Davos

Davos: Ein Beispiel für die Verstädterung der Alpen © pixabay/cc

Alpine Kulturlandschaften – vor ihrem Verschwinden gesichtet

Hans Steiger /  Zwei neue Bildbände spiegeln den Wandel in den Alpen: Bätzing liefert einen Überblick, bei von Matt ist's ein lokaler Rückblick.

Es sind zwei ziemlich verschiedene Alpenbücher, die sich aber ideal ergänzen. Eines führt den ganzen europäischen Alpenbogen farbig als vielfältige Kulturlandschaft vor, so wie Menschen sie anstelle eher unwirtlicher Natur schufen. Schönheit mit Schatten. Das andere leuchtet einen Winkel fotografisch schwarzweiss aus: Nidwalden als ländlicher Lebensraum. Festgehalten im Jahrzehnt vor dem Einbruch der Moderne.

Werner Bätzing: Die Alpen. Das Verschwinden einer Kulturlandschaft. Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft / Theiss, Darmstadt 2018, 218 Seiten, 230 Illustrationen und Übersichtskarten, 38 Euro
«Die Alpen» von Werner Bätzing sei eigentlich nur die Neuausgabe eines von ihm 2005 vorgelegten Bandes, schreibt der schon seit Jahrzehnten auf diesen Raum konzentrierte Forscher im Vorwort. Er habe aber den gesamten Text neu geschrieben, mehr als drei Viertel der Bilder ausgewechselt und speziell im letzten Kapitel, wo es um die aktuelle Lage und die Zukunft der Alpen geht, «relevante Veränderungen» vorgenommen. Nicht ausdrücklich erwähnt werden die Wechsel der Untertitel, die beim Vergleich mehrerer Auflagen ins Auge fallen: «Naturbearbeitung und Umweltzerstörung» stand da 1984 zur Präzisierung der ökologisch-geographischen Untersuchung. 1991 wurden Umfang wie Spektrum erweitert: «Entstehung und Gefährdung einer europäischen Kulturlandschaft» trug dem Rechnung. «Geschichte und Zukunft» hiess es ab 2005 bis und mit 2015. Und jetzt setzt «Das Verschwinden einer Kulturlandschaft» auf den Umschlag ein markantes Signal. Haupttitel und Thema blieben «Die Alpen».

Das richtige Mass der Nutzung

Auch die Fragestellung des ersten Kapitels änderte nicht: «Was sind die Alpen?» Vorab ein «junges Hochgebirge», wie der Geograph noch fast gelassen festhält. Die sich in den Köpfen individuell und historisch immer wieder wandelnden Alpenbilder waren nur selten realitätsnah. Zu den grössten Missverständnissen gehört die Verwechslung von alpinem Raum und Wildnis. Hier wurde «eine Naturlandschaft vom Menschen zum Zweck seiner Lebenssicherung» massiv umgestaltet. Dies vor allem durch die Rodung von Teilen des davor weitgehend dominanten Waldes. Erst durch jahrhundertlange landwirtschaftliche Arbeit sind faszinierend vielfältige Kulturlandschaften entstanden. Und sie werden heute vom Rückzug der Landwirtschaft bedroht.
Zumal der in den letzten Jahrzehnten rasante Zusammenbruch traditioneller Strukturen gefährdet eine nachhaltige Weiterentwicklung. Klimawandel und andere globale Einflüsse verschärfen das Problem. Weil inzwischen auch das Wissen um überlieferte Praktiken am Verschwinden ist, «fällt dieses Kapitel etwas umfangreicher als die anderen aus», und bei aller Sachbezogenheit fliesst in ihm besonders viel Herzblut. Was kleinräumige, aber vielfach vernetzte Gemeinschaften an Erfahrungen über «das richtige Mass der Nutzung» sammelten, schuf die Basis für ein durchaus gutes Leben auch in vermeintlichen «Ungunsträumen». Entscheidend war, «dass die menschlich genutzte Vegetationsdecke stabil und dicht bleibt, dass sie eine gute Biomasseproduktion gewährleistet», dass sie die sprunghafte alpine Dynamik mit Wassermassen, Erosion und Lawinen dämpft. In vielen Fällen gab es diesbezüglich nur Regelungen, die mündlich weitergegeben wurden, aber trotzdem einen verbindlichen Charakter hatten. Wegen ihrer Bedeutung für den Umgang mit der Umwelt sind heute immerhin Satzungen zur Alpbewirtschaftung im Verzeichnis des immateriellen Weltkulturerbes zu finden.

