als CO2-Speicher oder Quelle alternativer Energie zu nutzen, dürfte die vermeintlich naturnahe Krisenbekämpfung eher in künftige Katastrophen führen.

Weil wir Menschen für ein gutes Leben – «heute und in der Zukunft» – vielfältigen Wald benötigen, sollten wir von ihm lernen und unser Handeln den gewonnenen Erkenntnissen «demütig» anpassen. Zudem müsste «jegliche Nutzung des Waldes ethisch reflektiert und gerecht sein». Das mag hohl klingen, doch immer wieder nachfragende Gedankengänge zur Praxis einer «sozialökologischen Waldbewirtschaftung» machen die Alternative fassbar. Geliefert wird kein fixes Rezeptbuch, wie das in der oft hart kritisierten Forstbranche trotz wechselnden Moden üblich war. Gebraucht wird ein neuer Kompass, der nicht vorab die ökonomischen Kriterien, sondern sämtliche Ökosystemleistungen mit einbezieht. Dem gegenübergestellt wird eine «Science-Fiction»-Vision, mit der ausgerechnet «das für die Zukunft zuständige Ministerium» in Berlin ein «Natur neu denken» propagiert. Sie scheint wie das Futurium-Gebäude zu sein, in dem sie präsentiert wird. Künstlich und kalt. Auf dem versteinerten Platz davor, so lässt das Foto vermuten, dürfte es dafür im Sommer sehr heiss sein. Das nächste Bild, im letzten Juli in Wien aufgenommen, symbolisiert Umbau: «Raus aus dem Asphalt», steht auf dem Zaun, hinter dem gebaggert wird, und «Kampf gegen urbane Hitzeinseln». Hier wird die Entsiegelung vorangetrieben, kommt Grün mit eigenem Leben in die Städte zurück.

In der Wildnis steckt Hoffnung

Nein, hoffnungslos ist die Lage nicht. Aber «ohne Radikalität geht es nicht». Sie hätten sich bemüht, die Realität darzustellen, bilanzieren Ibisch und Wohlleben. «Wir wissen, dass die geballte Ladung und komplexe Information zu den vielen Krisen erschüttern, überwältigen, ja sogar mutlos machen kann.» Auch dazu mangelt es nicht an Studien. Es gibt nicht nur die Klimaangst, «auch Klimatrauer, Naturtrauer oder Waldtrauer». All das müsste dringend transformiert, «in Empörung und dann in positive Motivation umgewandelt werden». Eine individuelle Pflicht, die Welt oder die Natur zu retten, existiert nicht. Letztere findet ihren Weg ohnehin allein. Etwas für die Natur tun, sich in der Natur bewegen oder ausruhen tut Menschen aber gut. Weltweit seien die Autoren vielen begegnet, die für Wälder und für biologische Vielfalt kämpfen. Sie verteidigen, was bedroht ist, weil sie Verluste erkennen und spüren. Waldwissen in Kombination mit Waldfühlen könnte eine Basis für mehr Erfolge sein.

Ähnliches hatte ich zuvor – oft auch zwischen den Zeilen – bei Frey gelesen. Dort ist die Grafik zum «Klimawandel im Kanton Schwyz» alarmierend. «Was kommt auf uns zu?» Um bei Prognosen aus komplexen Modellrechnungen bösen Überraschungen vorzubeugen, sind Spitzenereignisse einzubeziehen. Danach werden die Überlebensstrategien einiger Baumarten skizziert. Könnte ein «Chaoswald» konzeptionell als Vorbild dienen? Immerhin blieben dort auch nach sehr langen Dürreperioden einzelne Eichen, Eschengruppen und Gebüsche erstaunlich grün. Auf rettende «Wunderbäume» sollten wir nach den bisherigen Erfahrungen nicht setzen. Aber durch einen artenreichen «Vorwald» liessen sich Risiken mindern. Neben dem primären Bemühen um die Einhaltung der 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele wäre also, was den Wald betrifft, eher Unterlassen als hektisches Eingreifen gefragt. Auch wenn wild anmutende Waldbilder nicht den Vorstellungen eines vorbildlich gepflegten Forstes entsprechen, «welche lange Zeit in unseren Köpfen herrschten». Da könnte ausgerechnet Schwyz, das eben wieder eine Klimavorlage mit Rekord-Nein abschmetterte, hierzulande zum Modellfall werden.

Dieser Text erschien auch in der P.S.-Sommer-Buchbeilage.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

Wald

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