Luftfilteranlagen in Kiel

Diese Wunderwerke der Technik sollen die Autoabgase zum Verschwinden bringen, ohne dass die Autos verschwinden müssen. © Screenshot «extra 3».

So trickst man mit Riesenstaubsaugern die Schadstoffmessung aus

Felix Schindler /  In Kiel ist die Stickstoffdioxid-Belastung seit Jahren viel zu hoch. Die Stadt perfektioniert derweil die Bekämpfung von Symptomen.

Die goldene Regel der Verkehrspolitik lautet: Don’t mess with den Autos. Wenn die Autos so viel Platz verbrauchen, dass sie die Strassen verstopfen: Gib ihnen mehr Platz. Wenn die Autos so schnell fahren, dass sie aus der Kurve fliegen und ihre Insassen verletzen: Gib den Autos Strassen, auf denen sie schneller fahren können. Wenn die Autos so viel Lärm verursachen, dass die Menschen krank werden: Errichte Schallschutzwände. Egal, was passiert: Wenn das Auto die Ursache eines Problems ist, dann wende Dich den Symptomen zu. Die einzige Bedingung: Die Anzahl der Autos bleibt gleich. Dafür steht Geld und Beton fast unbeschränkt zur Verfügung. 

Wir können das in der Schweiz ziemlich gut, aber in der norddeutschen Stadt Kiel hat man diese Strategie nun zur Perfektion geführt. Und das lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Wenn das Auto die Atemluft vergiftet, dann trickse die Messstation aus. 

Nur keine Dieselfahrverbote

Kiel erstickt im Verkehr, ganz besonders am Theodor-Heuss-Ring, einer bis 6-spurigen Strasse mitten in der Stadt. Dort fahren pro Tag bis 110’000 Autos durch – beachtlich, wenn man bedenkt, dass Kiel nur 250’000 Einwohner hat. Seit Jahren liegen die Schadstoffe über dem Grenzwert. In Deutschland liegt der Jahresmittelwert für Stickstoffdioxid (NO2) in der Aussenluft bei 40 µg/m³, 10 µg/m³ höher als in der Schweiz. Von 2012 bis 2019 lagen die Werte in keinem einzigen Monat darunter und erreichten in Spitzenmonaten 90 µg/m³. 

NO2 entsteht beim Verbrennen fossiler Energieträger, wie Gas, Kohle und Öl, und insbesondere beim Verbrennen von Diesel. Deshalb sahen sich mehrere deutsche Städte wie Frankfurt am Main, Stuttgart, Berlin und Köln gezwungen, die goldene Regel der Verkehrspolitik zu verletzen und Dieselfahrverbote einzuführen. Nicht so Kiel. Eine Zeitlang durften Diesel-Autos nicht mehr auf der rechten Spur fahren, damit sie die Luft etwas weiter weg von der Messstation entfernt verdrecken. Die Idee: Gleich viele Autos, tiefere Messwerte. Doch dies Massnahme verfehlte – völlig überraschend – ihr Ziel. 

Die Massnahme wirkt immerhin auf 190 Metern

Dann, Anfang dieses Jahres, erfolgte der Durchbruch. Die Kieler Regierung präsentierte unter dem Titel «Luftreinhalteplan» die Lösung gegen giftige Atemluft: Riesenstaubsauger. Sechs Container für insgesamt 500’000 Euro saugen die dreckige Luft der Autos auf, filtern sie und blasen sie auf der anderen Seite wieder heraus. Absolut konform mit der goldenen Regel, die Verursacher brauchen keinerlei Nachteile zu befürchten.

Das braucht zwar Strom und verursacht laut Hersteller so viel Lärm wie «ein belebtes Café». Doch der Verkehr ist bereits so laut, dass das gar nicht mehr ins Gewicht fällt. Die Filter reinigen auch nicht die ganze Luft in Kiel, sondern nur jene am Theodor-Heuss-Ring. Genauer gesagt, auf einem 190 Meter langen Abschnitt des Theodor-Heuss-Rings. Einer der Staubsauger steht wirklich ganz exakt neben der Messsonde.

Das ist die reine Lehre der Symptombekämpfung. 

Doch dann, lange bevor die Staubsauger installiert wurden, war die Luft plötzlich besser. Im Januar lag die NO2-Konzentration zum ersten Mal seit sieben Jahren unter dem Jahresgrenzwert, im Februar schon wieder, im Mai und im Juli auch. Wegen einer Baustelle wurde die Kapazität der Strasse eingeschränkt, der Verkehr nahm ab und die Schadstoffbelastung auch. Als langfristige Massnahme kommt so eine Kapazitätseinschränkung natürlich nicht in Frage. Sie wissen schon: die goldene Regel. An den Staubsaugern führt kein Weg vorbei. 

Luftreinhalteplan fällt bei den Richtern durch

Doch wie alle wirklich grossen Würfe muss auch der Kieler Luftreinhalteplan Widerstände überwinden. Die Deutsche Umwelthilfe klagte gegen die Stadt, die Container seien nicht annähernd dazu geeignet, die Schadstoffbelastung im nötigen Ausmass zu senken. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig attestierte den Containern eine «grundsätzlich fehlende Eignung (…) für eine gleichmässige Minderung der Schadstoffbelastung» (zum Urteil). Eine Simulation der Luftreiniger ergab, dass die Schadstoffe unmittelbar hinter dem Container um 70 Prozent gemindert werden, die Minderungsleistung «aber in den Bereichen zwischen den Containern bei unter 10 Prozent liegt und an einer Stelle auf null absinkt». 