Umgekehrt ist inzwischen selbst die Zukunft der auf globale Konkurrenz ausgerichteten Agrarbetriebe fraglich, die alte Regeln längst den Rentabilitätsgesetzen geopfert haben: Wo nicht «modern» – also intensiv und mit teuren Maschinen – zu wirtschaften ist, beginnt die Landschaft wieder zu verbuschen und verwalden. Von kleinräumiger Besiedelung bleibt infolge von «Zersiedelung und Entsiedelung» innert kurzer Zeit wenig übrig: Zerfall in peripheren Lagen, an den verkehrsgünstigen Orten breitflächige Ver(vor)städterung. Beides wird mit mehreren Bildern belegt. In den üblichen Alpen-Bildbänden bleiben die gesichtslosen Zwischenzonen, etwa von Zürich bis und mit Chur, meist ausgespart. Sie offenbaren raumplanerisches Versagen und passen auch schlecht zum touristischen Image.
Letzteres ist ein Kapitel für sich, das im Buch die Kernbotschaft bereits im Titel enthält: «Tourismus – keine Schlüsselbranche im Alpenraum». Wo dieser in seiner auf Spektakel getrimmten Form floriert, wird er Teil der Zerstörung. Allgemein wird seine Bedeutung überschätzt. Wichtiger wären Erhalt oder Ersatz der sonst vorhandenen ökonomischen Strukturen. Die fanden im Zeichen einer eher «sozialen Marktwirtschaft» unbestritten staatliche Unterstützung. Doch heute werden «die überproportional hohen Ausgaben für die Peripherie» im Namen eines neuen Liberalismus zunehmend kritisiert. «Wenn sich diese Position durchsetzen sollte, dann hätten viele kleine und dezentral im Gebirge gelegene Siedlungen keine Überlebenschance mehr.»

Ausblicke mit Alpenkonvention

Entsprechend bitter klingt eine der Überschriften im letzten Teil. «Bilanz: Die Alpen verschwinden». Jedenfalls verbleibe von dem für die Menschen relevanten Charakter einer kleinräumigen Kulturlandschaft wenig, «wenn die Entwicklung der Alpen so weitergeht wie bisher». Wo die Wirtschaft, weil aus Geld mehr Geld werden soll, zu einem Selbstzweck wird, deren ökologische und kulturelle Grundlagen verdrängt sind, «entsteht eine kalte, funktionale Welt ohne Sinn, die letztlich ihr eigenes Fundament zerstört. Die Umwandlung von Teilen der Alpen in künstliche Freizeitparks ist davon vielleicht der deutlichste Ausdruck.» Bilder immenser Technowüsten sowie Protzbauten auf besonders grimmigen Gipfeln stehen dafür. Landmarken, die beweisen sollen, «dass der Mensch die Alpen technisch total beherrsche und dass hier alles machbar sei, was Gewinn bringe». Ein als hübsche Vignette aufs Vorsatzblatt gesetztes Foto illustriert dies mit feiner Ironie. Hinter einer Hügellandschaft am Horizont ist eine eigentümliche Kette zartweisser Wölkchen zu sehen. Auf der folgenden Seite dann die klärende Legende: «Schneekanonen am Stubnerkogel, 2246 m (Hohe Tauern), am 3. Dezember 2016.»

Kurz vor Schluss wird immerhin noch eine «Zukunft für die Alpen» – mit Fragezeichen versehen – skizziert. Ein paar mehr oder weniger intakte Kulturlandschaften gibt es ja noch und vor allem seit den 1980er Jahren wurden und werden im Alpenbogen auch andere, hoffnungsvollere Entwicklungswege beschritten. Aus den grenzübergreifend vernetzten Initiativen entstand eine durch staatliche Stellen zeitweilig wohlwollend geförderte Bewegung. 1991 unterzeichneten die Umweltminister eine internationale Alpenkonvention zum Schutz und zur nachhaltigen Entwicklung der immerhin von 15 Millionen Menschen bewohnten europäischen Grossregion. In dieser Vereinbarung erkennt Bätzing eine nach wie vor «geeignete politische Struktur» für eine dezentrale, aber nicht von Konkurrenz geprägte Aufwertung dieses Lebensraums. Leider wurden nicht zuletzt in der Schweiz weitere Schritte sabotiert. Eine von vielen richtungweisenden Deklarationen, die Papier blieb.