Anders als die Luftreinhaltepläne anderer Städte enthielt das Papier in Kiel tatsächlich keine anderen Massnahmen zur Förderung umweltschonender Verkehrsträger. Nur für den Fall, dass die Staubsauger nicht funktionieren sollten, würden «hilfsweise» Dieselfahrverbote eingeführt. Und so gab das Gericht – völlig überraschend – der Umwelthilfe recht. Die Stadt muss nächstes Jahr einen neuen Luftreinhalteplan vorlegen. 

Wohin mit den Containern? 

Das Urteil kam zu einem suboptimalen Moment, die Behörden hatten die Luftfilter nämlich bereits bestellt. Deshalb standen sie vor dem nächsten Problem: Wohin mit den Containern? Der ganze Platz war schon vergeben. Irgendjemandem musste man ihm wegnehmen. Aber wem? Den Autofahrern, die fast Dreiviertel des Strassenquerschnitts besetzen? Natürlich nicht. Dann könnten dort nicht mehr so viele Autos fahren und nicht mehr so viel NO2 ausstossen. Die Container wären womöglich vergebens angeschafft worden.  

Ein richtiger Verkehrspolitiker wächst an seinen Aufgaben. Deshalb stehen die Maschinen dort, wo jene Leute zur Arbeit fahren, die kein einziges Mikrogrämmchen NO2 ausstossen: auf dem Radweg. Der verbleibende Platz für Fussgänger und Radfahrer unterschreitet jetzt das gesetzlich vorgeschriebene Mindestmass, was das Kreuzen für beide gefährlicher macht. Die ideale Methode, um Fussgänger und Radfahrer davon zu überzeugen, dass das Auto eben doch praktischer ist. 

Seit Mitte Oktober stehen sie nun dort, auf dem Radweg, machen Lärm wie sechs belebte Cafés und blasen gefilterte Luft gegen die Messsonde. Und tatsächlich: super Zahlen! Die Daten der Station sind öffentlich zugänglich, Infosperber hat sie ausgewertet. Fünf Wochen lang lagen die Messungen rekordverdächtig tief bei durchschnittlich 16 µg/m³ NO2

Nur keine Fahrverbote

Trotzdem hat der Luftreinhalteplan jetzt einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Ende November waren die Bauarbeiten am Theodor-Heuss-Ring endlich fertig, seither fahren die Autos wieder auf sechs Spuren mitten durch die Stadt. Und jetzt gehen die NO2-Werte – völlig überraschend – wieder nach oben. In den vergangenen zwei Wochen lag der NO2-Durchschnitt wieder bei 36 µg/m³ – trotz Staubsauger nur haarscharf unter dem Grenzwert. In den Sommerferien, als die Anlagen noch nicht installiert waren, aber weniger Autos zirkulieren, lag die NO2-Konzentration bei 28 µg/m³.

Der erste mehrwöchige Rückgang (Jahresmitte) fällt exakt mit den Schulferien zusammen (29.06. bis 08. 08. 2020), der zweite mit der Inbetriebnahme der Luftfilter. Doch mit der Zunahme des Verkehrs gehen auch die Werte wieder rauf. (Daten: Kiel; Grafik: fxs)

Viele Medien reagierten mit Spott und Hohn auf den verkehrspolitischen Schildbürgerstreich – er schaffte es unter anderem in die Rubrik «Realer Irrsinn» des politischen Satiremagazins «extra 3» des Norddeutschen Rundfunks NDR (Luftreinigungsgeräte auf neuem Radweg, extra 3). In diesem Beitrag erklärt die Stadt Kiel schriftlich, dass das alles gar nicht so schlimm sei. «Dort, wo die Luftfilteranlagen stehen, müssen sich zwar Fussgänger und Radfahrer vorübergehend den schmalen Gehweg teilen, doch das soll höchsten drei Jahre so sein.» Bis dann, hofft die Stadt, hat sich das Problem der Stickstoffdioxid in Luft aufgelöst hat.

Höchstens drei Jahre. Hauptsache, die Anzahl der Autos bleibt gleich.


Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • am 21.12.2020 um 12:12 Uhr
    Permalink

    Wenn man versucht rückwärts und gross zu denken, kommt man zu dem Punkt, an welchem man sich fragt, weshalb denn solche Luftfiltercontainer (im Kleinstformat) nicht direkt an den Erzeugern (Autos) angemacht werden?
    Ja – ist klar: Damit wäre ja die deutsche Regierung und die deutschen Autohersteller in der Pflicht.
    Die deutsche Regierung: Das ist die, welche seit Jahrzehnten zu wenig oder nichts gegen den Pflegenotstand tut. Man fühlt sich beim Betrachten der Regierung an jenes Hündchen auf Hutablagen mancher Autos erinnert, die den Kopf bewegen und nicken, sobald sie angestupst werden. Als Kind riefen wir jeweils entzückt: „Guck mal Papi, der bewegt sich ja!“

  • am 21.12.2020 um 14:45 Uhr
    Permalink

    Wurden diese Messergebnisse auch schon von Correctiv geprüft?

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