Wie es in Nidwalden war

Eine gute dokumentarische Ergänzung dieser Gesamtdarstellung ist der Band mit Leonard von Matts frühen Fotografien. Sie zeigen exemplarisch, wie zwischen 1936 und 1946 in Nidwalden gelebt wurde, wie eine alpin geprägte Kulturlandschaft aussah, kurz vor den Umbrüchen der dem Krieg folgenden Modernisierung. Peter von Matt erinnert sich in einem der Begleittexte nicht nur an seinen Onkel, sondern auch an den Ort, wo er ihn gern und häufig besuchte. Mit dem Weg zum etwas abgelegenen Ennerberg beschreibt er die Veränderungen: «Rechts am Strässchen ein langgezogener Lebhag, den der Bauer jährlich schön gerade zurückschnitt – heute stehen dort eiserne Pfähle mit Drähten –, links ein Mäuerchen, aus grossen Steinen gefügt, mit Ritzen, in denen zahllose Eidechsen herumwischten oder mit pulsierendem Hals an der Sonne lagen. Und die Wiesen waren hageldicht mit Blumen bewachsen, so farbig alles, wie man es heute nur noch in den Kinderbüchern sieht.» Die fortschrittliche Landwirtschaft habe inzwischen die noch unverbaute Schweiz in ein einförmiges Grün verwandelt. Käfer und jene Heuschrecken, die ihm im Sommer «um die nackten Beine stoben», fehlen. Doch beim Betrachten der Fotos werden Ältere die einstige Buntheit erkennen, auch wenn die Gegend schwarzweiss festgehalten ist. Danach folgen in mehreren Abteilungen markante Menschen, alltägliche Tätigkeiten, festliche Anlässe.

Die fantastische Zeitreise wird dank einem Archiv möglich, das Angehörige gerettet und der Fotostiftung Schweiz in Winterthur übergeben haben. Obwohl für den Fotografen selbst all das «Minder-Waar» war. So nannte er seine «Trainingsaufnahmen», als er den Übergang vom wenig begeisterten Buchhändler zum bekannten und mit über fünfzig Werken erfolgreichen Bildbandgestalter geschafft hatte – nun meist mit Motiven aus einer weiteren Welt. Auch diese biographischen Informationen sind spannend. Zudem enthalten sie eine starke Liebesgeschichte. Die meist nur beiläufig erwähnte Frau im Hintergrund kommt hier gebührend zur Geltung: «Bobi», in den 1920er Jahren durch eine wilde Luzerner Kunstszene geprägt, war für eine im katholisch-konservativen Umfeld etablierte Nidwaldner Familie ohnehin eine Zumutung. Und zudem geschieden!

Leonard von Matt: Frühe Fotografien. Hrsg. von Brigitt Flüeler und Jos Näpflin. Limmat-Verlag, Zürich 2018, 192 Seiten mit 87 Fotografien sowie 32 Faksimiles von Archivkarten, 58 Franken
Was die Bilder betrifft, muss das Cover-Foto genügen. Es zeigt «Ängelini». Katharina Josepha Angelika Lussi (1878-1952) arbeitete laut erklärender Legende als Wäscherin in grossen Hotels und Spitälern, liebte den Tabak, «rauchte Brissago und Zigarren, und auf dem Tisch in ihrer Stube stand eine Schale mit Pfeifen», was in Nidwalden auch für Frauen «nichts Ungehöriges» war. Auffallend der silberne «Pfiil» im Haar, ein verziertes Schmuckstück der lokalen Tracht. Eines der im Buch wiedergegebenen Archivblätter versammelt sieben Fotos, die den Kopf dieser Frau von allen Seiten zeigen.

Dieser Text erscheint auch in der Winter-Buchbeilage des P.S.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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